Die Aufrichtigen |
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Keine falschen Gefühle: Léa Seydoux und Pascal Greggory | ||
(Foto: Mia Hansen-Løve · 75. Filmfestspiele Cannes) |
Von Dunja Bialas
An meinem letzten Abend in Cannes treffen wir uns alle im »Le pantiero«, einem tabac an einer Straßenecke nähe Marché Forville. Es sind da: österreichische und deutsche Filmkritiker*innen, ein Programmer aus Wien und T., ein Radiojournalist aus Luxemburg, der wie ich ebenfalls zum ersten Mal in Cannes ist. Dass beim critic.de-Podcast, den wir in den letzten Tagen täglich aufgezeichnet haben, vergessen wurde, mich zu meinen ersten Cannes-Erlebnissen zu befragen, fällt meiner Kritiker-WG jetzt erst auf. Das haben wir aber beim artechock-Podcast nachgeholt. Ich verfalle in eine Lobeshymne über die Entspanntheit an der Croisette und die Leichtigkeit, an Tickets zu kommen, spreche von meinem unguten Gefühl, weil ich zwei Tickets nicht storniert habe – das gibt dem Gerücht nach Strafpunkte bis hin zur Sperrung der Akkreditierung. Die anwesenden Regulars kennen aber niemandem, dem das wirklich passiert ist, mit zwei nicht wahrgenommenen Tickets bin ich wohl noch gerade so im Toleranzbereich.
Ich frage T., wie er Cannes fand. »Schrecklich stressig«, platzt es aus ihm heraus, dieser Lärm, diese vielen Menschen, diese große Aufregung. Im weiteren Gespräch stellt sich heraus, dass ihm der Schalk im Nacken sitzt, ständig muss er beim Radio seinen Witz bremsen und seine Beiträge auf zwei Minuten dreißig Sekunden trimmen.
Meinen letzten Kinoabend hatte ich Annie Ernaux reserviert und dafür auf den neuen Cronenberg Crimes of the Future im Wettbewerb verzichtet. Weil ich mir angewohnt hatte, immer früh da zu sein, saß ich mittig in der zweiten Reihe – und da stand sie dann plötzlich fast direkt vor mir, die über achtzigjährige Grande Dame des »Schreibens über sich selbst«.
Zusammen mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot hat sie einen Film nach Cannes mitgebracht, Les années super 8, eine Variation ihres geschriebenen Werkes »Les années«. Der Film ist montiert aus den Super-8-Aufnahmen, die ihr Mann Philippe zwischen 1972 und 1981 von der Familie, meist auf Urlaubsreisen, gemacht hat. Annie Ernaux hat dazu einen Erinnerungstext geschrieben, den sie aus dem Off mit ihrer brüchigen, aber immer noch mädchenhaft klingenden Stimme vorliest. Mit den zwei Söhnen reiste die Familie in ferne Länder, angetrieben durch ein sozialistisches Interesse, zum Beispiel nach Chile zu Salvador Allende. Kurz nach ihrer Reise kam Pinochet an die Macht. »Dieses Land gab es nicht mehr«, sagt Ernaux aus dem Off, schon als sie zuhause das Gefilmte gemeinsam ansehen.
Annie Ernaux‘ große Textkunst ist, das Private und Sentimentale niemals banal sein zu lassen, es mit Metakommentaren und soziologischen oder politischen Überlegungen anzureichern, über das Schreiben, die eigene Herkunft, die Rolle als Frau. Immer wieder reflektiert Annie Ernaux ihr unbefriedigendes Dasein als Familienmutter, beschreibt ihr weibliches Umfeld als »femmes au foyer«, allesamt Hausfrauen, nirgendwo findet sie Halt oder Vorbilder, es sei denn in sich selbst, in ihrem Denken und Schreiben, das auch Friktionen in ihre Ehe bringt. Den Zustand der Familie kommentiert Ernaux luzide aus den Bildern heraus. Immer mehr verschwindet die Familie aus den Aufnahmen, immer mehr treten die gefilmten Städte in den Mittelpunkt, ein Zeichen dafür, wie sich der Vater und Ehemann entfernt. Schließlich verlässt Philippe die Familie, nimmt die Kamera mit in seine neue Ehe, wird neue Aufnahmen von seinem neuen Leben machen, und damit sind auch die Jahre von Super-8 vorbei. So einfach, so unsentimental.
Die Unterscheidung zwischen dem autobiographischem Schreiben und dem in jüngerer Zeit geprägten Begriff der »Autofiktion« ist nicht immer haarscharf zu treffen. Annie Ernaux entzieht sich den Kategorien zusätzlich, da ihre Texte weder Autobiographie noch Autofiktion sind, sondern weitreichende Essays. Les Années Super 8 befindet sich an der Unbestimmtheitsstelle der Kategorien, ist gleichzeitig Home Movie, dokumentarisches Essay und Autobiographie. Das Imaginäre ereignet sich an den Klebestellen des Montagefilms, in den Auslassungen, dem Nichtgezeigten, den der Text von Ernaux nicht versucht, zu einer geschlossenen Erzählung zu glätten.
Annie Ernaux gehört mit Les Années Super 8 zu den drei Frauen von Cannes, die ihre Filme Aspekten des eigenen Lebens gewidmet haben. Valeria Bruni Tedeschi erzählt in Les Amandiers (wir berichteten) von ihren Lehr- und Liebesjahren am Théâtre des Amandiers in den wilden Achtzigerjahren. Nicht im Wettbewerb zu sehen ist Mia Hansen-Løve mit Un Beau Matin in der Reihe »Quinzaine des Réalisateurs«, ein autofiktionaler Film, in dem sie die Krankheit ihres Vaters verhandelt, der in seinen letzten Lebensjahren unter dem Benson-Syndrom litt. Eine hinterhältige und seltene Krankheit, in vielem dem Alzheimer ähnlich, mit einer ungleich schnelleren Zersetzung der Merk- und Begriffsfähigkeit und zusätzlichem Sehverlust.
Mia Hansen-Løves Vater war der in Österreich geborene Ole Hansen-Løve, ein Philosoph und Übersetzer, sie selbst hatte zunächst Deutsch und Philosophie studiert. Der Vater im Film (Pascal Greggory) ist der Übersetzer Georg Kinsler, er hat eine große Bibliothek mit deutschsprachigen Büchern. Seine Tochter Sandra (Léa Seydoux) hat den Beruf des Vaters übernommen und dolmetscht auf Kongressen. Als der Vater wegen seines fortschreitenden mentalen Verfalls in ein Pflegeheim muss, räumt die Familie das Bücherregal aus. Kafka fällt ihnen dabei in die Hände, »Die Verwandlung«. »Als Gregor Samson eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« Der Verwandlung des Vaters in ein zunehmend gehirnloses Wesen setzt Un Beau Matin einen zweiten Erzählstrang entgegen. Die alleinerziehende Sandra wagt nach Jahren der libidinösen Abstinenz eine Affäre mit ihrem Bekannten Clément (Melvil Poupaud), der verheiratet ist und einen Sohn hat. Die zärtlich-behutsame Annäherung entwickelt sich zu einer leidenschaftlichen Körperlichkeit, immer unter der Rücksichtnahme, ihre Affäre nicht öffentlich zu machen, um Cléments Ehe nicht zu gefährden. Der empfindsame Diskurs nimmt zusehends existenzielles Ausmaß an, als Clément klar wird, dass er so nicht mehr weitermachen kann.
Un Beau Matin verzichtet jedoch auf unnötige emotionale Dramatisierungen. Die sensitive Darstellung der Krankheit folgt den Notizen von Ole Hansen-Løve, der »balade vers une maladie rare«. Sehr aufrichtig wirkt es, wie der Film die zwei Seiten des Lebens zeigt: die Erkrankung zum Tode hin und das Aufkeimen einer schwer zu realisierenden Liebe. Jede Tonlage stimmt, jeder Dialog, jedes Gefühl. Léa Seydoux greift zu ihren stärksten Ausdrucksmitteln, die sie seit Bruno Dumonts France (der demnächst ins Kino kommt) entwickelt hat: den unerbittlichen, plötzlichen Tränen. Wenn ihre Sandra weint, wirkt dieses Weinen nachvollziehbar und »echt«, meist ist es ein stilles Weinen, manchmal auch ein Weinkrampf. Sie trauert um ihren zum Vegetativen geschrumpften Vater, sie weint, weil sie den Vater und ihren Geliebten zu verlieren droht. Sie weint, weil ihr alles zu viel wird: Sie organisiert, dass der Bücher-Nachlass von einem, der noch nicht tot ist, eine neue Bibliothek findet, sucht nach einem einigermaßen erschwinglichen und trotzdem humanen Pflegeheim – hier tut sich eine sozialrealistische Binnenerzählung über den katastrophalen sanitären Zustand Frankreichs auf – und empfängt zusätzlich wie kleine Schicksalsschläge die Liebes- und Hiobsbotschaften von Clément, der parallel versucht, seine Gefühlswelt zu ordnen.
Un Beau Matin vereint in sich eine Handvoll Filme, die in der »Compétition internationale« zu sehen sind, und es ist eine vieldiskutierte Frage, weshalb Mia Hansen-Løve nicht wie zuletzt mit Bergman Island (2021) auf die Goldene Palme hoffen kann. Un Beau Matin hat die inszenatorische Stärke wie der ebenfalls autofiktionale Les Amandiers, überragt die schauspielerische Kraft von Frère et soeur, in dem Melvil Poupaud von dem unausgegorenen Drehbuch zum Overacting getrieben wird und Marion Cotillard nur theatralische Tränen zu vergießen weiß. Léa Seydoux ist außerdem in Cronenbergs Crimes of the Future zu sehen.
Mia Hansen-Løve kann aber, zusammen mit ihren Regiekolleginnen Léa Mysius (Les Cinq Diables), Alice Winocour (Revoir Paris) und mit der Literatin Annie Ernaux auf die Caméra d’Or hoffen. Anders als »Un Certain Regard« und die letztes Jahr neu geschaffene Reihe »Cannes Premieres« (in der Emmanuel Mourets großartige Screwball-Komödie Chronique d’une liaison passagère mit Sandrine Kiberlain und Vincent Macaigne gezeigt wurde, auch dieser Film findet ein Echo in Un Beau Matin) gehört die Sektion »Quinzaine des Réalisateurs« nicht zur offiziellen Cannes-Selektion. Der unfreiwillig scheidende Generalbeauftragte der Reihe, Paolo Moretti, hat in vier Jahren die »Quinzaine« deutlich nach vorne gebracht. Dass er nun ein Jahr vor Ende seines Vertrags gehen soll, hat Entsetzen ausgelöst, auch die Ankündigung des Verwaltungsrats der ausführenden Société des Réalisateurs de Films (SRF), den »Namen, die Eigenheiten und die strategische und politische Rolle« der Sektion »gründlich« zu überdenken, löst kein Vertrauen aus. 1969 hatte die SRF die Sektion als Gegenfestival zum großen Cannes-Wettbewerb gegründet und erinnert in dieser oppositionellen Geste an das ebenfalls eigenständige Forum der Berlinale (seit 1971).
Vielleicht wurde die »Quinzaine« mit der Stärke der Filme, den wiederkehrenden Namen aus dem Wettbewerb und der vergleichbaren Qualität der offiziellen Sektion zu ähnlich und zu durchlässig? Das nächste Jahr wird zeigen, was sich der Verwaltungsrat, dem u.a. Jacques Audiard (Goldene-Palme-Gewinner mit Dheepan 2015), Philippe Faucon (mit Les Harkis in der diesjährigen »Quinzaine«) und Rebecca Zlotowski (mit Une fille facile 2019 in der »Quinzaine«) angehören, überlegt hat. Und ob Paolo Moretti, der als FID-Marseille-Programmer nach Cannes kam, sein Glück wieder beim renommierten Festival von Marseille versuchen wird, dessen Leitung dieses Jahr womöglich absichtsvoll nicht neu besetzt wurde? On verra bien.