75. Filmfestspiele Cannes 2022
Die Leinwand-Krieger |
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Bilder eines Krieges: Sergej Loznitsas bedrückender The Natural History of Destruction | ||
(Foto: Sergej Loznitsa · 75. Festival de Cannes) |
Von Dunja Bialas
Kaum waren die mahnenden Worte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyjs zur Eröffnung des 75. Festival de Cannes verhallt, schon flogen die Kampfjets über die Croisette. »Jeden Tag sterben Hunderte von Menschen. Sie werden nach dem Schlussapplaus nicht wieder aufstehen«, hatte Selenskyj gesagt und damit den Krieg in der Ukraine ins Bewusstsein der Festivalgäste gerückt. Einen Tag später feierte der 80er-Jahre-Film Top Gun seine Wiederauferstehung, wieder wurde eng mit der US-Navy und dem amerikanischen Verteidigungsministerium zusammengerabeitet. So kann der 60-jährige und, wie mir Kollege D. versichert, verboten jung aussehende Tom Cruise in Maverick seine anhaltende Potenz erneut in echten Kampfjets beweisen, sekundiert von ebenso realen Kampfjets der französischen Armee, die als PR-Gag die Croisette mit einer Trikolore überzogen. Schau her, schien Cannes an Putin adressiert zu sagen, wir können, was du selbst noch nicht einmal am »Tag des Sieges« kannst, und das sogar just for fun.
Das ist ekelhaftes Muskelspiel einer fehlgeleiteten PR-Kampagne und sicherlich nichts, was Selenskyj mit seiner Rede anzetteln wollte. Dicke-Hose-Gesten eines Dicke-Hose-Kinos, das entsprechende Dicke-Hose-Texte nach sich zog, Fantum und Begeisterung für den kriegstreibenden Geschwindigkeitsrausch eines neuerdings salonfähigen Militarismus. Da hätte ich von meinen Kollegen eigentlich weniger dicke Hose und mehr dickes Hirn erwartet.
In Cannes aber ist die Männerwelt noch in Ordnung. Frauen sind hier zumindest im öffentlichen Erscheinungsbild vor allem Accessoires der Männer, »schöne Frauen« tun hier noch »schöne Dinge«, wie Truffauts einschlägiges Bonmot zur Nouvelle Vague lautet. Vor wenigen Tagen gab es ein Panel des Festivals, über dessen Inhalt wenig bekannt wurde, weil es in einer Empörungswelle unterging. Zur Frage »Was bedeutet es, heute Filmemacher zu sein?« waren ausschließlich männliche Regisseure aufs Podium geladen: Paolo Sorrentino, Guillermo Del Toro, Claude Lelouch, Michel Hazanavicius, Gaspar Noé, Costa-Gavras, Robin Campillo, Mathieu Kassovitz, Kleber Mendonça Filho und Nadav Lapid, und erst in einer zweiten Runde durften »Quinzaine«-Regisseurin Rebecca Zlotowski und die Schottin Lynne Ramsay weibliches Feigenblatt spielen. Frauen spielen auch sonst kaum eine Rolle in der Aufmerksamkeit, es sei denn, sie sind Schauspielerinnen: Nur fünf Frauen (Valeria Bruni Tedeschi, Claire Denis, Kelly Reichardt, Léonor Serrailles und in Co-Regie Charlotte Vandermeersch) zeigen ihre Filme im Wettbewerb (neben achtzehn Männern). »Außer Konkurrenz« beträgt die Männerquote sagenhafte 100 Prozent, ebenso in der neuen Reihe »Cannes Premières« sowie bei den Mitternachtsfilmen. Der Gender Gap ändert sich erst, wenn man in die Nebenreihen »Un Certain Regard« und die unabhängige Sektion »Quinzaine des Réalisateurs« blickt, die wohl hoffentlich bald umbenannt wird.
Mit der ungebrochenen Männerdominanz scheint es für Cannes ein starkes Kino wohl nur vom sogenannten starken Geschlecht geben zu können. Verpasst wird damit aber auch die Chance, neuen Namen den Vortritt zu lassen und so den Wettbewerb tatsächlich nach der Zukunft des Kinos zu befragen. Stattdessen wird hier das Kino alter Schule hochgehalten, mit Filmen, die aus der Tiefe der Achtzigerjahre kommen, wie Top Gun: Maverick, und Regisseuren, die bereits Filmgeschichte geschrieben haben, wie David Cronenberg oder Jerzy Skolimowski.
Auch wenn man der Festivalpolitik gerne widersprechen möchte: Cannes ist kein Festival der Widersprüche. So wie man sich bereitwillig dem Dresscode unterwirft, bleiben an der Croisette die Männer unbehelligt von Diversity-Rufen oder gar Frauen, die ihnen nicht an die Hose, sondern an ihren Thron wollen. Potenz-Demonstrationen wie die Kampfjets über der Croisette sind da inbegriffen.
Dass man aber mit Krieg nicht spielen soll, demonstrierte eindrucksvoll Sergej Loznitsa mit seinem neuen Film The Natural History of Destruction (Séance Speciale). Inspiriert von W.G. Sebalds gleichnamigem Text, einer theoretischen Einlassung zum Luftkrieg der Allierten und seiner Nichtbehandlung in der deutschen Literatur, ging Loznitsa gewissermaßen in den Frontalangriff über, brachte den Luftkrieg auf die Leinwand von Cannes und durchbrach mit ihm die von Sebald beklagte Schallmauer des Schweigens in der Kunst. The Natural History of Destruction ist ausschließlich aus Archivmaterial montiert (ein Verfahren, das Loznitsa bereits 2005 für Blokada angewendet hat) und skizziert eine Chronologie der Vernichtung. Der Film beginnt am Vorabend des 2. Weltkriegs in Berlin. Man trifft sich zum Tanzkaffee im Café Kranzler, es ist die auslaufende Weimarer Republik, bald schon sind erste Hakenkreuzfahnen zu entdecken. Die Metropole pulsiert, die Straßenbahnen evozieren das Berlin von Alfred Döblin und Erich Kästner, im Münchener Rathaus dreht sich das Glockenspiel, auf dem Land marschieren nur Gänse, Schafe und Pferde. Der Zeppelin »Hindenburg« macht Luftaufnahmen der unzerstörten Städte, Deutschland wirkt wie eine Phantasie aus einem Märchenfilm, aus »Zwerg Nase« oder »Hans im Glück«.
Dann die Aufrüstung, es geht rasant in den Krieg hinein, der Film wird sich im folgenden auf die Zerstörung dieses deutschen Idylls konzentrieren, das Wissen um die Kriegsverbrechen natürlich vorausgesetzt, die er selbst ausspart. Die Montage gleitet ohne Not vom Zivilleben in den Krieg und die Vernichtung der Städte hinüber und hinterlässt heftige Wirkung. Ein Schwarm von Bomben wird von den Alliierten bei einem einzigen Flug über die deutschen Städte abgeworfen, akribisch dokumentieren sie die Einschläge, die brennenden Städte, die Vernichtung. Die Flucht aus den Städten wird gezeigt, die vollbeladenen Handkarren, der Hunger, bis am Ende des Films mit den Trümmerfrauen dann das große Aufräumen einsetzt.
Loznitsa hat wie schon in Blokada die Bilder nachvertont, gibt ihnen damit mehr Präsenz und mehr »Realismus«. Die aufheulenden Motoren der Kampfflugzeuge türmen sich zu einer Symphonie des Grauens, sicherlich ein problematischer Nebeneffekt, wenn die Alliiertenkämpfe so auch als Akte der Aggression und Vernichtung wahrgenommen werden. Es macht was mit einem, wenn man über eine Stunde lang auf Flugzeuge und Bomben blickt, auf brennende Häuser und fliehende Menschen. Warum jetzt dieser Film, fragt man sich. Das ist kaum auszuhalten, und doch virtuos in seiner Montage und grandios im zusammengetragenen Material. »Natural History of Destruction« freilich, der Titel, den sich Loznitsa von Sebald geborgt hat, bereitet einiges Unbehagen. Als würde die Zerstörung einem Naturgesetz folgen. Aber genau dies könnte auch eine Grußbotschaft des Films an Putin sein: Auf Zerstörung folgt noch mehr Zerstörung. Im Kinosaal in Cannes sitzt man plötzlich mitten im Krieg.
Vom Krieg lässt sich aber auch anders berichten. Der litauische Regisseur Mantas Kvedaravičius hat in Mariupol die russischen Angriffe und die Belagerung der Stadt dokumentiert. Er kehrt damit in die Stadt zurück, die er schon einmal im Kriegszustand gefilmt hatte, Mariupolis, der bereits 2014 entstanden war. Diesmal allerdings sollte Kvedaravičius die Stadt nicht überleben. Ende März wurde er von den Russen gefangen genommen und ermordet, viele berichten von Folter. Seine Lebensgefährtin Hanna Bilobrova hat das gefilmte Material ins Ausland gebracht und der Filmeditorin Dounia Sichov übergeben, die bereits Kvedaravičius' ersten Mariupolis-Film montiert hatte.
Mariupolis 2 zeigt die ersten Bilder des Ukraine-Krieges, die nicht von Kriegsreportern aufgenommen wurden, aus der Perspektive der belagerten Stadt. Der Film gibt Zeugnis ab von einem Leben unter Todesangst, Kvedaravičius befindet sich mit mehreren Dutzend Männern und Frauen in einem Sammellager, das eine evangelische Kirche eingerichtet hat. Am Morgen versammeln sie sich zu einem Gebet, danken Gott, dass sie die letzte schlimme Nacht der Bombenangriffe überlebt haben, dass die Kirche verschont geblieben ist. Es gibt dünne Suppe im Gemeindesaal, gekocht wird auf dem Platz vor der Kirche auf offenem Feuer. »Wenigstens ist schönes Wetter«, sagt eine der Frauen. Der Frühling bricht in Mariupol gerade an, noch sind die Menschen empfänglich für den Kreislauf der Natur, für die aufblühenden Bäume, für die Ignoranz ihrer Schönheit. Immer wieder filmt Kvedaravičius den Horizont über den Dächern. Ein dystopisches Gemälde von einer Stadt unter Beschuss tut sich in seinen langen Einstellungen auf, mit Vordergrund, in dem die Hunde unter den Apfelbäumen des Hofs nach etwas Essbarem suchen, im Mittelgrund die Häuser der Nachbarn, am Horizont zwischen Fabrikschornsteinen leuchtend die Detonationen der Einschläge, bis die Sonne aufgeht. Noch ist die Front ein paar Kilometer weg, sie wird im Laufe des Films immer näher rücken, bis die Nachbarhäuser zerstört werden und die Kirche schließlich geräumt werden muss. »Wir können nicht mehr für euer Leben garantieren«, sagt der Pfarrer, als er die Menschen wegschickt, die nicht wissen, wohin.
In der Notunterkunft erleben sie die Alltäglichkeit des Sterbens, sind umgeben von Leichen. Einmal holen sie aus einem Nachbargebäude einen Generator aus dem Schuppen, den sie brauchen, um in der Kirche Strom zu haben. Eine Leiche liegt über dem Gerät, der Mann hatte noch versucht, sich vor einem Angriff in Sicherheit zu bringen. Sie schleifen den Toten über den Hof, bedecken ihn mit einer Plane, werden sich später um ihn kümmern, jetzt ist erst einmal der Generator wichtiger. Mit vielen solcher erschütternden Mikroerzählungen macht Kvedaravičius das Leben der Todgeweihten plastisch, greifbar, auch die Unermüdlichkeit in diesem Überlebenskampf. Immer wieder wird der Hof gekehrt, werden die unzähligen Glassplitter der geborstenen Fenster beseitigt, in denen deutlich wird, wie nahe die Kampfhandlungen kommen.
Eine weiße Taube fliegt in den Hof der Kirche, sofort ist die Symbolik da. Die vielen kleinen Szenen, die Kvedaravičius eingefangen hat, die Menschen, Frauen und Männer, Kinder und Alten, sind die Protagonisten seines Films, die alltäglichen und vergeblichen Heldinnen und Helden der Belagerung. Kvedaravičius zeigt in seinem letzten Zeugnis, das er vom Krieg in der Ukraine ablegt, seine große Dokumentarfilmkunst, Dounia Sichov hat seine Bilder zu einer ergreifenden Chronologie montiert. Man weiß: am Ende dieser Bilder steht der Tod. Der Tod des litauischen Regisseurs, den man in einem Bild noch einmal als Schattenwurf sieht, als Schatten seiner selbst. Wenn es am Ende des Films über der zerstörten Stadt dunkel wird, brennt die Nacht. Keine Feuerwehrsirenen sind zu hören, überhaupt keine Geräusche sind über der Stadt zu vernehmen. Die Apokalypse des Krieges, auch das erzählt uns Kvedaravičius, passiert still.
Mariupolis 2 kommt so auch ganz ohne Kriegsrhetorik aus, es ist das ferne Gegenteil von großen Gesten, Durchhalteparolen oder Propaganda, ein anrührender Film, der »Zeugnis ablegt bis zum letzten«, wie es Victor Klemperer in seinen Tagebüchern der Kriegsjahre 1933-1945 beschreibt. Kvedaravičius hat mit der Notwendigkeit eines Kriegstagebuchs gefilmt, die ihm letztlich zum Verhängnis wurde, und einen unhintergehbaren Film geschaffen, der in kleinen Gesten der großen Katastrophe unserer Zeit ganz nahe kommt.