Die Unbekannten |
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Rodéo: volle Fahrt für Frauen | ||
(Foto: Lola Quivoron · 75. Filmfestspiele Cannes) |
Von Dunja Bialas
Hubschrauberlandung vor dem Cineum, einem beeindruckenden Multiplex mit architektonischen Calatrava-Momenten. Zwei Motorräder von Polizisten hatten einen Unfall auf der großen Avenue Francis Tonner, die benannt ist nach dem bedeutendsten Résistance-Kämpfer von Cannes. Der Verletzte wird auf eine Bahre gelegt und abtransportiert. Alles geht ganz schnell, alles ist schrill, Signalfarben überall und Lebensgefahr. Dann legt sich der Spuk wieder, die Sonne brennt heiß auf die Straße.
In Cannes gibt es keinen Unterschied zwischen dem Leben und dem Kino. B., mit dem ich aus München die Autobahnen über Italien nach Cannes fahre, zusammen mit 1000 Lastwagenfahrern die engen Serpentinen von Genua nehme, in rasanter Fahrt hinunter zum Meer, B. sagt, nur das wäre das wirkliche, das »echte« Adrenalin. Wir machen uns ein wenig lustig über die Top Gun: Maverick-Besprechung in der »Süddeutschen Zeitung«, die ich auf der Fahrt vorlese, wenn ich mich nicht gerade an irgendwelchen Griffen festhalte und meinen Fuß auf eine imaginäre Bremse stemme. Dort wird die »restliche sogenannte echte Welt« ausgespielt gegen die Welt des Kinos, dann aber doch reingelassen, weil man mit Tom Cruise zusammen im Cockpit der echten Kampfjets sitze. Man sehe dann authentisch, wie das »Gesicht eines Menschen sich verzieht, wie sein Körper reagiert, wenn er mit 7 g in den Sitz gepresst wird«, das könne man nicht imitieren, habe Cruise gesagt.
Julia, die für die meisten nur die »Unbekannte« – »L’inconnue« heißt, flieht auf einem Motorrad, in voller Geschwindigkeit, vor dessen rechtmäßigen Besitzern. Sie trägt weder Helm noch Motorradkluft, die Haut ihrer nackten Schenkel beginnt im Wind zu flattern – ein eindeutiger 7-g-Moment, auch hier. Sie ist eine Motorrad-Versessene, die von sich sagt, sie wäre mit einem Motorrad zwischen den Beinen auf die Welt gekommen, sie stinkt nach Benzin und Motoröl. Rodéo ist das Langfilmdebüt der 33-jährigen Lola Quivoron und erinnert von der Ferne betrachtet ein wenig an Julia Ducournaus Titane, dem kraftvollen Cannes-Siegerfilm von letztem Jahr. Ducournau war die erste Frau, die die Goldene Palme alleine gewonnen hat, und auch wenn Lola Quivorons Rodéo jetzt »nur« in der Sektion »Un Certain Regard« läuft, besteht kein Zweifel: die Frauen erobern die Männerdomänen, die Filmwelt, Cannes und vor allem auch die Welt der potenten und schnellen Motoren.
Julia (Julie Ledru) hat sich einer modernen und friedlicheren Version der Hells Angels angeschlossen, den »B-More«. Sie sind eine Gruppe von delinquenten Jungs »mit Migrationshintergrund«, die mehr wollen von ihrem Leben, mehr herausholen. Vor allem mehr Adrenalin. Mit illegalen Shows beweisen sie sich in der Kunst des einrädigen Fahrens: das Vorderrad wird durch eine Kombination aus Handbremsenbetätigung und gleichzeitigem Kick ins Gaspedal nach oben gewuppt. Wer gut ist, kann auch während der Fahrt aufstehen und das Motorrad »reiten«, wie ein Rodeo-Reiter, der unter sich die wilde Bestie zu bezähmen weiß. Julia will das unbedingt lernen, rast mit den Jungs mit, während die anderen »meufs« am Straßenrand wie Spielerfrauen sitzen.
Julia ist die furiose Reiterin, die den »Hidden Pleasure« des Moto-Rodeo voll auslebt, auch wenn sie die Kunststücke noch nicht beherrscht. Dafür kann sie etwas anderes: Teure Maschinen, die sie in Privatanzeigen ausfindig macht, von ihren Besitzern trickreich entführen. Befreien möchte man sagen, angesichts der saturierten Vorbesitzer, allesamt brave Mittelständler kurz vor der Midlife-Crisis, die ziemlich misstrauisch sind, als Julia mit geglättetem Antillen-Haar und zwischen spießig und sexy gekleidet bei ihnen auftaucht, um ihr Motorrad zu kaufen. Der Trick gelingt immer.
Die Motorräder werden den B-Mores zugeführt, bald ist Julia das wichtigste Glied in ihrer Motorenkette, und bald hat sie die Idee zu einem ungeheuren Raubüberfall. Hier beginnt das große Heist-Movie mit Verrätern und Rivalenkämpfen und dem Ausspähen des Raubobjekts: Ein Transporter mit Motorrädern soll in voller Fahrt überfallen werden. Und auch der Schluss gehorcht der Gangster-Mechanik.
Das alles aber ist nur der oberflächliche Adrenalinplot. Unter ihm steckt eine kräftige Neuinterpretation nicht nur des Genres, sondern auch von Gender, was im Französischen dasselbe Wort ist und damit eine interessante Scharnierstelle abgibt. Julia, die mit dem Motorrad Geborene, und da ist sie Ducournaus Alexia / Adrien aus Titane nicht unähnlich, definiert sich über kein Geschlecht. Die Jungs diskutieren einmal auf der Motorbahn, ob in der »Unbekannten« überhaupt ein Mädchen steckt. Zu stark definiert sie sich allein über die Maschinen, zu selbstbestimmt schert sie aus dem Bild der Femme fatale und auch der Gangster-Braut aus, das übernehmen andere. Im Gegenteil, sie ist der Boss und fasst sich immer wieder an den Schritt, so, wie das Männer tun. Ein überraschendes und sehr überzeugendes Debüt einer unbekannten Regisseurin. Die »Unbekannte«, so stellt sich in diesem Sinne auch Lola Quivoron dem Publikum in Cannes vor, und damit ist es jetzt natürlich gleichzeitig vorbei.
Auch wegen solcher Überraschungen, nicht nur wegen der großen Namen im glamourösen Wettbewerb, lohnt es sich unbedingt, nach Cannes zu fahren. Neue Namen, neue Handschriften, kraftvolle Plots von neuen Erzählstimmen. Auch Clément Cogitore, den man zum Beispiel von Braguino (2017) kennen könnte, ist außerhalb Frankreichs und außerhalb der Kunstszene (er ist außerdem ein recht erfolgreicher Videokünstler) immer noch ziemlich unbekannt. Vielleicht wird daran sein neuer Film Goutte d’Or (Semaine de la Critique) etwas ändern, der im internationalen Festivaltitel Sons of Ramses heißt. Auch hier geht es um einen Trickbetrüger, den »Magier« Ramses, der in der Banlieue von Paris sein Handwerk, eine Art Trauerarbeit, ausübt. Der leicht lethargisch wirkende Mann mit melancholischen Wimpern kann Tote in der Erinnerung der Überlebenden ausfindig machen und so Trost und Zuversicht spenden. Die ganze Magie aber ist nur ein billiger Trick, der sich das Datenvolumen der Handys zunnutze macht, die seine Klienten in der Praxis in ein Körbchen legen sollen. Ramses gerät dann in die Fahrwasser einer Kinder-Gang, die sich im großen Sozialwohnungshochhaus Zutritt zu seiner Küche verschafft hat und den Kühlschrank ausraubt. Er soll für sie ein verschwundenes Bandenmitglied finden, das ein Drogen-Dealer-Nest mitsamt Pot und Beute ausgehoben hat. Der Tod steht über allem, auch in diesem Fall.
Diese visuell sehr schmutzige Erzählung (die Braun- und Grautöne dominieren, eine große Schlammbaustelle spielt außerdem eine entscheidende Rolle und es ist entweder Nacht oder schlechtes Wetter, alles ist sehr ungemütlich) knüpft nahtlos an an das Genre der Banlieue-Erzählungen an. Wenn die multi-ethnischen Magier der Cité Ramses zu einer Réunion zusammentrommeln, um ihm klarzumachen, dass er auch ihnen Klienten überlassen soll, zumindest die aus Schwarzafrika, dann erinnert das auch an Les Misérables von Ladj Ly, der viel von der Gemeinschaft der Banlieue und ihrem inneren Ethnien- und Machtsystem erzählte.
In Goutte d’Or teilt sich, wie auch in Rodéo, das Sozialrealistische ganz beiläufig mit, wird nicht thematisiert und eben auch nicht problematisiert. Beide Filme ersparen sich die Anklage der Verhältnisse. Sie sind Beispiele für neue Held*innen-Erzählungen in einem nicht zwingend zu seinem Guten veränderten Frankreich, das aber auch neue Stimmen und neue Erzählungen braucht. Und die sind da. Kraftvoll und überzeugend: Sie sind »les incontournables«, die Unausweichlichen.