22.05.2022

Die Unbekannten

Rodéo
Rodéo: volle Fahrt für Frauen
(Foto: Lola Quivoron · 75. Filmfestspiele Cannes)

Gangsterplots: Lola Quivorons Rodéo und Clément Cogitores Goutte d‘Or sind »Arbeit am Genre« und lassen neue Erzählstimmen am Horizont des französischen Kinos aufgehen

Von Dunja Bialas

Hubschrau­ber­lan­dung vor dem Cineum, einem beein­dru­ckenden Multiplex mit archi­tek­to­ni­schen Calatrava-Momenten. Zwei Motor­räder von Poli­zisten hatten einen Unfall auf der großen Avenue Francis Tonner, die benannt ist nach dem bedeu­tendsten Résis­tance-Kämpfer von Cannes. Der Verletzte wird auf eine Bahre gelegt und abtrans­por­tiert. Alles geht ganz schnell, alles ist schrill, Signal­farben überall und Lebens­ge­fahr. Dann legt sich der Spuk wieder, die Sonne brennt heiß auf die Straße.

In Cannes gibt es keinen Unter­schied zwischen dem Leben und dem Kino. B., mit dem ich aus München die Auto­bahnen über Italien nach Cannes fahre, zusammen mit 1000 Last­wa­gen­fah­rern die engen Serpen­tinen von Genua nehme, in rasanter Fahrt hinunter zum Meer, B. sagt, nur das wäre das wirkliche, das »echte« Adrenalin. Wir machen uns ein wenig lustig über die Top Gun: Maverick-Bespre­chung in der »Süddeut­schen Zeitung«, die ich auf der Fahrt vorlese, wenn ich mich nicht gerade an irgend­wel­chen Griffen festhalte und meinen Fuß auf eine imaginäre Bremse stemme. Dort wird die »restliche soge­nannte echte Welt« ausge­spielt gegen die Welt des Kinos, dann aber doch rein­ge­lassen, weil man mit Tom Cruise zusammen im Cockpit der echten Kampfjets sitze. Man sehe dann authen­tisch, wie das »Gesicht eines Menschen sich verzieht, wie sein Körper reagiert, wenn er mit 7 g in den Sitz gepresst wird«, das könne man nicht imitieren, habe Cruise gesagt.

Mit dem Motorrad zwischen den Beinen: Rodéo

Julia, die für die meisten nur die »Unbe­kannte« – »L’inconnue« heißt, flieht auf einem Motorrad, in voller Geschwin­dig­keit, vor dessen recht­mäßigen Besitzern. Sie trägt weder Helm noch Motor­rad­kluft, die Haut ihrer nackten Schenkel beginnt im Wind zu flattern – ein eindeu­tiger 7-g-Moment, auch hier. Sie ist eine Motorrad-Verses­sene, die von sich sagt, sie wäre mit einem Motorrad zwischen den Beinen auf die Welt gekommen, sie stinkt nach Benzin und Motoröl. Rodéo ist das Lang­film­debüt der 33-jährigen Lola Quivoron und erinnert von der Ferne betrachtet ein wenig an Julia Ducournaus Titane, dem kraft­vollen Cannes-Sieger­film von letztem Jahr. Ducournau war die erste Frau, die die Goldene Palme alleine gewonnen hat, und auch wenn Lola Quivorons Rodéo jetzt »nur« in der Sektion »Un Certain Regard« läuft, besteht kein Zweifel: die Frauen erobern die Männer­domänen, die Filmwelt, Cannes und vor allem auch die Welt der potenten und schnellen Motoren.

Julia (Julie Ledru) hat sich einer modernen und fried­li­cheren Version der Hells Angels ange­schlossen, den »B-More«. Sie sind eine Gruppe von delin­quenten Jungs »mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund«, die mehr wollen von ihrem Leben, mehr heraus­holen. Vor allem mehr Adrenalin. Mit illegalen Shows beweisen sie sich in der Kunst des einrä­digen Fahrens: das Vorderrad wird durch eine Kombi­na­tion aus Hand­brem­sen­be­tä­ti­gung und gleich­zei­tigem Kick ins Gaspedal nach oben gewuppt. Wer gut ist, kann auch während der Fahrt aufstehen und das Motorrad »reiten«, wie ein Rodeo-Reiter, der unter sich die wilde Bestie zu bezähmen weiß. Julia will das unbedingt lernen, rast mit den Jungs mit, während die anderen »meufs« am Straßen­rand wie Spie­ler­frauen sitzen.

Julia ist die furiose Reiterin, die den »Hidden Pleasure« des Moto-Rodeo voll auslebt, auch wenn sie die Kunst­stücke noch nicht beherrscht. Dafür kann sie etwas anderes: Teure Maschinen, die sie in Privat­an­zeigen ausfindig macht, von ihren Besitzern trick­reich entführen. Befreien möchte man sagen, ange­sichts der satu­rierten Vorbe­sitzer, allesamt brave Mittelständler kurz vor der Midlife-Crisis, die ziemlich miss­trau­isch sind, als Julia mit geglät­tetem Antillen-Haar und zwischen spießig und sexy gekleidet bei ihnen auftaucht, um ihr Motorrad zu kaufen. Der Trick gelingt immer.

Die Motor­räder werden den B-Mores zugeführt, bald ist Julia das wich­tigste Glied in ihrer Moto­ren­kette, und bald hat sie die Idee zu einem unge­heuren Raubü­ber­fall. Hier beginnt das große Heist-Movie mit Verrätern und Riva­len­kämpfen und dem Ausspähen des Raub­ob­jekts: Ein Trans­porter mit Motor­rä­dern soll in voller Fahrt über­fallen werden. Und auch der Schluss gehorcht der Gangster-Mechanik.

Das alles aber ist nur der ober­fläch­liche Adre­na­lin­plot. Unter ihm steckt eine kräftige Neuin­ter­pre­ta­tion nicht nur des Genres, sondern auch von Gender, was im Fran­zö­si­schen dasselbe Wort ist und damit eine inter­es­sante Schar­nier­stelle abgibt. Julia, die mit dem Motorrad Geborene, und da ist sie Ducournaus Alexia / Adrien aus Titane nicht unähnlich, definiert sich über kein Geschlecht. Die Jungs disku­tieren einmal auf der Motorbahn, ob in der »Unbe­kannten« überhaupt ein Mädchen steckt. Zu stark definiert sie sich allein über die Maschinen, zu selbst­be­stimmt schert sie aus dem Bild der Femme fatale und auch der Gangster-Braut aus, das über­nehmen andere. Im Gegenteil, sie ist der Boss und fasst sich immer wieder an den Schritt, so, wie das Männer tun. Ein über­ra­schendes und sehr über­zeu­gendes Debüt einer unbe­kannten Regis­seurin. Die »Unbe­kannte«, so stellt sich in diesem Sinne auch Lola Quivoron dem Publikum in Cannes vor, und damit ist es jetzt natürlich gleich­zeitig vorbei.

Die Todge­weihten der Banlieue: Goutte d’Or

Auch wegen solcher Über­ra­schungen, nicht nur wegen der großen Namen im glamourösen Wett­be­werb, lohnt es sich unbedingt, nach Cannes zu fahren. Neue Namen, neue Hand­schriften, kraft­volle Plots von neuen Erzähl­stimmen. Auch Clément Cogitore, den man zum Beispiel von Braguino (2017) kennen könnte, ist außerhalb Frank­reichs und außerhalb der Kunst­szene (er ist außerdem ein recht erfolg­rei­cher Video­künstler) immer noch ziemlich unbekannt. Viel­leicht wird daran sein neuer Film Goutte d’Or (Semaine de la Critique) etwas ändern, der im inter­na­tio­nalen Festi­val­titel Sons of Ramses heißt. Auch hier geht es um einen Trick­be­trüger, den »Magier« Ramses, der in der Banlieue von Paris sein Handwerk, eine Art Trau­er­ar­beit, ausübt. Der leicht lethar­gisch wirkende Mann mit melan­cho­li­schen Wimpern kann Tote in der Erin­ne­rung der Über­le­benden ausfindig machen und so Trost und Zuver­sicht spenden. Die ganze Magie aber ist nur ein billiger Trick, der sich das Daten­vo­lumen der Handys zunnutze macht, die seine Klienten in der Praxis in ein Körbchen legen sollen. Ramses gerät dann in die Fahr­wasser einer Kinder-Gang, die sich im großen Sozi­al­woh­nungs­hoch­haus Zutritt zu seiner Küche verschafft hat und den Kühl­schrank ausraubt. Er soll für sie ein verschwun­denes Banden­mit­glied finden, das ein Drogen-Dealer-Nest mitsamt Pot und Beute ausge­hoben hat. Der Tod steht über allem, auch in diesem Fall.

Diese visuell sehr schmut­zige Erzählung (die Braun- und Grautöne domi­nieren, eine große Schlamm­bau­stelle spielt außerdem eine entschei­dende Rolle und es ist entweder Nacht oder schlechtes Wetter, alles ist sehr unge­müt­lich) knüpft nahtlos an an das Genre der Banlieue-Erzäh­lungen an. Wenn die multi-ethni­schen Magier der Cité Ramses zu einer Réunion zusam­men­trom­meln, um ihm klar­zu­ma­chen, dass er auch ihnen Klienten über­lassen soll, zumindest die aus Schwarz­afrika, dann erinnert das auch an Les Miséra­bles von Ladj Ly, der viel von der Gemein­schaft der Banlieue und ihrem inneren Ethnien- und Macht­system erzählte.

Die Unaus­weich­li­chen

In Goutte d’Or teilt sich, wie auch in Rodéo, das Sozi­al­rea­lis­ti­sche ganz beiläufig mit, wird nicht thema­ti­siert und eben auch nicht proble­ma­ti­siert. Beide Filme ersparen sich die Anklage der Verhält­nisse. Sie sind Beispiele für neue Held*innen-Erzäh­lungen in einem nicht zwingend zu seinem Guten verän­derten Frank­reich, das aber auch neue Stimmen und neue Erzäh­lungen braucht. Und die sind da. Kraftvoll und über­zeu­gend: Sie sind »les incon­tourn­ables«, die Unaus­weich­li­chen.