39. Filmfest München 2022
Unter Leuten |
||
»Kunst kommt von Küssen.« (Klaus Lemke) | ||
(Foto: FILMFEST MÜNCHEN / Klaus Lemke) |
Von Thomas Willmann
»Ist da noch frei?«: Lang musste und durfte man sich mit dieser Frage nicht auseinandersetzen. Lang musste und durfte man den Abstand, den Freiraum um die eigene Person vehement durchsetzen.
Jetzt ist auch das Kinogehen wieder ein sozialer Akt, mit all den Freuden und Leiden des Aushandelns, wie nah man andere Menschen kommen lassen möchte. Wie’s einem gelingt, sich ihnen zu nähern.
»Ist da noch frei?« ist auch die erste Frage in Christian Tafdrups Speak No Evil – der uns dann gnadenlos lehrt: Wer die Pool-Liege kampflos hergibt, hat quasi sein ganzes Leben gratis hinterhergeschmissen.
Denn ironischerweise ging’s beim ersten »richtigen« Filmfest München nach zwei Ausfall- und Ausweichjahren gleich los mit Filmen, die einem sofort wieder vorführten, dass
die Anderen die Hölle sind.
In Speak No Evil macht eine dänische Kleinfamilie den Kardinalsfehler, einer Urlaubsbekanntschaft später nochmal einen Besuch abzustatten. Und der wunderbar alltägliche Horror der sozialen Unbeholfenheit und Beklemmung, wenn sich herausstellt, dass die Holländer plötzlich gar nicht mehr so sympathisch und umgänglich sind wie einst in der Toskana, ist
ungleich grusliger als die extreme, erwartbare Genre-Eskalation am Ende.
Wohingegen Jonas Kærup Hjort in The Penultimate (Den Næstsidste) seine eigene Erfahrung mit einer psychisch schwierigen Beziehung zur Außenwelt (er hat keine offizielle Diagnose, aber wie er’s beschreibt, klingt es sehr nach einer Art Asperger) in phantastische Bilder übersetzt, irgendwo zwischen Kafka und Fundusresten von Roy Andersson.
Das Gefühl von Beklemmung, Eingesperrtsein in unerträglichen Beziehungen zu
Mitmenschen ist freilich der Punkt – aber Penultimate ist schon sehr nah dran, den überzustrapazieren. Und ist damit typisch für einen Trend im Programm.
Es scheint fast so, als wäre auch jenen Menschen, die Filme machen, nicht minder der souveräne Umgang mit ihren Mitmenschen abhanden gekommen: Ziemlich viele Filme sind die entscheidende Viertel- bis halbe Stunde zu lang, machen den selben Punkt wieder und wieder, verpassen den Absprung und gehen nach dem eigentlich perfekten Ende noch weiter. Als traue man der Kommunikation nicht mehr, als könne man nach all den Selbstgesprächen das Reden nicht mehr aufhören.
Und das betrifft eben nicht nur den Berg an (Über-)Zweieinhalb-Stündern (Pacifiction, Benediction, Illusions perdues, Petrov’s Flu etc.) – sondern selbst einen 98-Minüter wie Charlotte Wells' Aftersun, der den Kreis schließt zwischen den Erinnerungen einer jungen Frau an einen Türkeiurlaub mit dem (geschiedenen) Vater in den ‘90ern und ihrer eigenen, jetzigen Lebenssituation. Und der das dann in einer ausgedehnten Schlussschleife wiederholt, die das emotionale Getroffensein verspielt zugunsten eines nicht mehr sonderlich mehrwertbringenden, ausbuchstabierten Begreifens.
Jiongjiong Qius Dreistünder A New Old Play (Jiao ma tang hui) war da noch auf der kurzweiligeren Seite und hatte immerhin die Lebensgeschichte des Großvaters des Regisseurs – eines berühmten Clowns der Chinesischen Oper – als Gerüst und narrativen Vorwärtsvektor. Seine munteren Theater-Tableaus brachten einem auch die Freuden der Geselligkeit (und sei’s erst im Jenseits) wieder näher. Aber auch den Wert des Beharrens auf Privatem – gegenüber einem politisch verordneten Kollektivismus, wo selbst noch die Scheiße dem Staat gehört, weil sie als Dünger dienen kann.
Und sogar Marie Kreutzers Corsage, der stärkste Eröffnungsfilm seit sehr langem, ist nicht nur ein gewitztes Spiel mit historischen Ikonen, Images, Inszenierungen. Sondern die Geschichte einer Vereinzelung – das Auf- und Abgeben einer Identität; die Fantasie von einer radikalen Befreiung von allen Ansprüchen, welche andere Menschen an einen haben.
Die erste Festivalhälfte fühlte sich – zumindest im freilich selektiven, subjektiven Eindruck – an wie eine gemütliche Einübungsphase.
Als müssten alle – die Leute vom Festival, die Filmschaffenden, die Gäste, die Kinos, unsereins Akkreditierte, das Publikum (das, wie mit allen kulturellen Veranstaltungen, derzeit noch ein bisserl fremdelt) – grad erst wieder lernen, wie das eigentlich ging, Filmfestvial, fremde Menschen, und so...
Sich erst wieder zurückfinden in einen Normalbetrieb, von dem man nach den letzten zwei Jahren ja auch gar nicht mehr weiß, ob man ihn in allen Facetten genau so
wieder haben möchte.
Eine Chance auch, nochmal zu prüfen, herauszupicken, was einem wirklich gefehlt hat, was vielleicht anders ginge, was womöglich auch ganz weg kann, und was an Neuem denkbar wäre.
Es sind noch nicht alle wieder mit am Start – halt auch, weil eben die Pandemie nicht weg ist, nur weil wir jetzt alle so tun als ob. Es hat sich – speziell auch in den Filmen – noch nicht wieder die große Dringlichkeit eingestellt. Es ist alles noch ein bisserl
lokaler, vorläufiger. Man ist noch zu mit sich selbst beschäftigt, um schon wieder den Blick auf die fernen, großen Horizonte zu richten.
Das ist bei weitem nicht die unangenehmste Variante von Filmfest – allemal besser als die ungekonnten Versuche von Großspurigkeit und Glamour, die’s vor den Pestjahren mitunter gab.
Es ist auch ein Rückgewinn einer gewissen Lässigkeit, die’s früher mal gab, wo das Filmfest München noch allen Bestandteilen seines Namens näher war statt Träumen von der Zweit-Berlinale mit Hollywood-Teppichläufern und VR-Sektion.
Eben: Sommer in München, Kino mit einem
Sammelsurium an mal mehr, mal weniger begeisternden Filmen, und jeden Abend die selben vier Dutzend deutsche Fernseh-Promis, Jungschauspielenden und Branchenhuberer auf wechselnden Empfängen beinander, wo sie einem nicht beim Isarbier im Weg umgehen.
Auch wenn ein Gutteil der Filme jetzt nicht sehr hilfreich war dabei, die latente Scheu vor anderen Menschen wieder abzustreifen, gab’s freilich auch die Optimisten.
Allen voran Hirokazu Kore-eda, den Großmeister des »Menschen raufen sich in unewöhnlichen Konstellationen zusammen«. Der bei seinem Korea-Ausflug Broker eine gewisse Urlaubs-Leichtigkeit an den Tag legt, eine
Lizenz, sich nicht zu sehr in Ort, Gesellschaft, Kultur zu vertiefen und nur auf die Menschen zu schauen.
Broker ist fast ein umgekehrter Shoplifters – statt einer vermeintlichen Familie, die sich nach und nach als Bande von Kriminellen entpuppt, gibt’s eine vermeintliche
Gemeinschaft von Gaunern, die allmählich zur Familie zusammenwächst.
Und in seinem großartigsten Moment geht’s um eine zutiefst menschliche Sehnsucht: Die Hoffnung, dass Andere sich freuen, dass wir auf der Welt sind.
Und wenn es eines klaren Zeichens bedurfte, dass wieder Filmfest ist, dann kann’s kaum ein klareres geben als: Klaus Lemke hat wieder einen neuen Film, und er ist da, ihn vorzustellen.
Es ist nicht ganz alles wie immer. Inzwischen drängt sich der Gedanke auf, dass Lemke vielleicht doch nicht ewig jung sein wird. Er grinst wie eh und je, aber raunt nunmehr wie ein Zen-Meister seine Sätze übers Leben, das Kino, die Liebe und so. Und wohl erstmals geht der filmische Blick nicht nach
vorne, nicht aufs heutige München und dessen junge Menschen, sondern ist retrospektiv.
Champagner für die Augen – Gift für den Rest ist eine Clipshow aus seinen Filmen der 70er mit Sylvie Winter und Cleo Kretschmer (& Wolfgang Fierek), und dazwischen erzählt Lemke ein paar Sätze dazu. Seiner Meinung nach ist es ein Film über das Gefühl der Stadt in jenem Jahrzehnt – eine Sicht, die
sich nicht unbedingt aufzwingt.
Aber das Wesentliche ist eh das Gesamtkunstwerk aus Film und Auftritt. Das Kino ist voller junger Leute, die Lemke feiern wie ihren Guru. Und man versteht’s: Man muss lang suchen, um im aktuellen Filmgeschehen jemand zu finden, wo das Filmemachen so spontan eine Form des Lebens ist – wo der Akt des Filmens wichtiger ist als die Filme, die dabei entstehen. Es vor allem drum geht, den Moment, den Ort, die Menschen zu erleben.
Lemke hat ein
selbstgemaltes Pappschild dabei. Es ist das wohl schönste Plädoyer des Festivals für Kino als Raum für Begegnung, im Entstehen wie im Wahrnehmen.
»Kunst kommt von Küssen«, steht da drauf.
Wenn man das bedenke, dann sei alles ganz leicht, meint Lemke.
Na, dann wollen wir mal.