30.06.2022
39. Filmfest München 2022

Unter Leuten

Champagner für die Augen
»Kunst kommt von Küssen.« (Klaus Lemke)
(Foto: FILMFEST MÜNCHEN / Klaus Lemke)

Ein Zwischenbericht vom Filmfest München 2022: Alte Entspanntheit, lange und richtige Filme (Speak No Evil, The Penultimate , A New Old Play, Corsage, Champagner für die Augen – Gift für den Rest, Broker)

Von Thomas Willmann

»Ist da noch frei?«: Lang musste und durfte man sich mit dieser Frage nicht ausein­an­der­setzen. Lang musste und durfte man den Abstand, den Freiraum um die eigene Person vehement durch­setzen.

Jetzt ist auch das Kinogehen wieder ein sozialer Akt, mit all den Freuden und Leiden des Aushan­delns, wie nah man andere Menschen kommen lassen möchte. Wie’s einem gelingt, sich ihnen zu nähern.

»Ist da noch frei?« ist auch die erste Frage in Christian Tafdrups Speak No Evil – der uns dann gnadenlos lehrt: Wer die Pool-Liege kampflos hergibt, hat quasi sein ganzes Leben gratis hinter­her­ge­schmissen.
Denn ironi­scher­weise ging’s beim ersten »richtigen« Filmfest München nach zwei Ausfall- und Ausweich­jahren gleich los mit Filmen, die einem sofort wieder vorführten, dass die Anderen die Hölle sind.
In Speak No Evil macht eine dänische Klein­fa­milie den Kardi­nals­fehler, einer Urlaubs­be­kannt­schaft später nochmal einen Besuch abzu­statten. Und der wunderbar alltäg­liche Horror der sozialen Unbe­hol­fen­heit und Beklem­mung, wenn sich heraus­stellt, dass die Holländer plötzlich gar nicht mehr so sympa­thisch und umgäng­lich sind wie einst in der Toskana, ist ungleich grusliger als die extreme, erwart­bare Genre-Eska­la­tion am Ende.

Wohin­gegen Jonas Kærup Hjort in The Penul­ti­mate (Den Næst­sidste) seine eigene Erfahrung mit einer psychisch schwie­rigen Beziehung zur Außenwelt (er hat keine offi­zi­elle Diagnose, aber wie er’s beschreibt, klingt es sehr nach einer Art Asperger) in phan­tas­ti­sche Bilder übersetzt, irgendwo zwischen Kafka und Fundus­resten von Roy Andersson.
Das Gefühl von Beklem­mung, Einge­sperrt­sein in uner­träg­li­chen Bezie­hungen zu Mitmen­schen ist freilich der Punkt – aber Penul­ti­mate ist schon sehr nah dran, den über­zu­stra­pa­zieren. Und ist damit typisch für einen Trend im Programm.

Über Länge

Es scheint fast so, als wäre auch jenen Menschen, die Filme machen, nicht minder der souveräne Umgang mit ihren Mitmen­schen abhanden gekommen: Ziemlich viele Filme sind die entschei­dende Viertel- bis halbe Stunde zu lang, machen den selben Punkt wieder und wieder, verpassen den Absprung und gehen nach dem eigent­lich perfekten Ende noch weiter. Als traue man der Kommu­ni­ka­tion nicht mehr, als könne man nach all den Selbst­ge­sprächen das Reden nicht mehr aufhören.

Und das betrifft eben nicht nur den Berg an (Über-)Zwei­ein­halb-Stündern (Paci­fic­tion, Bene­dic­tion, Illusions perdues, Petrov’s Flu etc.) – sondern selbst einen 98-Minüter wie Charlotte Wells' Aftersun, der den Kreis schließt zwischen den Erin­ne­rungen einer jungen Frau an einen Türkei­ur­laub mit dem (geschie­denen) Vater in den ‘90ern und ihrer eigenen, jetzigen Lebens­si­tua­tion. Und der das dann in einer ausge­dehnten Schluss­schleife wieder­holt, die das emotio­nale Getrof­fen­sein verspielt zugunsten eines nicht mehr sonder­lich mehr­wert­brin­genden, ausbuch­sta­bierten Begrei­fens.

Jiongjiong Qius Dreis­tünder A New Old Play (Jiao ma tang hui) war da noch auf der kurz­wei­li­geren Seite und hatte immerhin die Lebens­ge­schichte des Groß­va­ters des Regis­seurs – eines berühmten Clowns der Chine­si­schen Oper – als Gerüst und narra­tiven Vorwärts­vektor. Seine munteren Theater-Tableaus brachten einem auch die Freuden der Gesel­lig­keit (und sei’s erst im Jenseits) wieder näher. Aber auch den Wert des Beharrens auf Privatem – gegenüber einem politisch verord­neten Kollek­ti­vismus, wo selbst noch die Scheiße dem Staat gehört, weil sie als Dünger dienen kann.

Und sogar Marie Kreutzers Corsage, der stärkste Eröff­nungs­film seit sehr langem, ist nicht nur ein gewitztes Spiel mit histo­ri­schen Ikonen, Images, Insze­nie­rungen. Sondern die Geschichte einer Verein­ze­lung – das Auf- und Abgeben einer Identität; die Fantasie von einer radikalen Befreiung von allen Ansprüchen, welche andere Menschen an einen haben.

Neben bei

Die erste Festi­val­hälfte fühlte sich – zumindest im freilich selek­tiven, subjek­tiven Eindruck – an wie eine gemüt­liche Einü­bungs­phase.

Als müssten alle – die Leute vom Festival, die Film­schaf­fenden, die Gäste, die Kinos, unsereins Akkre­di­tierte, das Publikum (das, wie mit allen kultu­rellen Veran­stal­tungen, derzeit noch ein bisserl fremdelt) – grad erst wieder lernen, wie das eigent­lich ging, Film­fest­vial, fremde Menschen, und so...
Sich erst wieder zurück­finden in einen Normal­be­trieb, von dem man nach den letzten zwei Jahren ja auch gar nicht mehr weiß, ob man ihn in allen Facetten genau so wieder haben möchte.
Eine Chance auch, nochmal zu prüfen, heraus­zu­pi­cken, was einem wirklich gefehlt hat, was viel­leicht anders ginge, was womöglich auch ganz weg kann, und was an Neuem denkbar wäre.
Es sind noch nicht alle wieder mit am Start – halt auch, weil eben die Pandemie nicht weg ist, nur weil wir jetzt alle so tun als ob. Es hat sich – speziell auch in den Filmen – noch nicht wieder die große Dring­lich­keit einge­stellt. Es ist alles noch ein bisserl lokaler, vorläu­figer. Man ist noch zu mit sich selbst beschäf­tigt, um schon wieder den Blick auf die fernen, großen Horizonte zu richten.

Das ist bei weitem nicht die unan­ge­nehmste Variante von Filmfest – allemal besser als die unge­konnten Versuche von Groß­spu­rig­keit und Glamour, die’s vor den Pest­jahren mitunter gab.
Es ist auch ein Rück­ge­winn einer gewissen Lässig­keit, die’s früher mal gab, wo das Filmfest München noch allen Bestand­teilen seines Namens näher war statt Träumen von der Zweit-Berlinale mit Hollywood-Teppichläu­fern und VR-Sektion.
Eben: Sommer in München, Kino mit einem Sammel­su­rium an mal mehr, mal weniger begeis­ternden Filmen, und jeden Abend die selben vier Dutzend deutsche Fernseh-Promis, Jungs­chau­spie­lenden und Bran­chen­hu­berer auf wech­selnden Empfängen beinander, wo sie einem nicht beim Isarbier im Weg umgehen.

Für einander

Auch wenn ein Gutteil der Filme jetzt nicht sehr hilfreich war dabei, die latente Scheu vor anderen Menschen wieder abzu­streifen, gab’s freilich auch die Opti­misten.
Allen voran Hirokazu Kore-eda, den Groß­meister des »Menschen raufen sich in unewöhn­li­chen Konstel­la­tionen zusammen«. Der bei seinem Korea-Ausflug Broker eine gewisse Urlaubs-Leich­tig­keit an den Tag legt, eine Lizenz, sich nicht zu sehr in Ort, Gesell­schaft, Kultur zu vertiefen und nur auf die Menschen zu schauen.
Broker ist fast ein umge­kehrter Shop­lif­ters – statt einer vermeint­li­chen Familie, die sich nach und nach als Bande von Krimi­nellen entpuppt, gibt’s eine vermeint­liche Gemein­schaft von Gaunern, die allmäh­lich zur Familie zusam­men­wächst.
Und in seinem groß­ar­tigsten Moment geht’s um eine zutiefst mensch­liche Sehnsucht: Die Hoffnung, dass Andere sich freuen, dass wir auf der Welt sind.

Und wenn es eines klaren Zeichens bedurfte, dass wieder Filmfest ist, dann kann’s kaum ein klareres geben als: Klaus Lemke hat wieder einen neuen Film, und er ist da, ihn vorzu­stellen.
Es ist nicht ganz alles wie immer. Inzwi­schen drängt sich der Gedanke auf, dass Lemke viel­leicht doch nicht ewig jung sein wird. Er grinst wie eh und je, aber raunt nunmehr wie ein Zen-Meister seine Sätze übers Leben, das Kino, die Liebe und so. Und wohl erstmals geht der filmische Blick nicht nach vorne, nicht aufs heutige München und dessen junge Menschen, sondern ist retro­spektiv.
Cham­pa­gner für die Augen – Gift für den Rest ist eine Clipshow aus seinen Filmen der 70er mit Sylvie Winter und Cleo Kret­schmer (& Wolfgang Fierek), und dazwi­schen erzählt Lemke ein paar Sätze dazu. Seiner Meinung nach ist es ein Film über das Gefühl der Stadt in jenem Jahrzehnt – eine Sicht, die sich nicht unbedingt aufzwingt.
Aber das Wesent­liche ist eh das Gesamt­kunst­werk aus Film und Auftritt. Das Kino ist voller junger Leute, die Lemke feiern wie ihren Guru. Und man versteht’s: Man muss lang suchen, um im aktuellen Film­ge­schehen jemand zu finden, wo das Filme­ma­chen so spontan eine Form des Lebens ist – wo der Akt des Filmens wichtiger ist als die Filme, die dabei entstehen. Es vor allem drum geht, den Moment, den Ort, die Menschen zu erleben.
Lemke hat ein selbst­ge­maltes Papp­schild dabei. Es ist das wohl schönste Plädoyer des Festivals für Kino als Raum für Begegnung, im Entstehen wie im Wahr­nehmen.
»Kunst kommt von Küssen«, steht da drauf.
Wenn man das bedenke, dann sei alles ganz leicht, meint Lemke.
Na, dann wollen wir mal.