18.09.2022

Enttäuschte Skandalerwartung

Sparta
Ulrich Seidls Sparta
(Foto: SSIFF 2022 | Ulrich Seidl Filmproduktion)

Viel Lärm um nichts: Ulrich Seidls ruhiger und humanistischer Film »Sparta« im Wettbewerb und die künstliche Erregung um ihn herum – Notizen aus San Sebastián, Folge 01

Von Rüdiger Suchsland

»Im Hass auf das mora­li­sche Lebens­glück entdeckte Nietzsche das Ressen­ti­ment. ... Nicht jede Regel­lo­sig­keit ist sympa­thisch, auch wenn sie sich gegen den soge­nannten Spießer, die Ideal­figur des Ressen­ti­ment geladenen richtet ... Warum ist dieses Gefühl zwischen Hass und Empörung so besonders wider­wärtig? Wahr­schein­lich, weil es sich nicht direkt ausspricht, sondern lediglich verkniffen. Das Wider­wär­tige kommt aus der pein­vollen Unsi­cher­heit, den Mangel an Mut. An beidem merkt man, wie weit verbreitet es ist.«
- Karl Heinz Bohrer

Mit Ulrich Seidls neuem Film Sparta ging es gleich richtig los am Sonn­tag­morgen in San Sebastián. In den letzten zwei Wochen war eine regel­rechte Hexenjagd über den öster­rei­chi­schen Regisseur herein­ge­bro­chen, der für seine Hybrid-Filme auf der Grenze zwischen Spielfilm und Doku­men­tar­film bekannt ist.

+ + +

Manche halten Seidl für einen »Skan­dal­re­gis­seur« und nennen ihn auch so. Aber was ist eigent­lich ein »Skan­dal­re­gis­seur«? Schon die Idee des »Skan­dal­re­gis­seurs« ist eine dumme Behaup­tung.
Empörend ist die Frechheit, mit der in manchen Texten jetzt Seidl und auch Michael Haneke zu »Skan­dal­re­gis­seuren« herun­ter­ge­bro­chen wären, so als ob dies eine Rolle wäre, die man frei­willig sucht und nicht eher das Resultat skan­da­li­sie­render Medien, die erst jemanden zum »Skan­dal­re­gis­seur« erklären, um ihm dann aus der Tatsache, ein »Skan­dal­re­gis­seur« zu sein, einen Strick zu drehen.

Ebenso empörend ist die Schein­hei­lig­keit, mit der dann Texte, die eine reine Folge der Anschul­di­gungen sind, einge­leitet werden mit dem Satz: »erneut Aufregung um Ulrich Seidl

Man wundert sich über die Verwun­de­rung. Denn die Methode Seidls ist bekannt: Es geht um Provo­ka­tion, um unap­pe­tit­liche Bilder. »Allen Filmen von Ulrich Seidl sieht man deutlich an, dass sie das Produkt eines starken Hangs zur Insze­nie­rung sind.« schrieb Bert Rebhandl, und fügte hinzu: »Das bedeutet, auch für seine Doku­men­tar­filme, nicht per se, dass sie dadurch unwahr oder künst­le­risch zwei­fel­haft werden. In jedem Fall aber musste man nicht auf Sparta warten, um zu wissen: Wer bei Ulrich Seidl vor die Kamera geht, liefert sich ihm aus und wird aufge­fangen nur zu seinen Bedin­gungen.«

+ + +

Die meisten dieser Texte die jetzt über Seidl geschrieben werden, spielen mit dem Ressen­ti­ment der braven Bürger, die schwie­riger Kunst, Provo­ka­tion, Irri­ta­tion und Gren­zü­ber­schrei­tungen sowieso nie etwas abge­winnen konnten, weil ihr geistiger Schre­ber­garten davon bedroht ist.

Die Autoren sind auch meistens keine Film­ex­perten. Und film­fremde Leute können ein Drehbuch noch weniger verstehen, als es schon Förderer verstehen können und Film­ex­perten.

+ + +

Eine Gren­zü­ber­schrei­tung ganz eigener Art findet sich auf Zeit-Online. Der Text ist das beste und krasseste Beispiel für Autoren, die offenbar die Filme Seidls schon immer doof fanden und die augen­blick­li­chen Anklagen zum Anlass nehmen, Seidl an und für sich den ästhe­ti­schen Schau­pro­zess zu machen. Auf den Gedanken, dass es viel­leicht jetzt auch nicht gerade der beste Zeitpunkt ist, um alles das endlich mal zu sagen, was man schon immer gegen Ulrich Seidl hatte.

+ + +

Jetzt wurde der Film, den bisher keiner gesehen hatte, endlich gezeigt. Ein Kollege, der in einer anderen Pres­se­vor­füh­rung war, schrieb mir dazu nach dem Film: »Es gab verhal­tenen Applaus, keine Buhs. Eine einzige grenz­wer­tige Szene, Georg Friedrich nackt beim Duschen mit den Jungs. Kein pädo­philer Übergriff. Verhal­tene Berüh­rungen. Der Film hat andere Schwächen. Vom Film her sind die Vorwürfe nicht berech­tigt. Der Spiegel-Artikel ist ein Dokument jour­na­lis­ti­scher Unred­lich­keit.«
Das deckt sich mit meiner Einschät­zung.

+ + +

Starker Applaus, zum Teil stehende Ovationen und kein einziges Buh gab es nun bei der Welt­pre­miere des Films im Wett­be­werb des Film­fes­ti­vals von San Sebastián. Im Team um den Wiener Regisseur dürfte man erleich­tert aufge­atmet haben – zugleich war die Premiere im Basken­land keines­falls eine normale, sondern in vieler Hinsicht besonders.

In der Folge hatte Seidl am Tag zuvor seine Reise nach San Sebastián und damit auch die eigent­lich nach jeder Wett­be­werbs­vor­stel­lung statt­fin­dende Pres­se­kon­fe­renz abgesagt. Auch kein einziges anderes Team­mit­glied, weder Schau­spieler noch Co-Produ­zenten, standen den Fragen der Jour­na­listen Rede und Antwort – offenbar ist man überzeugt, dass jede Kommen­tie­rung der heftig bestrit­tenen Vorwürfe diesen nur unnötige Aufmerk­sam­keit verschafft und dass man dieses Feuer nicht löschen kann, sondern es ausbrennen lassen muss. Nicht bei allen kam das gut an: Ein spani­scher Film­kri­tiker kommen­tierte: »Seidl verwei­gert sich der Vertei­di­gung seines Films. Das kann ich nicht verstehen.«

Denn nach wie vor stehen – die bislang voll­kommen unbe­wie­senen – Anschul­di­gungen im Raum, Seidl habe die betei­ligten rumä­ni­schen Jugend­li­chen inkorrekt behandelt und seine Aufsichts­pflicht verletzt. Das Film­fes­tival von Toronto hatte Sparta daraufhin aus seinem Programm ausge­laden. Auf der Website von Toronto wird übrigens dabei wahr­heits­widrig davon gespro­chen, der Film sei von nicht genannten Dritten »vom Festival« (»from festival«) zurück­ge­zogen worden. Tatsäch­lich müsste es heißen »by the festival«, durch das Festival. Das sind so die kleinen, sehr gewollten Unschärfen.

Demge­genüber erklärte José Luis Rebor­dinos, der Direktor von San Sebastián, schnell, den Film in jedem Fall zeigen zu wollen: Man bewerte Festi­val­bei­träge »ausschließ­lich nach Interesse und Qualität« und sei nicht in der Lage zu beur­teilen, wie ein Film gedreht wurde und ob es während der Dreh­ar­beiten zu Vergehen kam. Man werde darum einen bereits einge­la­denen Film nur im Fall eines gericht­li­chen Verbots wieder aus dem Programm entfernen. »Wenn jemand Beweise für ein Verbre­chen hat, sollte er dies der Justiz melden. Nur ein Gerichts­be­schluss könnte dazu führen, dass wir eine geplante Vorfüh­rung aussetzen«.
Im Basken­land, das mit der Zensur während des Franco-Regimes leidvolle Erfah­rungen machte, ist man tradi­tio­nell sehr zurück­hal­tend mit allem, was auch nur ein bisschen nach Einschrän­kung künst­le­ri­scher Frei­heiten klingt. Hier zeigte man auch schon Doku­men­tar­filme über die ETA unter Poli­zei­schutz.

+ + +

Seidl, der alle Vorwürfe bestreitet, erklärte zu seiner Besuchs­ab­sage am Samstag: »Ich bin José Luis Rebor­dinos sehr dankbar, dass er von Anfang an zu Sparta gestanden hat, trotz des Drucks der Medien und trotz der großen Turbu­lenzen, die plötzlich damit einher­gingen. Das bedeutet mir sehr viel. Der erste Impuls, nach San Sebastián zu kommen, war, den Film, an dem mein Team und ich so viele Jahre gear­beitet haben, nicht allein zu lassen. Mir wurde jedoch klar, dass meine Anwe­sen­heit bei der Premiere die Rezeption des Films über­schatten könnte, während es jetzt an der Zeit ist, dass Sparta für sich selbst spricht.«
Nimmt man diesen Wunsch ernst – was ist es dann, was Sparta zeigt?

+ + +

»So ein Tag, so wunder­schön wie heute....« – eine Gruppe offen­sicht­lich dementer Greise versucht in der allersten Einstel­lung des Films mehr schlecht als recht, dieses Lied zu singen. Man kennt die wohl­kom­po­nierte, symme­tri­sche, latent cleane Kame­ra­ein­stel­lung von allen Seidl-Filmen, man kennt das Alters­heim-Setting bereits aus Seidls letztem Film Rimini, der im Februar bei der Berlinale Premiere hatte. Beide Filme bilden ein Tandem, sie handeln von zwei Brüdern und ihrem Vater, einem der Insassen des Alters­heims, den Hans-Michael Rehberg in seiner aller­letzten Filmrolle verkör­pert.

Kurz darauf fährt dessen Sohn Ewald (Georg Friedrich) nach Trans­sil­va­nien, und übt im Auto rumänisch mit Kassetten. Was der Mann eigent­lich arbeitet, weiß man bis zum Ende des Films nicht wirklich. Man sieht dafür, dass er eine rumä­ni­sche Freundin hat. Im Bett klappt es nicht, und auch sonst fühlt er sich in ihrer Gegenwart eher unwohl. Es ist eine große Leistung von Friedrich, wie er hier einen hyper­ner­vösen, verkrampften Mann spielt, der offen­sicht­lich mit sich selbst fort­wäh­rend hadert. Entspan­nung findet er nur in der Gegenwart von sechs- bis 14-jährigen Jungs. Erst nach und nach wird klar, dass er sie auch sexuell begehrt.
Bald kauft er in einem Dorf eine leer­ste­hende Schule und baut sie zu einem Jugend­camp namens »Sparta« um, in dem er zwei Handvoll männ­li­cher Kinder Zuflucht bietet, sie in Judo unter­richtet, Zeit mit ihnen verbringt, ohne ihnen aber jemals im falschen Sinn zu nahe zu kommen.

+ + +

Was man im Rückblick kaum mehr simu­lieren kann, auch nicht als Autor dieses Textes, ist, wie wir diesen Film wohl angesehen hätten, wenn es die jetzigen im Raum stehenden Vorwürfe nie gegeben hätte? Wir wären wohl deutlich über­raschter, viel­leicht auch über das eine oder andere scho­ckierter.
Nun dominiert erst einmal eine enttäuschte Skan­d­a­ler­war­tung. Denn Sparta ist viel ruhiger und viel huma­nis­ti­scher und viel weniger provo­zie­rend, als man das viel­leicht erwartet hätte. Die von manchen bereits bei Rimini konsta­tierte »Alters­milde« des Regis­seurs ist auch hier erkennbar.
Sofern man so etwas als Film-Zuschauer einem Film überhaupt anmerken kann, haben die Kinder ganz offen­sicht­lich ihren Spaß bei ihren Film­szenen.
Im Film ist keinerlei Miss­brauchs­hand­lung zu sehen, sie wird auch nicht ange­deutet. Die Figur des Ewald ist vielmehr einer jener Pädo­philen, die ihren Trieb gegen alle Wider­s­tände mit Disziplin und Willens­stärke im Zaum halten und eben nicht ausleben.

+ + +

Zugleich ist offen­kundig, dass Pädo­philie gar nicht im Zentrum des Films steht. Sparta handelt vielmehr von der Gewalt der Väter. Das gilt für die rumä­ni­schen Väter, und Ewald ist hier der Einzige, der versucht den zum Teil zu Hause miss­han­delten Kindern gegen ihre Familien zu helfen. Ewald schützt die Jungs gegen ihre gewalt­tä­tigen Väter und gegen Vorstel­lungen von einer Männ­lich­keit, die nach Prin­zi­pien wie »Hart wie Krupp­stahl« und »Du musst in der Lage sein zu töten«, »Du darfst keine Gnade zeigen gegen deinen Feind« und mit ähnlichen Sätzen struk­tu­riert ist.

Wenn man diesem Film etwas vorwerfen möchte, dann allen­falls, dass er ausge­rechnet eine pädophile Figur als die einzig wirklich positive Figur des Films zeigt. Denn Ewald ist der Einzige, der sich um die Jungen kümmert; er versucht den zum Teil zu Hause miss­han­delten Kindern gegen ihre Familien zu helfen – gerade das zieht ihm dann den Hass der Eltern zu.

Immer wieder ist die Handlung in Rumänien auch von kurzen Szenen unter­bro­chen, in denen Rehbergs Figur Nazi-Lieder singt, oder aus Hitler­reden zitiert. Es ist ein groß­ar­tiger Einfall: Aus dem Unter­be­wusst­sein des dementen Hirns der Rehberg-Figur dringen diese Faschismus-Blasen immer wieder an die Ober­fläche. Sie blubbern an die Ober­fläche.

Die gewalt­tä­tige Erziehung durch diesen vom Faschismus durch und durch geprägten Vater hat seine beiden Söhne fürs Leben gezeichnet. Man kann Sparta sogar so verstehen, in der Pädo­philie des Sohne die Folge einer trau­ma­ti­sie­renden Erziehung zu sehen.
Es geht darum, die Gewalt der Männer­bünde zu zeigen, aber auch die Gefühle, die in Männer­bünden zuge­lassen und möglich sind.

+ + +

Es wäre womöglich besser gewesen, wenn Sparta zusammen mit Rimini ein einziger Film geworden wäre. So wie es ursprüng­lich einmal angedacht war.
Dann hätte Seidl nicht einen Film über Pädo­philie gemacht, sondern ganz eindeutig einen Film über die Folgen des Faschismus gedreht.

+ + +

Vor diesem Hinter­grund ist so oder so aber auffällig, dass es vor allem deutsche Autoren sind, die Seidl jetzt anklagen. Will man sich von der eigenen deutschen NS-Vergan­gen­heit entlasten, indem man den Boten denun­ziert?

+ + +

Es sind vor allem deutsche Ankläger, junge Männer, die womöglich mit ihrer eigenen Männ­lich­keit zu kämpfen haben und ihrer eigenen männ­li­chen Sexua­lität.
Aber auch das sind nur Vermu­tungen, so wie die Vermu­tungen der Autoren im Spiegel-Artikel.

(to be continued)