Niemand ist bei den Tabakpflanzen |
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One fine morning: ein wunderschöner Film... | ||
(Foto: Foto: SSIFF 2022 | One Fine Morning) |
»Einige große Filme, die nicht sehr gut sind, gefallen mir ausgezeichnet, zum Beispiel Doktor Schiwago, Gone with the Wind. Ich bedauere, daß es immer weniger davon gibt, weil man gar nicht mehr weiß, wie sie gemacht werden.
Ich mache etwas anderes. Es ist doch Platz für alle da. Was ich schade finde, ist, daß heute im Film wie überall alles so totalitär ist. Als würde es nur eine Art, etwas zu machen, geben und keine andere.«
- Jean-Luc Godard 1978, im Gespräch mit Wilfried Reichart
Ein kleines kluges Mädchen entdeckt die Welt. Sie heißt Vera und ist etwa acht Jahre alt. Gerade sind Sommerferien, darum ist sie mit ihrer alleinerziehenden Mutter bei ihren Großeltern zu Besuch. In der Nähe von Granada, im Süden Andalusiens, haben die eine Tabakplantage, auf der Secaderos spielt.
Wir sehen die harte Arbeit in den Feldern, die sich über weite Ebenen erstrecken, wir lernen die Familien des Dorfes kennen, drei, manchmal vier Generationen. Gelegentlich erinnert das an Alcarràs, den Berlinale-Sieger von Carla Simon, der auch zum Teil aus Kinderperspektive erzählt, und in der auch der ökonomische Wandel, das Verschwinden alter Bauerntraditionen einen wichtigen
Erzählstrang bildet. Hier allerdings gibt es noch etwas anderes, etwas, das man früher »magischer Realismus« nannte. Die Kinder, die hier viel lustig-absurden Quatsch machen, der alles immer wieder ein bisschen auflockert, »sehen« nämlich ein Wesen, das einer riesigen Tabakpflanze mit Augen und Mund gleicht, einen grotesk aussehenden Tabakgeist, der ein bisschen wie eine Mischung aus Urmel aus dem Eis, dem Krümelmonster der Sesamstraße und Jabberwocky wirkt.
Dies ist ein Einfall,
auf den die Regisseurin besser verzichtet hätte – ansonsten hat ihr Erstlingsfilm eine Menge guter Seiten.
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Veras Blick auf die Welt der Plantage, die ihr wie ein kleines Paradies erscheint, ein idyllisches Kindheitsreich voller Abenteuer, wird gespiegelt durch den Blick von Nieves auf den gleichen Ort. Nieves ist ungefähr 16 Jahre, und die Tochter der Nachbarn. Für sie ist dieser Ort ein einziges Gefängnis.
Wir sehen auch die ältere Nieves mit ihren Freundinnen, Teenage-Land-Girls, die stundenlang mit ihren Fingernägeln beschäftigt sind und sich am Wochenende zu ziemlich billiger praller Musik abschießen. In den Szenen der Älteren und manchmal auf der Erwachsenen erinnert das alles ein bisschen an Niemand ist bei den Kälbern, und etwas später traf ich auch noch jemanden, dem es genauso
ging.
Die Vorstellung, auf dem Land könnte man so etwas wie Glück und Zuflucht vor der Stadt und dem Unbill des modernen Lebens finden, ist in allen zeitgenössischen Filmen schon immer als Illusion entlarvt.
Zuerst sind es zwei parallele Geschichten, die sich zwischen den Feldern und den Ziegelgebäuden abspielen, in denen der Tabak zum Trocknen aufgehängt wird, irgendwann fallen diese Geschichten mehr und mehr zusammen. Beide Mädchen haben viel gemeinsam, sie fühlen sich fremd in dieser Welt.
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Secaderos, der in San Sebastián in dem zweiten Wettbewerb, den Nuevos Directores läuft, ist das Debüt der Regisseurin Rocío Mesa. Ein typischer Erstlingsfilm, nicht nur wegen des krass langen Abspanns mit zehntausend Danksagungen. Sondern roh und unbehauen und voller guter Einfälle.
Im Zentrum steht der Verlust der Träume der Älteren, den die Jungen zu wiederholen drohen.
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Kinder liegen auch hier nur mit Unterhosen bekleidet auf dem Gras. Wird hier auch jemand fragen, ob das den bezaubernd spielenden Kindern Spaß gemacht hat? Wieviel Kinderpsychologen neben der Kamera standen? Ob die Kinder nach dem Spielen genug Zeit zum Spielen hatten?
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One Fine Morning, der neue Film von Mia Hansen-Love, lief bereits in Cannes in der Quinzaine, für die man dort nie genug Zeit hat. Hier schon.
Auch hier erlebt man vier Generationen einer französischen Familie. Die ist allerdings sehr bildungsbürgerlich und lebt in Paris.
Von der Form her ist das eine Ballade, die im Ton manchmal an die Nouvelle Vague erinnert. Die Musik gliedert den entspannt erzählten Film in Episoden und Kapitel, Leitmotive strukturieren zusätzlich.
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Im Zentrum des Films geht es um das Altwerden und Hinfällig- Werden, letztendlich um das Sterben und darum, was vom Leben bleibt.
Zum Beispiel viele Zimmer voller Bücher. Sie sind Seele, Ausdruck der Person. »Seine Bücher – das ist sein ganzes Leben«, sagt die Tochter, »seine Bücher haben mehr mit ihm zu tun, als die Person im Pflegeheim«. Der Vater hat in seinem Bücherregal unglaublich viel deutsche Literatur, die später noch ein bisschen beschrieben wird. Unter anderem
Kafka, Canetti, Thomas Mann, Goethe. Der Vater stammt aus Wien und war Professor für Philosophie, die Tochter ist Übersetzerin. Wieder alleinerziehend, wieder mit einer süßen Tochter, die aber etwas älter ist.
Lea Seydoux, die die Tochter spielt, ist betont »normal« in Szene gesetzt, kommt anfangs so ein bisschen Tomboy-mäßig daher, zugleich mit Kurzhaarfrisur und Ringelpullover wie Jean Seberg in Außer Atem.
Es geht auch um Mitleid mit dem Alter. Die 98-jährige Urgroßmutter ist im Unterschied zum Sohn total fit im Kopf und sagt der Enkelin, dass sie auf der Straße nicht so mitleidig angeguckt werden will. Sie geht noch zur Maniküre und Pediküre und zum Friseur, und sie sagt: »Pity? forget it.« Man soll kein Mitleid haben. Bloß kein Mitleid.
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Insgesamt ein wunderschöner Film, der zu den besten der Regisseurin gehört.
Und man versteht Cannes wirklich manchmal überhaupt nicht: Da läuft dieser schwachsinnige Bergman Islands von Hansen-Löve im Wettbewerb und dieser tolle Film in der Quinzaine...
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Es geht um die Auflösung der Bürgerlichkeit. Die Bibliothek ist dafür das Symbol. Vor dem Untergang kommt das Ende des Bürgertums.
Gegen Ende zeigt One Fine Morning ein Weihnachtsfest. So ganz anders als in Un conte de Noël von Desplechin. So einen Film würde er nie so erzählen, das ist alles vollkommen undenkbar.
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Es gibt in diesen Jahren viele Filme über Probleme. Es gibt kaum Filme über Chancen, auch nicht über Utopien. Nicht über Glück. Sondern über das Überleben.
(to be continued)