22.09.2022

Niemand ist bei den Tabakpflanzen

One Fine Morning
One fine morning: ein wunderschöner Film...
(Foto: Foto: SSIFF 2022 | One Fine Morning)

Neue Filme von Rocío Mesa und Mia Hansen-Love – Notizen aus San Sebastián, Folge 2

Von Rüdiger Suchsland

»Einige große Filme, die nicht sehr gut sind, gefallen mir ausge­zeichnet, zum Beispiel Doktor SchiwagoGone with the Wind. Ich bedauere, daß es immer weniger davon gibt, weil man gar nicht mehr weiß, wie sie gemacht werden.
Ich mache etwas anderes. Es ist doch Platz für alle da. Was ich schade finde, ist, daß heute im Film wie überall alles so totalitär ist. Als würde es nur eine Art, etwas zu machen, geben und keine andere.«

- Jean-Luc Godard 1978, im Gespräch mit Wilfried Reichart

Ein kleines kluges Mädchen entdeckt die Welt. Sie heißt Vera und ist etwa acht Jahre alt. Gerade sind Sommer­fe­rien, darum ist sie mit ihrer allein­er­zie­henden Mutter bei ihren Großel­tern zu Besuch. In der Nähe von Granada, im Süden Anda­lu­siens, haben die eine Tabak­plan­tage, auf der Secaderos spielt.

Wir sehen die harte Arbeit in den Feldern, die sich über weite Ebenen erstre­cken, wir lernen die Familien des Dorfes kennen, drei, manchmal vier Gene­ra­tionen. Gele­gent­lich erinnert das an Alcarràs, den Berlinale-Sieger von Carla Simon, der auch zum Teil aus Kinder­per­spek­tive erzählt, und in der auch der ökono­mi­sche Wandel, das Verschwinden alter Bauern­tra­di­tionen einen wichtigen Erzähl­strang bildet. Hier aller­dings gibt es noch etwas anderes, etwas, das man früher »magischer Realismus« nannte. Die Kinder, die hier viel lustig-absurden Quatsch machen, der alles immer wieder ein bisschen auflo­ckert, »sehen« nämlich ein Wesen, das einer riesigen Tabak­pflanze mit Augen und Mund gleicht, einen grotesk ausse­henden Tabak­geist, der ein bisschen wie eine Mischung aus Urmel aus dem Eis, dem Krümel­monster der Sesam­straße und Jabber­wocky wirkt.
Dies ist ein Einfall, auf den die Regis­seurin besser verzichtet hätte – ansonsten hat ihr Erst­lings­film eine Menge guter Seiten.

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Veras Blick auf die Welt der Plantage, die ihr wie ein kleines Paradies erscheint, ein idyl­li­sches Kind­heits­reich voller Abenteuer, wird gespie­gelt durch den Blick von Nieves auf den gleichen Ort. Nieves ist ungefähr 16 Jahre, und die Tochter der Nachbarn. Für sie ist dieser Ort ein einziges Gefängnis.

Wir sehen auch die ältere Nieves mit ihren Freun­dinnen, Teenage-Land-Girls, die stun­den­lang mit ihren Fingernä­geln beschäf­tigt sind und sich am Wochen­ende zu ziemlich billiger praller Musik abschießen. In den Szenen der Älteren und manchmal auf der Erwach­senen erinnert das alles ein bisschen an Niemand ist bei den Kälbern, und etwas später traf ich auch noch jemanden, dem es genauso ging.
Die Vorstel­lung, auf dem Land könnte man so etwas wie Glück und Zuflucht vor der Stadt und dem Unbill des modernen Lebens finden, ist in allen zeit­genös­si­schen Filmen schon immer als Illusion entlarvt.

Zuerst sind es zwei parallele Geschichten, die sich zwischen den Feldern und den Ziegel­ge­bäuden abspielen, in denen der Tabak zum Trocknen aufgehängt wird, irgend­wann fallen diese Geschichten mehr und mehr zusammen. Beide Mädchen haben viel gemeinsam, sie fühlen sich fremd in dieser Welt.

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Secaderos, der in San Sebastián in dem zweiten Wett­be­werb, den Nuevos Direc­tores läuft, ist das Debüt der Regis­seurin Rocío Mesa. Ein typischer Erst­lings­film, nicht nur wegen des krass langen Abspanns mit zehn­tau­send Dank­sa­gungen. Sondern roh und unbehauen und voller guter Einfälle.
Im Zentrum steht der Verlust der Träume der Älteren, den die Jungen zu wieder­holen drohen.

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Kinder liegen auch hier nur mit Unter­hosen bekleidet auf dem Gras. Wird hier auch jemand fragen, ob das den bezau­bernd spie­lenden Kindern Spaß gemacht hat? Wieviel Kinder­psy­cho­logen neben der Kamera standen? Ob die Kinder nach dem Spielen genug Zeit zum Spielen hatten?

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One Fine Morning, der neue Film von Mia Hansen-Love, lief bereits in Cannes in der Quinzaine, für die man dort nie genug Zeit hat. Hier schon.

Auch hier erlebt man vier Gene­ra­tionen einer fran­zö­si­schen Familie. Die ist aller­dings sehr bildungs­bür­ger­lich und lebt in Paris.

Von der Form her ist das eine Ballade, die im Ton manchmal an die Nouvelle Vague erinnert. Die Musik gliedert den entspannt erzählten Film in Episoden und Kapitel, Leit­mo­tive struk­tu­rieren zusätz­lich.

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Im Zentrum des Films geht es um das Altwerden und Hinfällig- Werden, letzt­end­lich um das Sterben und darum, was vom Leben bleibt.
Zum Beispiel viele Zimmer voller Bücher. Sie sind Seele, Ausdruck der Person. »Seine Bücher – das ist sein ganzes Leben«, sagt die Tochter, »seine Bücher haben mehr mit ihm zu tun, als die Person im Pfle­ge­heim«. Der Vater hat in seinem Bücher­regal unglaub­lich viel deutsche Literatur, die später noch ein bisschen beschrieben wird. Unter anderem Kafka, Canetti, Thomas Mann, Goethe. Der Vater stammt aus Wien und war Professor für Philo­so­phie, die Tochter ist Über­set­zerin. Wieder allein­er­zie­hend, wieder mit einer süßen Tochter, die aber etwas älter ist.

Lea Seydoux, die die Tochter spielt, ist betont »normal« in Szene gesetzt, kommt anfangs so ein bisschen Tomboy-mäßig daher, zugleich mit Kurz­haar­frisur und Ringel­pull­over wie Jean Seberg in Außer Atem.

Es geht auch um Mitleid mit dem Alter. Die 98-jährige Urgroß­mutter ist im Unter­schied zum Sohn total fit im Kopf und sagt der Enkelin, dass sie auf der Straße nicht so mitleidig angeguckt werden will. Sie geht noch zur Maniküre und Pediküre und zum Friseur, und sie sagt: »Pity? forget it.« Man soll kein Mitleid haben. Bloß kein Mitleid.

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Insgesamt ein wunder­schöner Film, der zu den besten der Regis­seurin gehört.
Und man versteht Cannes wirklich manchmal überhaupt nicht: Da läuft dieser schwach­sin­nige Bergman Islands von Hansen-Löve im Wett­be­werb und dieser tolle Film in der Quinzaine...

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Es geht um die Auflösung der Bürger­lich­keit. Die Biblio­thek ist dafür das Symbol. Vor dem Untergang kommt das Ende des Bürger­tums.

Gegen Ende zeigt One Fine Morning ein Weih­nachts­fest. So ganz anders als in Un conte de Noël von Desplechin. So einen Film würde er nie so erzählen, das ist alles voll­kommen undenkbar.

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Es gibt in diesen Jahren viele Filme über Probleme. Es gibt kaum Filme über Chancen, auch nicht über Utopien. Nicht über Glück. Sondern über das Überleben.

(to be continued)