Im Land des weißen Pferdes |
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Eine schöne Überraschung: der Siegerfilm Los Reyes del Mundo | ||
(Foto: SSIFF 2022 | Los Reyes del Mundo) |
»Wir haben damals viele Filme gesehen und darüber geschrieben. Und dieses Schreiben war schon eine Art Filme zu machen. Deshalb finde ich auch, dass wir anders schrieben.«
– Jean-Luc Godard 1978, im Gespräch mit Wilfried Reichart
Es ist jedes Mal dasselbe in San Sebastián: Die Tage gehen zu schnell vorbei; selbst wenn man nicht so etwas wie die »Causa Ulrich Seidl« an der Backe hat. Und plötzlich ist es wieder Samstag und die Preisverleihung steht bevor. Die letzten drei Tage war das Wetter ziemlich schlecht, es war gar nicht mal kalt, aber es hat ziemlich viel geregnet. Shitwetter würde man in Hamburg sagen.
Und auch wenn es nicht Samstag wäre, dann ist es doch jedes Mal so, dass Carlos Boyero, der spanische Filmkritiker, über den ich neulich im Podcast gesprochen habe, recht hat, wenn er sagt, dass San Sebastian »die schönste Stadt der Welt« ist. Ich weiß nicht, ob die allerschönste, aber das ist auch ziemlich egal; es geht ja mehr um einen Ausdruck des Gefühls in dem Augenblick, in dem man hier ist. In dem Augenblick hat man das Gefühl, genau am richtigen Ort zu sein, und man will nicht wieder weg. Auch wenn die Filme nicht so gut sind wie in Cannes und wahrscheinlich auch nicht so gut wie in Venedig, dann ist dies hier doch gegenüber Cannes allemal und erst recht gegenüber dem leider dann doch ein bisschen zu sehr Tourismus-infizierten Venedig genau der richtige Ort.
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Wenn ich mir eine Stadt aussuchen dürfte, wo ich leben dürfte und es nur um das Leben ginge, nicht auch ums Arbeiten und auch nicht darum, wo Freunde und Verwandte leben, dann wäre San Sebastián in der ganz engen Wahl. Natürlich auch eine Stadt wie Venedig, ja. Aber sonst keine Stadt, in der Filmfestivals stattfinden.
Es hebt schon diese beiden Städte ganz eindeutig heraus über alle anderen, in denen die großen Herbstfestivals stattfinden und die so eng beieinanderliegen, dass es fast schon in eins verschwimmt, dass man nach San Sebastián immer noch Eindrücke von Venedig mitnimmt, und manche Venedig-Filme hier nachholt, so wie man umgekehrt in Venedig, wo alles etwas anstrengender ist, schon voller Vorfreude ist auf San Sebastián.
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Ein Film, der sich überlappt, und den ich mir hier noch mal angeschaut habe, ist Blonde, die Verfilmung der Biografie von Marilyn Monroe durch Andrew Dominik. Dies auch, weil es einen besonderen Gimmick dazu gibt: Ins Kino gehen, das ist ja eben auch Spiel, Spaß und Spannung, und schon deswegen wollte ich mir den Auftritt dieser furiosen Darstellerin nicht entgehen lassen – und ich hatte ja schon aus Venedig geschrieben, dass man diesen Film gut zweimal sehen kann.
So ganz hat der Film die zweite Sichtung dann aber nicht ausgehalten, vielleicht war ich in Venedig auch schon in Trance, habe den besseren Film vor allem geträumt. Die schlechtere Wirklichkeit sah ich dann hier.
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Noch einmal gehe ich also am »Kursaal«, dem Festivalzentrum vorbei, noch einmal über die Brücke rüber aufs Meer, auf den weiten Strand der Biskaya und die sonnenbestrahlten Wolken am Horizont blickend zum »Teatro Victoria Eugenia«, wo ich gleich noch einen Film aus der Nebenreihe nachhole. Wenn ich rauskomme, werden die Preise feststehen. Was wird es wohl diesmal werden?
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Goldene Muschel. Es wurde denn der Film, den ich im von mir nicht vollständig gesehenen Wettbewerbsprogramm tatsächlich auch den besten und interessantesten fand: Los Reyes del Mundo von Laura Mora. Was für eine schöne Überraschung!
Eine Handvoll Großstadtjungs auf dem Land, die Macheten braucht man hier nicht, um Gegner zu beeindrucken, sondern um sich seinen Weg zu bahnen. Gewalt, überschäumende Emotionen, aber auch eine Entdeckungsreise durch Kolumbien, die ein so zauberhaftes, verträumtes wie zerrissenes Land vorstellt.
Dies ist alles andere als ein üblicher Film über jugendliche Gangster. Eher ein Roadmovie, der damit beginnt, dass ein knapp 20-jähriger Taugenichts im Zuge einer Landreform ein Stück Land von seiner Großmutter zurückbekommt. Mit vier Freunden macht er sich auf den Weg. Alle fünf sind noch nie aus der Stadt herausgekommen. Es wird eine Reise mit Verlusten. Es ist früh zu ahnen, dass diese Geschichte keinen guten Ausgang nehmen wird.
Davor aber lebt dieser Film, von Trance und Hypnose, von starker Sinnlichkeit und von surrealen Szenen voller Träume, vor allem Angstträume, Todesahnungen – mehrfach sieht man ein imaginäres weißes Pferd, das für die Protagonisten eine Art poetischer Moby Dick ist. So reisen sie durch verschiedene Szenen eines verwüsteten Landes, um am Ende festzustellen, dass die Mächtigen das Land ohne Rücksicht auf jedes Gesetz weiter regieren und ausbeuten.
Ein harter, trauriger und zugleich sehr schöner Film. Eine surreale Odyssee durch das heutige Kolumbien, die viele schillernde Momente von nicht-ästhetisierter Schönheit voller Schmerz und Bitterkeit besitzt.
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So gewann eine Außenseiterin in einem Wettbewerb, in dem so bekannte Namen wie Sebastian Lelio, Ulrich Seidl, Hong Sangsoo und Christophe Honoré vertreten waren.
Stattdessen dominierte die Jugend die Liste der Gewinner: Der Preis für die beste Regie ging an den japanischen Regisseur Genki Kawamura für seinen Film A Hundred Flowers, eine zärtliche Studie über eine Mutter und ihren Sohn, die durch die Demenzerkrankung des Sohnes auseinandergerissen
werden. Der chinesische Regisseur Wang Chao erhielt den Preis für das beste Drehbuch für A Woman, seine einfühlsame, empathische Darstellung einer Frau aus der Arbeiterklasse, die durch eine Reihe unglücklicher Beziehungen im maoistischen China allmählich ihre kreative Stimme entfaltet.
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Christophe Honorés Winter Boy ist eine persönliche Reflexion von Trauer und Verlust. Es geht um einen 17-Jährigen, dessen unbeschwertes Teenager-Dasein plötzlich durch den Tod seines Vaters erschüttert wird. Der Film handelt davon, wie jede der Hauptfiguren mit Trauer und Einsamkeit umgeht. Der junge Paul Kircher, der die Hauptfigur spielte, gewann am Ende den Schauspielpreis. Juliette Binoche spielt die trauernde Witwe.
Honoré nähert sich gewohnt
obsessiv seinem Thema und dem Gesicht seiner Hauptfigur; sein Film quillt über, dehnt sich aus, schwelgt im Trauergefühl und der Zurschaustellung seiner mitunter pompösen ästhetischen Mittel.
Eine weitere Teenager-Geschichte, die sommerliche, klassenbewusste Miniatur Spare Keys des französischen Duos Jeanne Aslan und Paul Saintillan, wurde im diesjährigen Wettbewerb für »Neue Regisseure« mit dem ersten Preis ausgezeichnet.
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Lateinamerika und Asien dominierten trotz dieser französischen Preise die Auszeichnungen im Baskenland – ein überfälliges Gegengewicht zu den großen Festivals Cannes, Venedig, Berlin, die zwar in den letzten Jahren verstärkt und deutlich überbetont Frauen auszeichnen, sich zugleich dabei aber allzu oft auf Europa und US-Amerika beschränken, als ob die Welt nur zwei Kontinente hätte.
In San Sebastián hat sie mehr.
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Letztes Bier im Baluarte. Aus dem wurden dann, wie vorauszusehen war, vier, die Bedienungen und ich verabschieden uns mit »Bis zum nächsten Jahr!«, dann gehe ich zur Abschlussveranstaltung in der alten Sommerresidenz der spanischen Könige.
Davor ließ ich mir noch mal ein paar Schlaglichter des diesjährigen Programms durch den Kopf gehen.
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Verbrechen der Zukunft. »I am bionic. I am the future« – das muss man erstmal über die Lippen bringen! Es war David Cronenberg in der Pressekonferenz zum diesjährigen »Donostia-Award«.
Inzwischen kann Cronenberg (geboren 1943) auf eine faszinierende Karriere als Regisseur zurückblicken, die sich über fast ein halbes Jahrhundert erstreckt. Sie begann als »Kultfilmer« im Horror- und Fantasy-Genre und endete als gefeierter Filmemacher so philosophischer Filme wie
Crash, eXistenZ, A History of Violence, Eastern Promises und Crimes of
the Future. Titel, die Bilder liefern, die sich in die Gehirne von Generationen von Cinephilen eingebrannt haben, und die ein eigenes Universum bilden, das sich mit seinen wiederkehrenden Obsessionen, wie dem Aufzeigen der Krankheiten von Körper und Geist, des Unbewussten und der Beziehung zwischen dem Organischen und der Technologie (»Bodyhorror«) von dem aller anderen Filmemacher unterscheiden.
Diese Beziehung zwischen dem Körper, der Technologie und der Zukunft, in die sie uns führen könnte, ist Cronenbergs unvermeidliches Thema, und ein erstaunlich persönliches: »Ich trage ein Hörgerät, damit ich hören kann, ich hatte vor kurzem eine Operation am Grauen Star, ich habe Implantate, also... ich bin bionisch. Die Zukunft bin ich.«
Cronenberg sagte, er sei kein Optimist, er mache sich ernsthafte Sorgen darüber, wie wir Menschen die Welt als Teil unserer eigenen
Evolution als Spezies verändern, und ob unsere zerstörerischen Impulse über die schöpferischen siegen werden.
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»Aber ich habe mich schon immer für Technologie und den Zugang zu ihr interessiert. Heutzutage kann man mit einem guten Mobiltelefon einen anständigen Film machen. In meiner Laufbahn habe ich immer Technologien verwendet, die nicht als sehr professionell für das Filmemachen gelten, aber ich experimentiere gerne mit der Technologie und sehe, was junge Filmemacher damit machen«.
Er fühle sich nicht befugt, kluge Ratschläge zu geben, aber er halte auch nichts von der
neuen Empfindsamkeit (»new sensitivity«) in Kreisen der Gebildeten: »Seit ich angefangen habe, hat sich alles immer wieder verändert. Was soll ich Ihnen sagen? Seid stark!! Sie leiden beim Filmemachen? Pech. Kino ist nichts für Schwächlinge!!!«
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Cronenbergs Werk war schon immer im allerbesten Sinne provokant, und zwar nicht wegen seiner Suche nach plumpen Schocks, sondern wegen seiner Fähigkeit, beim Zuschauer intensive Reaktionen hervorzurufen: »Man sagt, ich treibe das Publikum an seine Grenzen, aber das tue ich nicht. Ich treibe mich selbst an meine Grenzen. Ich gehe bis an meine Grenzen. Hitchcock sagte, das Publikum sei eine Marionette. Dem stimme ich nicht zu. Ich experimentiere mit meinen Filmen, während ich sie mache, um zu sehen, ob sie eine Wahrheit enthüllen, und dann überlasse ich es dem Publikum mit der Frage: Was fühlen Sie?«
In Crimes of the Future, seinem neuesten Film, den er nach der Cannes-Premiere in San Sebastián vorstellte, werden seine üblichen Obsessionen wieder aufgegriffen. Eine Welt, in der die menschliche Spezies ständigen Mutationen unterliegt, um sich an eine zunehmend synthetische Umwelt anzupassen, und in der die Kunst aus der öffentlichen Ausstellung von Operationen und Autopsien besteht.
Hier fallen Künstler und Verbrecher in eins. Ein überaus aktueller Gedanke in Zeiten, die Kunst zunehmend unter moralische, politische und auch juristische Kuratel stellen will und Künstlern vor allem vorschreiben, was sie alles nicht dürfen.
»Künstler sind Kriminelle, weil Kunst im Grunde genommen kriminell ist. Wir haben unsere Instinkte unterdrückt, um uns als Zivilisation weiterzuentwickeln. Der Künstler erforscht diese Instinkte und die unbewussten, zerstörerischen Anteile in uns selbst. Die Anziehungskraft des Kinos, der Kunst, des Verbotenen, ist offensichtlich.
Ich verspreche, in Zukunft mehr Verbrechen in Form von Filmen zu begehen«.
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Die Französin Nicole Garcia konnte man hier am gleichen Tag im Abstand von 40 Jahren sehen: Einmal als die Mutter von Léa Seydoux im Film von Mia Hansen-Love und einmal als die Geliebte von Yves Montand im Film von Claude Sautet Garcon!