10.11.2022

Ende des Bürgertums

R.M.N.
R.M.N.: Stillschweigend wird hier von einem untergehenden Landstrich erzählt
(Foto: Cristian Mungiu / Rumänisches Filmfestival)

Das Rumänische Filmfestival in München lässt die raue Tonalität im osteuropäischen Kino deutlich werden, und auch das Aufbrechen festgefahrener Strukturen

Von Dunja Bialas

Je länger wir den Blick nach Osteuropa richten, desto mehr verblasst das groß­ar­tige Filmland Rumänien. Es ist ja nicht so, dass aus Rumänien keine tollen Filme mehr kämen. Es ist nur so, dass Rumänien viel Konkur­renz bekommen hat: aus Litauen, Georgien, neuer­dings auch aus Belarus und der Ukraine, seitdem wir unsere Festivals für die gebeu­telten Länder der ehema­ligen Sowjet­union öffnen und der Vorherr­schaft Russlands auch kulturell eine Absage erteilen. Speziell Georgien hat es in beson­derer Weise verstanden, die erfolg­reiche Tonalität der Rumä­ni­schen Neuen Welle in den eigenen Filmen zu finden. Die Filme, die in den Familien spielen, mit langen Auto­fahrten, viel Dialog, auch absurdem, und wenig Handlung: Sie haben sich zumindest in Rumänien etwas erschöpft. Das Rumä­ni­sche Film­fes­tival, das die Gesell­schaft zur Förderung der Rumä­ni­schen Kultur und Tradition seit etlichen Jahren unter Beratung des Kurators Klaus Volkmer vom Film­mu­seum München und des Film­kri­ti­kers Bert Rebhandl ausrichtet, duckt sich unter dieser neuen Entwick­lung nicht hinweg.

Orien­tie­rungs­lo­sig­keit in einer neuen globalen Ordnung

Seit Jahren schon hält das Genre Einzug, die Poli­zei­filme mit den erschöpften Kommis­saren, Erzäh­lungen über Selbst­justiz mit plötz­li­chen Gewalt­erup­tionen – für die tradi­tio­nell bürger­liche rumä­ni­sche Diaspora wie in München vermut­lich eine immer noch scho­ckie­rende Heraus­for­de­rung. Anschluss­fähiger sind dann wohl die eher mora­li­schen Lehr­s­tücke, die sich unter den neuen Produk­tionen ebenfalls finden lassen. Cristian Mungiu, der noch zur »ersten« Rumä­ni­schen Neue Welle gehört (bekannt wurde er mit dem Abtrei­bungs­drama 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage), ist, verein­facht gesagt, generell an mora­li­schen Wahr­heiten inter­es­siert. R.M.N., der in Cannes urauf­ge­führt und auf dem serbi­schen Festival von Palić zum besten Film gekürt wurde, gliedert sich da nahtlos ein. In seinem Zentrum steht eine doku­men­ta­ri­sche Anordnung. Eine west­deut­sche Schlach­terei muss aufgrund ihrer kata­stro­phalen Arbeits­be­din­gungen auslän­di­sche Kräfte entlassen – man denkt sofort an die Skan­dal­schlach­terei von Tönnies. Desori­en­tie­rung kommt auf, als die Haupt­figur zurück in der Heimat immer noch Deutsch spricht, Versatz­stücke zumindest, die sich mit dem Unga­ri­schen (der Geliebten) und dem Rumä­ni­schen (der Kinds­mutter) ablösen. Eine kauder­wel­sche Drei­spra­chig­keit zeigt sich da, und als drei Migranten aus Sri Lanka, die als Wander­ar­beiter nach Rumänien kommen, verirrt durch den Wald laufen und den »Osten« suchen, der für sie im Westen liegt, ist das Verwirr­spiel ob dieser neuen globalen Ordnung komplett. Auch muss man nicht nur wegen der Weih­nachts­zeit, zu der der Film spielt, an eine Anspie­lung an die bibli­schen Weisen aus dem Morgen­land denken. Die Kirche bzw. die Glau­bens­ge­mein­schaft wird im Weiteren noch eine sehr unchrist­liche Rolle einnehmen, denn die Migranten, die in der Groß­bä­ckerei des Ortes zum Mindest­lohn anheuern (2022 sind das in Rumänien 50 Cent), sollen nach Ansicht der Dorf­be­wohner wieder gehen – selbst wenn sie auch im Ausland, einem besser bezah­lenden, anheuern. Es ist die klas­si­sche Sünden­bock­ge­schichte und eine ein wenig zu offen­sicht­lich geführte Geschichte von falscher Moral und Frem­den­hass, der durch keine Argumente erreichbar ist. Und passt natürlich trefflich, als zynische Moritat, in die Weih­nachts­zeit.

Wie viele gute Filme des rumä­ni­schen Kinos schwingt sich R.M.N., benannt nach dem rumä­ni­schen Akronym für kern­ma­gne­ti­sche Resonanz, jedoch auch zu einer meta­pho­ri­schen Ebene auf. Die einmal erfol­gende Unter­su­chung im Kernspin offenbart unheil­volle weiße Flecken in der Gehirn­struktur; dazu kommt ein Franzose, der hier ist, um den sieben­bür­gi­schen Bären­be­stand zu kontrol­lieren. Außerdem hängen Schre­ckens­bot­schaften im örtlichen Wald, ein Mahnmal dafür, dass hier funda­mental die Welt aus den Fugen gerät.

Figu­ren­kosmos des Wahr­haf­tigen

Ähnliches vermutet man bei Miracol von Bogdan George Apetri, der außerdem mit Neiden­ti­ficat (Uniden­ti­fied) (2020) im Programm steht und damit den Cent­er­fold des Rumä­ni­schen Film­fes­ti­vals bildet. Miracol ist in zwei Teile unter­teilt, die jeweils eine andere Perspek­tive erzählen und wird schon allein damit in eine unsichere Erzähl­si­tua­tion gebettet. Im ersten Teil stiehlt sich eine Novizin aus dem Kloster, um sich in der nahe gelegenen Stadt einer gynä­ko­lo­gi­schen Unter­su­chung zu unter­ziehen. Auf dem Weg zurück ins Kloster ereignet sich ein entsetz­li­ches Verbre­chen, dem dann Polizist Marius mit zuneh­mender Beses­sen­heit und stel­len­weise eruptiver Gewalt nachgeht. Der Kontrast zwischen der Heiligen, dem Verbre­chen und dem skru­pel­losen Jäger ist zu Teilen auch Genre­er­fül­lung, zeugt aber auch von der Bereit­schaft, das Religiöse, Heilige und Unschul­dige von den Machen­schaften der Zeit konta­mi­nieren zu lassen. Auch hier drängen sich meta­pho­ri­sche Lesarten auf.

Miracol ist der zweite Teil einer Trilogie, die alle in Piatra Neamt, der Heimat­stadt des Regis­seurs Bogdan George Apetri spielen, Neiden­ti­ficat ihr Auftakt. Wieder ein Thriller, dessen Ausgangs­punkt diesmal eine Serie von Brand­an­schlägen auf Hotels in den Bergen bildet. Die beiden Teile der Trilogie hat Apetri nach dem Prinzip der »wieder­keh­renden Figuren« verkettet, mit dem einst Honoré de Balzac in seiner »Comédie humaine« das Seri­en­prinzip und den Spin-off erfand. Als Florin aus seinem Büro geht, trifft er auf den gewalt­tä­tigen Bullen Marius, der im zweiten Teil die Haupt­rolle innehaben wird. Balzac hat sein Unter­fangen dem »Effet de réel« zuge­rechnet: die Wahr­haf­tig­keit des Erzählten wird erhöht, wenn der Figu­ren­kosmos kohärent ist. Sehr präzise erzählt, ist Neiden­ti­ficat ein groß­ar­tiger Auftakt in die neue Welt eines verän­derten rumä­ni­schen Kinos. Man soll sich daher auf dem dies­jäh­rigen Rumä­ni­schen Film­fes­tival auf Entde­ckungen gefasst machen.

Rumä­ni­sches Film­fes­tival
10.-19. November 2022, Film­mu­seum München

Ein Programm des Film­mu­seum München in Zusam­men­ar­beit mit der Gesell­schaft zur Förderung der Rumä­ni­schen Kultur und Tradition e.V. München

Eintritt: ab 4 Euro
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