01.12.2022

Im Werden begriffen

Les roses et les bleus
Allez, les filles! Les roses et les bleus zeigt spannenden Mädchenfußball, und natürlich noch mehr
(Foto: Doxs! Duisburg)

doxs! – Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche in Duisburg präsentierte sich im November erstmals unter verjüngter Leitung

Von Christel Strobel

Der Gene­ra­ti­ons­wechsel im Team der Duis­burger Filmwoche sowie bei doxs! Doku­men­tar­filme für Kinder- und Jugend­liche, machte sich schon auf den ersten Blick bemerkbar: Zum dies­jäh­rigen »Motto mit Augen­zwin­kern« – »Im Werden begriffen« – wurden zwei neu gestal­tete origi­nelle Trailer präsen­tiert und damit ein Auftakt vor jedem Film der beiden Sektionen, der immer wieder gut beim Publikum ankam.

Ein weiteres Novum der 46. Filmwoche / 22. doxs! war eine gemein­same Eröffnung mit dem Film VLOG #8998 / Korean Karot­ten­ku­chen & Our Makeup Routine von Ji Su Kang-Gatto (Deutsch­land 2021, 46 Min.) Die in Südkorea geborene Regis­seurin kam als Zwei­jäh­rige mit ihren Eltern nach Deutsch­land und sagt: »Die Sprache, in der ich mich am besten ausdrü­cken kann, ist Deutsch.« Ihre neun Jahre jüngere Schwester hingegen wurde in Deutsch­land geboren, lebt aber seit dem siebten Lebens­jahr in Südkorea. In ihrem Film reflek­tiert Ji Su Kang-Gatto über dieses Aufwachsen in getrennten Welten, mit unter­schied­li­cher Schul­bil­dung, unter­schied­li­chem Geschichts­un­ter­richt und gesell­schaft­li­chen Werten, wozu auch die zeit­in­ten­sive routi­nierte Schön­heits­pflege der in Südkorea lebenden Schwester gehört und die der Regie führenden Schwester wiederum fremd sind. Aller­dings dominiert sie als Filme­ma­cherin und auch als Schwester und gibt viel Gesprächs­stoff für eine Diskus­sion nach dem Film.

Das ganze Gegenteil präsen­tierte Nest im Eröff­nungs­pro­gramm , ein zwan­zig­mi­nü­tiger Film von Hlynur Pálmason (Dänemark/Island) aus dem doxs!-Programm. Wir sehen einen Mast an einer menschen­leeren grünen Küste, auf der anderen Seite säumen hohe Berge das Meer. Der Mast bekommt eine Plattform, dann ein Häuschen oben drauf. Während di Jahres­zeiten dahin­gehen, Sturm, Regen und Schnee sich abwech­seln, das unter­schied­liche Licht ein Farben­spiel zaubert, geschieht rund um das »Nest« wenig. Manchmal grasen Ponys, manchmal schwärmen Vögel durch die Luft, man hört Kinder­stimmen und sieht ein paar Jungen, die oben auf dem Nest ihren Spiel­platz entdeckt haben, einmal stürzt ein Junge ab und man sieht ihn später mit Gipsbein zum Nest humpeln. Dieser geradezu medi­ta­tive Kurzfilm entstand über 18 Monate von ein und demselben Standort am Fenster des Filme­ma­chers Hlynur Pálmason, wo er von Zeit zu Zeit ein paar Meter drehte. Der Film entstand während der Pandemie-Zeit und ist ein außer­ge­wöhn­li­ches Zeugnis einer »still­ge­legten Zeit«.

Dieses gemein­same Programm mit der Duis­burger Filmwoche war ein Expe­ri­ment – Schul­klassen und die Besucher der Duis­burger Filmwoche waren dazu einge­laden – und es war ein Erfolg , der zur Fort­set­zung ermutigt.

Zwei Filme hatten Sport­arten zum Thema, die für Mädchen immer noch nicht selbst­ver­s­tänd­lich sind: Les roses et les bleus von Claudia Lopez Lucia (Frank­reich 2021, 23 Min.) – »Rugby ist kein Mädchen­sport«, das haben Aicha, Kimberlyn und Nelly schon oft gehört, aber diese drei selbst­be­wussten Spie­le­rinnen wider­legen die Meinung mit jedem Spiel, in das sie sich mit voller Kraft werfen. »Rugby packt dich total, deinen Körper, deinen Kopf. Es ist verrückt.« Ein inten­siver Film, der in 23 Min. die Leiden­schaft für diesen rauen Sport spüren lässt.

Girls Talk About Football von Paola Sorren­tino (Italien 2021, 7 Min.) – In animierten Szenen erzählen sechs Mädchen von ihren Erfah­rungen in der von Männern domi­nierten Fußball-Welt, aber auch von ihrem Einsatz auf dem Fußball­platz , den sie immer wieder vertei­digen müssen.

Ein liebens­werter Film aus der TV-Serie »Schau in meine Welt« von Marco Giaco­puzzi (Deutsch­land 2021, 26 Min.) entstand in der Schweiz und stellte Die 3 und ihr Schwy­zerör­geli vor. Es mag dem deutschen Publikum – nicht zuletzt aus dem Ruhr­ge­biet – schon exotisch anmuten, wenn Davis, Mika und Severin auf ihren Schwy­zerör­geli (eine landes­ty­pi­sche Version der Zieh­har­mo­nika) mit flinken Fingern und sicht­li­chem Vergnügen flotte Tanzmusik ebenso wie besinn­liche Weisen zum Klingen bringen. Und wie sie so über ihre Heimat in der impo­santen Bergwelt von Inter­laken in ihrem kehligen Dialekt (übersetzt in deutsche Unter­titel) und mit sympa­thi­schem Selbst­be­wusst­sein erzählen, ist es auch glaub­würdig, dass sie »noch nie Fernweh« hatten. Dann ist es ebenso vers­tänd­lich, dass diese drei »gstandnen« Jungen durchaus kritisch die Verän­de­rungen in ihrer Heimat sehen, denn »man muss nicht jeden Flecken Erde mit Touristen bevölkern.« Ein Stand­punkt, der hier nichts Heimat­tü­melndes hat und auch keine Vorbe­halte gegenüber den Fremden, sondern in seiner gelas­senen Selbst­ver­s­tänd­lich­keit überzeugt.

Schon zur Tradition geworden ist die Vergabe der »Großen Klappe«, gestiftet von Thomas Krüger, dem Präsi­denten der Bundes­zen­trale für poli­ti­sche Bildung, und vergeben von der doxs!-Jugend­jury (elf Personen). Die Jury vergab in diesem Jahr den mit 5000 Euro dotierten Preis an Milý Tati / Love, Dad von Diana Cam Van Nguyen (Tsche­chi­sche Republik 2021, 12 Min.)

»Ich will dich verstehen, wenn du mich lässt«, sagt Regis­seurin Diana Cam Vyn Hguyen in ihrem filmi­schen Brief an ihren Vater und knüpft damit an die Kommu­ni­ka­tion an, die beide prak­ti­zierten, als der Vater im Gefängnis saß. Doch nach seiner Haft­ent­las­sung verließ der Vater die Familie und gründete eine neue, um einen Sohn zu bekommen. Das schmerzte das Mädchen Diana und so ist ihr Film eine Abrech­nung mit der viet­na­me­si­schen Tradition, derzu­folge nur der Sohn das Erbe der Familie weiter­geben kann.

Die Jugend­jury war emotional sehr berührt und besonders beein­druckt von der Form des Films mit rhyth­misch animierten Teilen und Foto­gra­fien: »Durch seine außer­ge­wöhn­liche Ästhetik wirkt der Film wie ein Kunstwerk.« Thomas Krüger verband seinen Dank an die Jugend­jury mit dem Appell:

»Mit ihrer Auszeich­nung lenkt die Jugend­jury unseren Blick noch einmal explizit auf das Thema Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit und erinnert uns daran, dass wir selbst auf diesem Feld noch Nach­hol­be­darf haben.«

Seit 2016 vergibt die European Children’s Film Asso­cia­tion den ECFA Docu­men­tary Award.

Die Preis­ver­gabe an den Film Skolen ved havet / Die Schule am Meer von Solveig Melkeraaen (Norwegen 2021, 30 Min.) hat mich sehr gefreut, denn es war einer der nahe­ge­hendsten Doku­men­tar­filme des Programms: Zwei Kinder und ihre kleine, geradezu idyl­li­sche Schule im Norden Norwegens, in der drei Klassen zusammen unter­richtet werden. Die behörd­liche Entschei­dung, die Schule zum Ende des Schul­jahres zu schließen, verun­si­chert sie.

Aus der Begrün­dung der ECFA-Jury: »Wir erleben Thorvin und Tilde, die vor einer großen Verän­de­rung stehen, als ihre sehr kleine Schule geschlossen wird. Wir sind faszi­niert von den beiden jungen Prot­ago­nist:innen, die uns eine poli­ti­sche Geschichte aus ihrer Sicht erzählen und uns ihre Gedanken, Ideen und Sorgen mitteilen.
Der Film erzählt, wie Thorvin und Tilde durch Trau­rig­keit, Hoffnung, Opti­mismus und Mut gehen. Die beiden sind von unter­s­tüt­zenden Erwach­senen umgeben, müssen aber dennoch ihren Weg alleine gehen. Solveig Melkeraaen nutzt gekonnt filmische Heran­ge­hens­weisen, indem sie beispiels­weise damit spielt, was innerhalb eines Bild­aus­schnitts zu sehen ist und was nicht. Dabei bleibt sie stets auf Augenhöhe mit dem jungen Publikum. Ein empa­thi­scher und berüh­render Doku­men­tar­film.«

Die 21. doxs!-Ausgabe ist gelungen – ein abwechs­lungs­rei­ches Programm unter neuer Leitung (Tanja Tlatlik), ergänzt von den schon legen­dären, oft sehr lebhaften Film­ge­sprächen mit den Schul­klassen, nach wie vor konstruktiv wie einfühlsam geführt (Aycha Riffi) und aktiv begleitet von einem kommu­ni­ka­tiven Team. Dass das doxs-ruhr-Programm ab diesem Jahr ein eigen­s­tän­diges Event in den Städten des Ruhr­ge­biets unter Leitung von Gudrun Sommer ist, trägt zur Bedeutung des enga­gierten, poli­ti­schen Doku­men­tar­films bei. Eine kleine Terminän­de­rung bei doxs-ruhr würde hierzu noch mehr beitragen, nicht zuletzt für auswär­tige (Fach-)Besucher/innen.