Im Werden begriffen |
||
Allez, les filles! Les roses et les bleus zeigt spannenden Mädchenfußball, und natürlich noch mehr | ||
(Foto: Doxs! Duisburg) |
Von Christel Strobel
Der Generationswechsel im Team der Duisburger Filmwoche sowie bei doxs! Dokumentarfilme für Kinder- und Jugendliche, machte sich schon auf den ersten Blick bemerkbar: Zum diesjährigen »Motto mit Augenzwinkern« – »Im Werden begriffen« – wurden zwei neu gestaltete originelle Trailer präsentiert und damit ein Auftakt vor jedem Film der beiden Sektionen, der immer wieder gut beim Publikum ankam.
Ein weiteres Novum der 46. Filmwoche / 22. doxs! war eine gemeinsame Eröffnung mit dem Film VLOG #8998 / Korean Karottenkuchen & Our Makeup Routine von Ji Su Kang-Gatto (Deutschland 2021, 46 Min.) Die in Südkorea geborene Regisseurin kam als Zweijährige mit ihren Eltern nach Deutschland und sagt: »Die Sprache, in der ich mich am besten ausdrücken kann, ist Deutsch.« Ihre neun Jahre jüngere Schwester hingegen wurde in Deutschland geboren, lebt aber seit dem siebten Lebensjahr in Südkorea. In ihrem Film reflektiert Ji Su Kang-Gatto über dieses Aufwachsen in getrennten Welten, mit unterschiedlicher Schulbildung, unterschiedlichem Geschichtsunterricht und gesellschaftlichen Werten, wozu auch die zeitintensive routinierte Schönheitspflege der in Südkorea lebenden Schwester gehört und die der Regie führenden Schwester wiederum fremd sind. Allerdings dominiert sie als Filmemacherin und auch als Schwester und gibt viel Gesprächsstoff für eine Diskussion nach dem Film.
Das ganze Gegenteil präsentierte Nest im Eröffnungsprogramm , ein zwanzigminütiger Film von Hlynur Pálmason (Dänemark/Island) aus dem doxs!-Programm. Wir sehen einen Mast an einer menschenleeren grünen Küste, auf der anderen Seite säumen hohe Berge das Meer. Der Mast bekommt eine Plattform, dann ein Häuschen oben drauf. Während di Jahreszeiten dahingehen, Sturm, Regen und Schnee sich abwechseln, das unterschiedliche Licht ein Farbenspiel zaubert, geschieht rund um das »Nest« wenig. Manchmal grasen Ponys, manchmal schwärmen Vögel durch die Luft, man hört Kinderstimmen und sieht ein paar Jungen, die oben auf dem Nest ihren Spielplatz entdeckt haben, einmal stürzt ein Junge ab und man sieht ihn später mit Gipsbein zum Nest humpeln. Dieser geradezu meditative Kurzfilm entstand über 18 Monate von ein und demselben Standort am Fenster des Filmemachers Hlynur Pálmason, wo er von Zeit zu Zeit ein paar Meter drehte. Der Film entstand während der Pandemie-Zeit und ist ein außergewöhnliches Zeugnis einer »stillgelegten Zeit«.
Dieses gemeinsame Programm mit der Duisburger Filmwoche war ein Experiment – Schulklassen und die Besucher der Duisburger Filmwoche waren dazu eingeladen – und es war ein Erfolg , der zur Fortsetzung ermutigt.
Zwei Filme hatten Sportarten zum Thema, die für Mädchen immer noch nicht selbstverständlich sind: Les roses et les bleus von Claudia Lopez Lucia (Frankreich 2021, 23 Min.) – »Rugby ist kein Mädchensport«, das haben Aicha, Kimberlyn und Nelly schon oft gehört, aber diese drei selbstbewussten Spielerinnen widerlegen die Meinung mit jedem Spiel, in das sie sich mit voller Kraft werfen. »Rugby packt dich total, deinen Körper, deinen Kopf. Es ist verrückt.« Ein intensiver Film, der in 23 Min. die Leidenschaft für diesen rauen Sport spüren lässt.
Girls Talk About Football von Paola Sorrentino (Italien 2021, 7 Min.) – In animierten Szenen erzählen sechs Mädchen von ihren Erfahrungen in der von Männern dominierten Fußball-Welt, aber auch von ihrem Einsatz auf dem Fußballplatz , den sie immer wieder verteidigen müssen.
Ein liebenswerter Film aus der TV-Serie »Schau in meine Welt« von Marco Giacopuzzi (Deutschland 2021, 26 Min.) entstand in der Schweiz und stellte Die 3 und ihr Schwyzerörgeli vor. Es mag dem deutschen Publikum – nicht zuletzt aus dem Ruhrgebiet – schon exotisch anmuten, wenn Davis, Mika und Severin auf ihren Schwyzerörgeli (eine landestypische Version der Ziehharmonika) mit flinken Fingern und sichtlichem Vergnügen flotte Tanzmusik ebenso wie besinnliche Weisen zum Klingen bringen. Und wie sie so über ihre Heimat in der imposanten Bergwelt von Interlaken in ihrem kehligen Dialekt (übersetzt in deutsche Untertitel) und mit sympathischem Selbstbewusstsein erzählen, ist es auch glaubwürdig, dass sie »noch nie Fernweh« hatten. Dann ist es ebenso verständlich, dass diese drei »gstandnen« Jungen durchaus kritisch die Veränderungen in ihrer Heimat sehen, denn »man muss nicht jeden Flecken Erde mit Touristen bevölkern.« Ein Standpunkt, der hier nichts Heimattümelndes hat und auch keine Vorbehalte gegenüber den Fremden, sondern in seiner gelassenen Selbstverständlichkeit überzeugt.
Schon zur Tradition geworden ist die Vergabe der »Großen Klappe«, gestiftet von Thomas Krüger, dem Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung, und vergeben von der doxs!-Jugendjury (elf Personen). Die Jury vergab in diesem Jahr den mit 5000 Euro dotierten Preis an Milý Tati / Love, Dad von Diana Cam Van Nguyen (Tschechische Republik 2021, 12 Min.)
»Ich will dich verstehen, wenn du mich lässt«, sagt Regisseurin Diana Cam Vyn Hguyen in ihrem filmischen Brief an ihren Vater und knüpft damit an die Kommunikation an, die beide praktizierten, als der Vater im Gefängnis saß. Doch nach seiner Haftentlassung verließ der Vater die Familie und gründete eine neue, um einen Sohn zu bekommen. Das schmerzte das Mädchen Diana und so ist ihr Film eine Abrechnung mit der vietnamesischen Tradition, derzufolge nur der Sohn das Erbe der Familie weitergeben kann.
Die Jugendjury war emotional sehr berührt und besonders beeindruckt von der Form des Films mit rhythmisch animierten Teilen und Fotografien: »Durch seine außergewöhnliche Ästhetik wirkt der Film wie ein Kunstwerk.« Thomas Krüger verband seinen Dank an die Jugendjury mit dem Appell:
»Mit ihrer Auszeichnung lenkt die Jugendjury unseren Blick noch einmal explizit auf das Thema Geschlechtergerechtigkeit und erinnert uns daran, dass wir selbst auf diesem Feld noch Nachholbedarf haben.«
Seit 2016 vergibt die European Children’s Film Association den ECFA Documentary Award.
Die Preisvergabe an den Film Skolen ved havet / Die Schule am Meer von Solveig Melkeraaen (Norwegen 2021, 30 Min.) hat mich sehr gefreut, denn es war einer der nahegehendsten Dokumentarfilme des Programms: Zwei Kinder und ihre kleine, geradezu idyllische Schule im Norden Norwegens, in der drei Klassen zusammen unterrichtet werden. Die behördliche Entscheidung, die Schule zum Ende des Schuljahres zu schließen, verunsichert sie.
Aus der Begründung der ECFA-Jury: »Wir erleben Thorvin und Tilde, die vor einer großen Veränderung stehen, als ihre sehr kleine Schule geschlossen wird. Wir sind fasziniert von den beiden jungen Protagonist:innen, die uns eine politische Geschichte aus ihrer Sicht erzählen und uns ihre Gedanken, Ideen und Sorgen mitteilen.
Der Film erzählt, wie Thorvin und Tilde durch Traurigkeit, Hoffnung, Optimismus und Mut gehen. Die beiden sind von unterstützenden Erwachsenen umgeben,
müssen aber dennoch ihren Weg alleine gehen. Solveig Melkeraaen nutzt gekonnt filmische Herangehensweisen, indem sie beispielsweise damit spielt, was innerhalb eines Bildausschnitts zu sehen ist und was nicht. Dabei bleibt sie stets auf Augenhöhe mit dem jungen Publikum. Ein empathischer und berührender Dokumentarfilm.«
Die 21. doxs!-Ausgabe ist gelungen – ein abwechslungsreiches Programm unter neuer Leitung (Tanja Tlatlik), ergänzt von den schon legendären, oft sehr lebhaften Filmgesprächen mit den Schulklassen, nach wie vor konstruktiv wie einfühlsam geführt (Aycha Riffi) und aktiv begleitet von einem kommunikativen Team. Dass das doxs-ruhr-Programm ab diesem Jahr ein eigenständiges Event in den Städten des Ruhrgebiets unter Leitung von Gudrun Sommer ist, trägt zur Bedeutung des engagierten, politischen Dokumentarfilms bei. Eine kleine Terminänderung bei doxs-ruhr würde hierzu noch mehr beitragen, nicht zuletzt für auswärtige (Fach-)Besucher/innen.