Filmexplosionen |
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»Elektrisierende Träume«: Valentina Maurels Familienaufstellung aus Costa Rica | ||
(Foto: IFFMH / Valentina Maurel) |
Das Internationale Filmfestival Mannheim Heidelberg (IFFMH) ging am Sonntag 27.11.2022 zu Ende. Man kann sagen: die hohen Erwartungen, die die Ausgabe aus Anlass des 70-jährigen Bestehens im letzten Jahr geweckt hatte, wurden wieder erfüllt. Die Bilanz, die von Festivalseite aus gezogen wird, konnte zudem unter dem Strich auch eine Verdoppelung der Zuschauerzahlen pro Vorführung verbuchen: die Rückkehr in die Kinos nach den starken Einschränkungen, die letztes Jahr noch galten, ist damit nicht nur insgesamt eine gute Nachricht. Auch das IFFMH kann sich in seiner Programmierung und Festivalstrategie durch das Publikum vor Ort voll bestätigt sehen.
Das Festival richtet sich ganz bewusst international aus. Das ist nicht nur an der Bestückung des anspruchsvollen Programms zu erkennen, sondern auch in der bilingualen Ansprache der Zuschauer*innen bei der Präsentation der Filme im Kino und im Katalog. Das Festival gibt sich da ganz weltläufig. Die Anwesenheit der mehr als 100 Gäste aus den Filmteams unterstreicht diese internationale Ausrichtung. Und der vor Ort gewonnene Eindruck eines lebhaften Zuspruchs durch die Zuschauer*innen ließ ein geglücktes Festival erleben, das auch seine Bodenhaftung an die Städte Mannheim und Heidelberg und eine Verankerung in der Region unter Beweis zu stellen vermochte.
Das Programm mit seinen insgesamt 30 Deutschlandpremieren trägt eine klare kuratorische Handschrift, die sich insbesondere in den beiden Hauptsektionen »On the Rise« (mit ersten und zweiten Filmen von Regisseur*innen) und »Pushing the Boundaries« ausprägt. Hier wird im Grunde auf dem Konzept des Autorenkinos operiert, das jedoch keineswegs dogmatisch ausgelegt wird. Insbesondere in der Sektion »Pushing the boundaries« (mit sieben Deutschlandpremieren) mit bereits etablierten Namen werden die Beschränkungen von Formaten zwischen Genre und Autorenkino ausgereizt.
Ob das Altmeister Walter Hill mit dem Neowestern Dead for a Dollar oder Vertreter eines ausschweifenden Erzählens wie Lav Diaz mit When the Waves are Gone oder Albert Serra mit »Pacifiction« sind: hier wird das Erzählbare ausgereizt, hier werden den Zuschauer*innen Intensitäten geboten, die Gewohnheiten des Sehens hintertreiben.
In Blanquita von Fernando Guzzoni aus Chile etwa erzeugt die Kamera von Benjamín Echazarreta eine bedrückende Enge und Düsternis in den Einstellungen, wie sie Pablo Larraíns Kameramann Sergio Armstrong in El Club kaum beklemmender hinbekommen hat. Guzzoni spürt einem Fall des Missbrauchs von Minderjährigen nach, in den angesehene Senatoren der chilenischen Politprominenz verwickelt sind mit Verzweigungen, die bis in die Pinochet-Diktatur zurückreichen. Die Titelfigur Blanquita und der sich für jugendliche Delinquenten engagierende Pater Manuel (Alejandro Goic in einer an Denis Lavant gemahnenden desperaten Performance) reklamieren dabei eine Wahrheit der Opfer für sich, die nicht unbedingt mit den nachprüfbaren Fakten übereinstimmt. So machen sie sich angreifbar und werden durch eine skandalgierige Medienkampagne unglaubwürdig gemacht. Der Film zeichnet letztlich eine aufwühlende Erfahrung nach, der Gerechtigkeit durch die offiziellen Institutionen schier unmöglich scheint. Die Grenzen, an die man hier geführt wird, lassen sich nur noch in Richtung Selbstjustiz überschreiten, ein Thema, das im chilenischen Kino häufiger aufkommt (nachdrücklich bereits 2014 in Matar a un hombre von Alejandro Fernández Almendras).
Ein Beispiel für Grenzverschiebungen innerhalb des Genres des phantastischen Films ist der spanische Film Manticore von Carlos Vermut. Dies ist ein Film auf den Spuren des frühen Alejandro Amenábar. Wie in dessen Tesis – Faszination des Grauens wird ganz aus der nah bei den Figuren bleibenden Erzählung ein subtiler Thrill entwickelt. Die Bilder strahlen eine kalte, glatte Eleganz aus. Sie ist Ausdruck der unüberwindbaren inneren Distanz, die der junge Gamedesigner Julián zu seiner Umwelt empfindet. Die mit 3D-Brille und am PC entwickelten Monster und Gruselwesen für Videospiele lassen ihn in eine wie von Goyas düstersten Visionen bevölkerte Welt abtauchen. Wenn man von außen Julián bei seinen Augmented-Reality-Moves beobachtet, hält einen der Film auf geschickte Weise draußen und gibt dabei doch eine Ahnung von dem, was in ihm vorgeht. Der titelgebende Mantikor, ein aus dem antiken Persien überliefertes Fabelwesen – ein verfremdeter Tiger – bleibt ungreifbar und geistert durch diesen Film immer nur zwischen den Bildern, ohne jemals an konkreter Gestalt zu gewinnen – ganz wie das uneingestehbare Begehren, dem Julián in selbst auf die Spur kommt. Den Zuschauer*innen wird tatsächlich einiges abverlangt, wenn sie Julián bei der unwillkürlichen Entdeckung seiner pädophilen Neigungen folgen sollen. Ganz vermag der Film einen gewissen spekulativen Touch nicht abzulegen: eine Gratwanderung des Psychothrills, der nichts auszubuchstabieren braucht und umso ungemütlicher unter die Haut kriecht. Wie Julián sein Begehren erfolgreich zu kanalisieren versucht und doch dabei zu scheitern droht – das ist schon sehr creepy und wird insofern dem Titel der Sektion »Pushing the boundaries« mehr als gerecht.
»On the Rise« mit den ersten und zweiten Filmen aufstrebender Namen ist die zentrale Wettbewerbssektion des Festivals mit 16 Deutschlandpremieren. Hier kommen auch Kinematographien zum Zug, die oftmals unbeachtet bleiben. So gab es den Publikumspreis für den pakistanischen Joyland von Saim Sadiq. Mit den Hauptpreisen prämierte die Jury (namhaftes Mitglied war etwa Mohsen Makhmalbaf) Filme aus Tunesien (Rainer Werner Fassbinder Award für Ashkal von Youssef Chebbi) und aus Mazedonien (International Newcomer Award für You won’t be alone). Ein Film aus dem Sudan (The Dam von Ali Cherri) erhielt eine lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury.
Auch eine lobende Erwähnung, von der Jury zum International Newcomer Award, erhielt Wolf and Dog von der Portugiesin Cláudia Varejão. Deren auf den Azoren spielender Film hat eine fast ethnographische Herangehensweise. Die exponierten, wie ausgesetzt wirkenden Inseln bieten den dort Lebenden nur beschränkte Arbeits- und Entfaltungsmöglichkeiten. Zwischen den eng gesetzten Grenzen eines tiefen Katholizismus und der familiären Bindungen versucht die junge Ana sich zu orientieren. Eine Reihe von queeren Freunden und Freundinnen öffnen ihr neue Perspektiven, lassen sie aber auch schmerzhaft ans Vertraute stoßen. Aufregend an diesem Film sind vor allem die Performances der queeren Community, die als kleine Clips die Erzählökonomie des Films geradezu verschwenderisch bereichern. Sie nehmen Anleihen bei den inbrünstigen katholischen Riten und Zeremonien, verschmelzen mit diesen in einer in diesem Kontext besonders verblüffenden Camp-Ästhetik. Der Clash zwischen den Konventionen der Alten und den Bedürfnissen der Jungen nach neuen Horizonten ist aber letztlich nicht zu versöhnen. Eindrücklich gibt Varejão mit ihren Laiendarstellern ein Bild von der Notwendigkeit eines Auf- und Ausbruchs.
Neben den vielen sehenswerten und wirklich vielversprechenden Filmen aus der Sektion »On the Rise« wie dem wunderbaren The Maiden von Graham Foy aus Kanada (mit dem Fipresci-Preis bedacht) oder dem geradezu schon meisterhaften Astrakan des Franzosen David Depesseville gab es auch aus Lateinamerika ein beeinduckendes Newcomer-Werk zu sehen, aus einem Land, das eher selten mit Filmproduktionen aufwartet: aus Costa Rica kam I have electric dreams von Valentina Maurel.
Ein explosives Familiendrama, in dem die Heranwachsende Eva zwischen Vater und Mutter steht. Der Vater flüchtet bei emotionalen Konflikten immer wieder in unkontrollierbare Gewaltausbrüche, die zu einer unversöhnlichen Trennung mit der Mutter führen. Eva will aber ihre Bindung an den Vater nicht aufgeben und sogar zu ihm ziehen. Doch der schafft es nicht, eine entsprechende Wohnung zu finden und lebt bei einem Freund aus früheren Zeiten, der es aber auch nicht über eine verkrachte Künstlerexistenz hinausgebracht hat. Auch der Vater hat Ambitionen als Lyriker, der Titel des Films zitiert eines seiner Gedichte. Eva treibt ihn immer wieder zur Wohnungssuche, begleitet seine ersten Versuche bei Poesieworkshops und versucht sich so, beim Erwachsenwerden auch von ihrer Mutter und der kleinen Schwester abzugrenzen. Bestechend an dieser Coming-of-Age-Geschichte (wenn man denn den Film so verorten möchte) ist aber die soziale Energie, die zwischen den schmerzlich impulsiv und heftig aufeinander reagierenden Figuren ausgetragen wird. Unmerklich und ganz wie nebenbei kommt dazu über die Milieus und Stadträume, die die Figuren durchqueren, eine über die persönlichen Verhältnisse hinausgehende Energie ins Spiel, eine die die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse durchwirkt und die hier in dem Film ein Land erkennen lassen, das nichts mit der Schweiz Mittelamerikas zu tun, als die Costa Rica immer wieder bezeichnet wird. Dem Film gelingt diese soziopolitische Diagnose auf bestechend unangestrengte Weise, indem er sich eines halbdokumentarischen Stils bedient, der sich direkt dem Schauspiel der unglaublich intensiv agierenden Darsteller*innen anschmiegt (der Film erhielt in Locarno nicht nur einen Regiepreis, sondern auch die Preise für die beste Darstellerin und den besten Darsteller) und dabei prägnant die Umgebung um sie herum als konkreten physischen Aktionsradius einbezieht.
Die Filme, die hier beim Filmfestival Mannheim Heidelberg zusammenkommen, stammen aus internationalen Festivals, insbesondere aus verschiedenen Programmsektionen in Cannes, Locarno oder Venedig. Auch wenn man sie deswegen oder auch von anderen Festivals wie der Wiener Viennale schon kennen sollte, so wirken sie hier doch wieder in ein ganz eigenes Gefüge eingebunden. So werden wieder neue Facetten an ihnen zur Geltung gebracht, kommen auf unerwartete Weise ins Gespräch miteinander. Und sieht man sie wie wohl der Großteil des Mannheim-Heidelberger Publikums zum ersten Mal, so kann man gewiss sein, eine mit sicherer Hand zusammengestellte Auswahl an kinematographischen Highlights und in die Zukunft weisenden Verheißungen des Kinos angeboten zu bekommen.