Das Kino ist zurück |
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Die Blumen des Lebens: Christophe Honorés Der Gymnasiast | ||
(Foto: Salzgeber) |
Von Dunja Bialas
Dem Programm könnte man sich, ginge es nicht um Kino, blind anvertrauen. Das internationale Filmfestival Mannheim Heidelberg (IFFMH) präsentierte in seiner 71. Ausgabe zum dritten Mal in Folge sein runderneuertes Newcomer-Konzept: Auf den großen Festivals der Welt sucht es nach interessanten neuen Stimmen des Kinos – wobei erst noch geklärt werden muss, was überhaupt »interessant« bedeutet. Vor dem Antritt von Sascha Keilholz im Corona-Jahr 2020 als neuer Festivalleiter waren dies Filme als Sprachrohre für drängende Themen des Planeten. Mit der neuen Leitung wird Relevanz jedoch eher als künstlerisch gestalteter Diskursraum aufgefasst. Für Festivalleiter Sascha Keilholz und Programmkoordinator Frédéric Jaeger ist dies die anthropologische Sanftheit im Sinne einer tieferen Humanität, die Neuordnung von Lebensformen im Sinne von Diversity, Patchwork oder Queerness – und die ästhetische Überzeugungskraft, mit Walter Benjamin gesprochen der »Chock« des Kunstwerks: »Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chock-Wirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren.« Geschrieben hat Benjamin dies unter dem Eindruck der Lektüre von Baudelaires Großstadtlyrik »Les Fleurs du mal«.
Das Setting scheint ideal für den Anspruch des Festivals, gehört Mannheim doch zu den wenigen urbanen Städten der alten Bundesrepublik. Hier spielt sich das Leben im Planquadrat einer ungewöhnlichen Barock-Innenstadt ab. Die 144 Mannheimer Quadrate beherbergen eine hohe Dichte an türkischer Lebenskultur, von feinen Baklava-Konditoren über Spezialitätenrestaurants bis hin zu den üblichen City-Dönerläden und Billig-Klamottenläden. Dazwischen finden sich immer wieder Kino-Kleinodien, besonders ist hier das Atlantis zu erwähnen, das mit ovalem Auditorium konzentrierte Blicke auf die Leinwand verordnet.
Nicht nur die Nähe Mannheims zu Frankreich motiviert die vielen französischen Filme im Programm. Die Programmer Keilholz und Jaeger sind selbst frankophil und -phon, außerdem findet mit Cannes das wichtigste Festival der Welt ebenfalls in Frankreich statt, mit einer unverhohlenen Feier der eigenen Kinonation. Und der französische Film findet auch heute noch zu immer neuen Stimmen, was auch die Auszeichnung von Alice Winocour mit dem Grand IFFMH Award würdigte (siehe unser Bericht).
Emmanuel Mourets launige Chronique d’une liaison passagère eröffnete das Festival mit dem großartigen Schauspieler Vincent Macaigne (hier unser Interview). Die Leichtigkeit der nahezu durchgehend als Kammerspiel ausgetragenen Screwball-Komödie war zugleich auch programmatischer Auftakt für ein Festival, das das Reden über Film mit Lust und Laune vorantreibt, nicht zuletzt in einstündigen Master Classes zu Alice Winocour und DOP Benoît Debie, der Filme von Gaspard Noé (Love), Harmony Korine (Spring Breakers) oder Fabrice du Welz (Vinyan) fotografiert hat.
Die Würdigung des großformatigen Bildgestalters erinnert auch daran, dass die Sprache des Kinos eine der Kadrierungen, Plansequenzen, Montage und des Unausgesprochenen und Unaussprechlichen ist. Einer der berückendsten Filme des IFFMH war das wortkarge Langfilmdebüt The Maiden des Kanadiers Graham Foy, der im internationalen Wettbewerb »On the Rise« zu sehen war und mit dem Preis der Fipresci ausgezeichnet wurde. Denn immer noch gilt, auch wenn Mannheim neuerdings das Label »Newcomer« vermeidet, dass das Festival weiterhin den aufstrebenden Autor*innen des Weltkinos verpflichtet ist. Filme einer nachwachsenden Generation zu zeigen, weist zwangsläufig in die Zukunft, und so hat die Tätigkeitsbeschreibung, ein Filmschaffen im Aufbruch zu versammeln, immer auch den Anspruch, als Plattform selbst Avantgarde zu sein.
The Maiden ist ein melancholischer Skaterfilm, ist Coming of Age in der kanadischen Provinz, eingefangen in einer sich selbst überlassenen Landschaft, von wucherndem Unkraut, unbeaufsichtigten Bahnstrecken und nicht fertigen Rohbauten. Bevor hier das Leben so richtig anheben kann, ist es auch schon vorbei. Die Szenen in den Fluren der Highschool erinnern unweigerlich an Gus van Sant. Diese Jugend sucht die Gefahr, den Kick oder einfach nur die eigene Spur, als Graffito-Tag »Maiden« verewigt. Maiden. Mit dem Verlust des Freundes tut sich neben der existentiellen auch eine narrative Lücke auf, und es ist überaus aufregend zu erleben, wie sich der Film einer anderen Figur zuwendet, sie in die Lücke des Lebens zu schieben weiß, aber ohne abschließend zu klären, ob sich dadurch nicht nur wieder eine weitere Leerstelle auftun wird: das titelgebende »Maiden« konkretisiert sich im zweiten Teil des Films in Gestalt eines pickligen und buckligen Mädchens, Außenseiterin und Ausgestoßene in einer Welt, die nicht zu ihr passt. Die junge Kamerafrau und Fotografin Kelly Jeffrey hat den Film auf wunderschönem 16mm gefilmt – als eine Feier des pulsierenden Einsseins mit der materiellen Existenz.
Die Americana übersetzt sich in Mannheim neben Kanada auch auf den südamerikanischen Kontinent. Wenig bekannt ist immer noch das Filmschaffen aus Costa Rica, und einer der erfrischendsten und frechsten Filme des Wettbewerbs war Valentina Maurels I Have Electric Dreams über eine zärtliche und gleichermaßen toxische Vater-Tochter-Beziehung. Über Mütter und Töchter wurden schon viele Filme gemacht, sagt in Mannheim die energiegeladene Schauspielerin Daniela Marín Navarro, die in Locarno mit dem Preis für die Beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. Über das Verhältnis von Vater und Tochter aber gebe es kaum Filme und schon gar nicht über die libidinöse Gefahr. Bei Valentina Maurel hat die Mutter den Vater vor die Tür gesetzt, weil dieser seine Gewalttätigkeit nicht in den Griff bekommt. Die ältere der beiden Töchter ist genervt von der Grundschul-Esoterik, die die kreative Mutter im zu renovierenden Haus (mitsamt neuem Lover) verbreitet. Eva zieht es unweigerlich zum cooleren Papa hin, der versucht, als Schriftsteller Fuß zu fassen. Die Salon-Abende bei ihm beinhalten Rausch, Gitarrenspiel, Lyrik-Deklamationen und mehr, nicht nur für Heranwachsende ist das interessant. Valentina Maurel gelingt ein Sittenportrait der costa-ricanischen Gesellschaft, die sich zugleich in Aufbruch und Zerfall befindet. Hier ist das Leben brüchig, ungewiss, allein das Streben nach Sexualität und Selbstbestimmtheit gibt die Zeitachse vor. Und immer sind die Protagonisten on the edge – oder auch on the rise, um den Titel des Wettbewerbs aufzugreifen, in dem der Film zu sehen war.
Die Konzentration des preisgekrönten, jungen Filmschaffens von den bedeutenden Festivals der Welt erschöpft sich beim IFFMH jedoch nicht in einem »Best of Festivals«, wie man angesichts der programmierten Titel vielleicht vermuten könnte. Keilholz und Jaeger schürfen tiefer: Sie sind auf der Suche nach einem Erzählkino der Non-Konformität, der Brüche, der Leerstellen. Gerade im narrativen Kino, auf das sie ihr Programm konzentrieren, ist dies auch eine Herausforderung, will man dem Publikum überzeugend von einer anderen Art des Kinos berichten. Da ist es mit dem Experiment oder dem Ikonoklasmus nicht getan, da muss man neue Türen aufstoßen und es mit den großen Filmerzählungen aufnehmen können. Wie dies Chantal Akerman mit Jeanne Dielman als ihrem zweiten Langfilm gelang, der jetzt von der britischen Filmzeitschrift »Sight and Sound« zum besten Film der Kinogeschichte gekürt wurde.
Viele der im Wettbewerb gezeigten Filme eröffnen einen Blick in die Zukunft des Kinos. David Depessevilles Astrakan (Frankreich), Saim Sadiqs Joyland (Pakistan) oder Cláudia Varejãos Wolf and Dog (Portugal) können hier nur Platzhalter sein.
Das IFFMH gibt sich aber nicht mit dem Ausblick auf Zukunft zufrieden. Auch in der Vergangenheit gab es natürlich immer schon die Filmemacher on the rise. Heute sind sie etabliert und machen im besten Fall immer noch aufregendes Kino. Die Reihe, in der sich Namen wie Walter Hill, Valeria Bruni Tedeschi, Dominik Moll, Albert Serra, Lav Diaz oder auch Alice Winocour versammeln, heißt »Pushing the boundaries«. Zu ihnen gehört auch Christophe Honoré, der mit Le Lycéen (ab März im Kino als Der Gymnasiast) einen der spannendsten Filme der Sektion vorlegte. Aufregend ist allein schon Paul Kircher, der als Lucas seine erste Hauptrolle übernimmt (und auf dem Festival von San Sebastián als Bester Darsteller ausgezeichnet wurde). Mit Resonanzen an André Téchinés Ich küsse nicht (1991) erzählt der Film vom 17-jährigen Lucas, der sich in Paris in Extremsituationen begibt. Nach dem Unfalltod seines Vaters (gespielt von Christophe Honoré), fordert er die existentiellen Grenzen in einem intensiven Sex-Spiel heraus.
Was jenseits dieser libidnösen Entladungen der 71. Ausgabe des IFFMH Erleichterung verschaffte, war: das Publikum war von den Corona-Zwängen befreit. Was sich noch im Jahr zuvor als Zitterpartie ausnahm – kann und will sich Mannheim / Heidelberg auf diese geballte Hochkultur des Kinos einlassen? – fand dieses Jahr Erfüllung: ein neugieriges, ortsansässiges Publikum sah sich die Filme an. Und, ja: Das Kino ist zurück. Wie das gehen kann, macht Mannheim vor.