08.12.2022

Das Kino ist zurück

Der Gymnasiast
Die Blumen des Lebens: Christophe Honorés Der Gymnasiast
(Foto: Salzgeber)

Das 71. Internationale Filmfestival Mannheim Heidelberg zeigt hochkarätige Newcomer-Filme und setzt neue Maßstäbe in der Programmierung

Von Dunja Bialas

Dem Programm könnte man sich, ginge es nicht um Kino, blind anver­trauen. Das inter­na­tio­nale Film­fes­tival Mannheim Heidel­berg (IFFMH) präsen­tierte in seiner 71. Ausgabe zum dritten Mal in Folge sein rund­erneu­ertes Newcomer-Konzept: Auf den großen Festivals der Welt sucht es nach inter­es­santen neuen Stimmen des Kinos – wobei erst noch geklärt werden muss, was überhaupt »inter­es­sant« bedeutet. Vor dem Antritt von Sascha Keilholz im Corona-Jahr 2020 als neuer Festi­val­leiter waren dies Filme als Sprach­rohre für drängende Themen des Planeten. Mit der neuen Leitung wird Relevanz jedoch eher als künst­le­risch gestal­teter Diskurs­raum aufge­fasst. Für Festi­val­leiter Sascha Keilholz und Programm­ko­or­di­nator Frédéric Jaeger ist dies die anthro­po­lo­gi­sche Sanftheit im Sinne einer tieferen Humanität, die Neuord­nung von Lebens­formen im Sinne von Diversity, Patchwork oder Queerness – und die ästhe­ti­sche Über­zeu­gungs­kraft, mit Walter Benjamin gespro­chen der »Chock« des Kunst­werks: »Der Film ist die der gestei­gerten Lebens­ge­fahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entspre­chende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chock-Wirkungen auszu­setzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedro­henden Gefahren.« Geschrieben hat Benjamin dies unter dem Eindruck der Lektüre von Baude­laires Groß­stadt­lyrik »Les Fleurs du mal«.

Chock in Mannheim

Das Setting scheint ideal für den Anspruch des Festivals, gehört Mannheim doch zu den wenigen urbanen Städten der alten Bundes­re­pu­blik. Hier spielt sich das Leben im Plan­qua­drat einer unge­wöhn­li­chen Barock-Innen­stadt ab. Die 144 Mann­heimer Quadrate beher­bergen eine hohe Dichte an türki­scher Lebens­kultur, von feinen Baklava-Kondi­toren über Spezia­li­tä­ten­re­stau­rants bis hin zu den üblichen City-Döner­läden und Billig-Klamot­ten­läden. Dazwi­schen finden sich immer wieder Kino-Klein­odien, besonders ist hier das Atlantis zu erwähnen, das mit ovalem Audi­to­rium konzen­trierte Blicke auf die Leinwand verordnet.

Nicht nur die Nähe Mannheims zu Frank­reich motiviert die vielen fran­zö­si­schen Filme im Programm. Die Programmer Keilholz und Jaeger sind selbst fran­ko­phil und -phon, außerdem findet mit Cannes das wich­tigste Festival der Welt ebenfalls in Frank­reich statt, mit einer unver­hoh­lenen Feier der eigenen Kino­na­tion. Und der fran­zö­si­sche Film findet auch heute noch zu immer neuen Stimmen, was auch die Auszeich­nung von Alice Winocour mit dem Grand IFFMH Award würdigte (siehe unser Bericht).

Emmanuel Mourets launige Chronique d’une liaison passagère eröffnete das Festival mit dem großar­tigen Schau­spieler Vincent Macaigne (hier unser Interview). Die Leich­tig­keit der nahezu durch­ge­hend als Kammer­spiel ausge­tra­genen Screwball-Komödie war zugleich auch program­ma­ti­scher Auftakt für ein Festival, das das Reden über Film mit Lust und Laune voran­treibt, nicht zuletzt in eins­tün­digen Master Classes zu Alice Winocour und DOP Benoît Debie, der Filme von Gaspard Noé (Love), Harmony Korine (Spring Breakers) oder Fabrice du Welz (Vinyan) foto­gra­fiert hat.

Melan­cholie der Skater

Die Würdigung des groß­for­ma­tigen Bild­ge­stal­ters erinnert auch daran, dass die Sprache des Kinos eine der Kadrie­rungen, Plan­se­quenzen, Montage und des Unaus­ge­spro­chenen und Unaus­sprech­li­chen ist. Einer der berü­ckendsten Filme des IFFMH war das wortkarge Lang­film­debüt The Maiden des Kanadiers Graham Foy, der im inter­na­tio­nalen Wett­be­werb »On the Rise« zu sehen war und mit dem Preis der Fipresci ausge­zeichnet wurde. Denn immer noch gilt, auch wenn Mannheim neuer­dings das Label »Newcomer« vermeidet, dass das Festival weiterhin den aufstre­benden Autor*innen des Weltkinos verpflichtet ist. Filme einer nach­wach­senden Genera­tion zu zeigen, weist zwangs­läufig in die Zukunft, und so hat die Tätig­keits­be­schrei­bung, ein Film­schaffen im Aufbruch zu versam­meln, immer auch den Anspruch, als Plattform selbst Avant­garde zu sein.

The Maiden ist ein melan­cho­li­scher Skater­film, ist Coming of Age in der kana­di­schen Provinz, einge­fangen in einer sich selbst über­las­senen Land­schaft, von wucherndem Unkraut, unbe­auf­sich­tigten Bahn­stre­cken und nicht fertigen Rohbauten. Bevor hier das Leben so richtig anheben kann, ist es auch schon vorbei. Die Szenen in den Fluren der High­school erinnern unwei­ger­lich an Gus van Sant. Diese Jugend sucht die Gefahr, den Kick oder einfach nur die eigene Spur, als Graffito-Tag »Maiden« verewigt. Maiden. Mit dem Verlust des Freundes tut sich neben der exis­ten­ti­ellen auch eine narrative Lücke auf, und es ist überaus aufregend zu erleben, wie sich der Film einer anderen Figur zuwendet, sie in die Lücke des Lebens zu schieben weiß, aber ohne abschließend zu klären, ob sich dadurch nicht nur wieder eine weitere Leer­stelle auftun wird: das titel­ge­bende »Maiden« konkre­ti­siert sich im zweiten Teil des Films in Gestalt eines pickligen und buckligen Mädchens, Außen­sei­terin und Ausge­stoßene in einer Welt, die nicht zu ihr passt. Die junge Kame­ra­frau und Foto­grafin Kelly Jeffrey hat den Film auf wunder­schönem 16mm gefilmt – als eine Feier des pulsie­renden Einsseins mit der mate­ri­ellen Existenz.

Kino der Non-Konfor­mität

Die Americana übersetzt sich in Mannheim neben Kanada auch auf den südame­ri­ka­ni­schen Kontinent. Wenig bekannt ist immer noch das Film­schaffen aus Costa Rica, und einer der erfri­schendsten und frechsten Filme des Wett­be­werbs war Valentina Maurels I Have Electric Dreams über eine zärtliche und glei­cher­maßen toxische Vater-Tochter-Beziehung. Über Mütter und Töchter wurden schon viele Filme gemacht, sagt in Mannheim die ener­gie­ge­la­dene Schau­spie­lerin Daniela Marín Navarro, die in Locarno mit dem Preis für die Beste Darstel­lerin ausge­zeichnet wurde. Über das Verhältnis von Vater und Tochter aber gebe es kaum Filme und schon gar nicht über die libi­dinöse Gefahr. Bei Valentina Maurel hat die Mutter den Vater vor die Tür gesetzt, weil dieser seine Gewalt­tä­tig­keit nicht in den Griff bekommt. Die ältere der beiden Töchter ist genervt von der Grund­schul-Esoterik, die die kreative Mutter im zu reno­vie­renden Haus (mitsamt neuem Lover) verbreitet. Eva zieht es unwei­ger­lich zum cooleren Papa hin, der versucht, als Schrift­steller Fuß zu fassen. Die Salon-Abende bei ihm beinhalten Rausch, Gitar­ren­spiel, Lyrik-Dekla­ma­tionen und mehr, nicht nur für Heran­wach­sende ist das inter­es­sant. Valentina Maurel gelingt ein Sitten­por­trait der costa-rica­ni­schen Gesell­schaft, die sich zugleich in Aufbruch und Zerfall befindet. Hier ist das Leben brüchig, ungewiss, allein das Streben nach Sexua­lität und Selbst­be­stimmt­heit gibt die Zeitachse vor. Und immer sind die Prot­ago­nisten on the edge – oder auch on the rise, um den Titel des Wett­be­werbs aufzu­greifen, in dem der Film zu sehen war.

Die Konzen­tra­tion des preis­ge­krönten, jungen Film­schaf­fens von den bedeu­tenden Festivals der Welt erschöpft sich beim IFFMH jedoch nicht in einem »Best of Festivals«, wie man ange­sichts der program­mierten Titel viel­leicht vermuten könnte. Keilholz und Jaeger schürfen tiefer: Sie sind auf der Suche nach einem Erzähl­kino der Non-Konfor­mität, der Brüche, der Leer­stellen. Gerade im narra­tiven Kino, auf das sie ihr Programm konzen­trieren, ist dies auch eine Heraus­for­de­rung, will man dem Publikum über­zeu­gend von einer anderen Art des Kinos berichten. Da ist es mit dem Expe­ri­ment oder dem Ikono­klasmus nicht getan, da muss man neue Türen aufstoßen und es mit den großen Film­erzäh­lungen aufnehmen können. Wie dies Chantal Akerman mit Jeanne Dielman als ihrem zweiten Langfilm gelang, der jetzt von der briti­schen Film­zeit­schrift »Sight and Sound« zum besten Film der Kino­ge­schichte gekürt wurde.

Viele der im Wett­be­werb gezeigten Filme eröffnen einen Blick in die Zukunft des Kinos. David Depes­se­villes Astrakan (Frank­reich), Saim Sadiqs Joyland (Pakistan) oder Cláudia Varejãos Wolf and Dog (Portugal) können hier nur Platz­halter sein.

Gymna­si­asten-Sex

Das IFFMH gibt sich aber nicht mit dem Ausblick auf Zukunft zufrieden. Auch in der Vergan­gen­heit gab es natürlich immer schon die Filme­ma­cher on the rise. Heute sind sie etabliert und machen im besten Fall immer noch aufre­gendes Kino. Die Reihe, in der sich Namen wie Walter Hill, Valeria Bruni Tedeschi, Dominik Moll, Albert Serra, Lav Diaz oder auch Alice Winocour versam­meln, heißt »Pushing the bounda­ries«. Zu ihnen gehört auch Chris­tophe Honoré, der mit Le Lycéen (ab März im Kino als Der Gymna­siast) einen der span­nendsten Filme der Sektion vorlegte. Aufregend ist allein schon Paul Kircher, der als Lucas seine erste Haupt­rolle übernimmt (und auf dem Festival von San Sebastián als Bester Darsteller ausge­zeichnet wurde). Mit Reso­nanzen an André Téchinés Ich küsse nicht (1991) erzählt der Film vom 17-jährigen Lucas, der sich in Paris in Extrem­si­tua­tionen begibt. Nach dem Unfalltod seines Vaters (gespielt von Chris­tophe Honoré), fordert er die exis­ten­ti­ellen Grenzen in einem inten­siven Sex-Spiel heraus.

Was jenseits dieser libidnösen Entla­dungen der 71. Ausgabe des IFFMH Erleich­te­rung verschaffte, war: das Publikum war von den Corona-Zwängen befreit. Was sich noch im Jahr zuvor als Zitter­partie ausnahm – kann und will sich Mannheim / Heidel­berg auf diese geballte Hoch­kultur des Kinos einlassen? – fand dieses Jahr Erfüllung: ein neugie­riges, orts­an­säs­siges Publikum sah sich die Filme an. Und, ja: Das Kino ist zurück. Wie das gehen kann, macht Mannheim vor.