Seismographen des Kinos |
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Intimer Glanz im Stadthaus Mannheim: Nastya Golubewa Carax, Alice Winocour, Frédéric Jaeger (v.l.) | ||
(Foto: privat) |
Von Dunja Bialas
Einer ihrer ersten Kurzfilme, den sie an der Pariser Filmhochschule La Fémis realisierte, war eine Hommage an Chantal Akermans Jeanne Dielman. Eine Frau, näherhin zu definieren als Ehe- und Hausfrau, bereitet im strengen Belle de Jour-Outfit – schwarzes Trägerkleid, weiße Bluse – ein festliches Abendessen vor. Wenn der Mann von der Arbeit nach Hause kommt, soll es Hummer geben, so der Plan. Die Zubereitung der noch lebenden Scherentiere gerät jedoch zum subtilen Kitchen-Sink-Albtraum.
Die Französin Alice Winocour ist die Regisseurin dieses fein rhythmisierten, fast ganz ohne Dialoge auskommenden Films, schlicht Kitchen genannt, der vom täglichen Horror einer in die Wohnung Verbannten erzählt. Der Film der Belgierin Chantal Akerman, Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles (1975), wurde soeben von der britischen Filmzeitschrift »Sight and Sound« zum besten Film der Kinogeschichte gekürt. Das lässt einmal mehr auf Alice Winocour blicken, die dieses Jahr beim 71. Internationalen Filmfestival Mannheim Heidelberg (IFFMH) mit dem hochdotierten Grand IFFMH Award ausgezeichnet wurde.
Die Wahl der 1976 in Paris geborenen Regisseurin zur »eindrücklichsten, stilprägendsten und innovativsten Filmemacher*in der Gegenwart«, so die Beschreibung des Preises, zeugt einmal mehr von der visionären Weitsicht der Programmverantwortlichen von Mannheim-Heidelberg. Sascha Keilholz, der 2020 zum neuen Leiter des traditionsreichen »Newcomer«-Festivals bestellt wurde, führte zu dessen 70. Jubiläum den Grand Prix ein. Zusammen mit Programmkoordinator Frédéric Jaeger beobachtet er seit Amtsantritt aufmerksam die Bewegungen auf den großen Filmfestivals von Cannes, Locarno, Venedig, Toronto, gemeinsam fischen sie im schier unendlichen Pool der Jahresproduktionen die Namen und Filme heraus, die ihnen als zukunftsweisend für das Kino erscheinen.
Jetzt also Alice Winocour. Die Regisseurin und Drehbuchautorin (César für das beste Originaldrehbuch für Deniz Gamze Ergüvens Mustang, 2015) bringt wie keine andere des jungen europäischen Kinos intelligentes Erzählen mit einprägsamen physischen Bild-Erlebnissen zusammen, inszeniert hemmungslos große Emotionen und bleibt doch zugleich analytisch, neugierig und beobachtend. Als ihre Vorbilder nennt sie den kanadischen Großmeister des Body-Horrors David Cronenberg und die bewegend melodramatischen Stummfilme von Charles Chaplin. Sein Film Lichter der Großstadt etwa habe sie zu einer der Schlussszenen ihres neuen Films Revoir Paris inspiriert, erzählt sie im Stadthaus von Mannheim, wo sie zusammen mit der jungen Nastya Golubewa Carax, einer ihrer Protagonistinnen, den Film dem großen Publikum vorstellt.
»All my films come from a really intimate experience«, sagt Winocour. Ihre Filme enthielten alle Schlüsselmomente, die sie mit ihr, der biographischen Filmemacherin, verbinde. Gleichzeitig aber objektiviere sie auch durch Recherchen und Abstraktionen von diesen persönlichen Zugängen. Revoir Paris erzählt von einer Attentatserie in Paris, nur unschwer sind hinter den Vorgängen die Terroranschläge vom 13. November 2015 auszumachen. Ihr kleiner Bruder sei in dieser Nacht im Bataclan-Theater gewesen, er sei ein Überlebender des Anschlags und einer von vielen Traumatisierten, seine Erzählungen und Empfindungen seien in den Film eingeflossen, ebenso die des Filmeditors Julien Lacheray, der gegenüber von Bataclan wohnte. Sie selbst sei in jener Nacht in engem SMS-Kontakt mit dem Bruder gewesen, von ihrem Sofa aus, wo sie mit ihrem Freund gesessen sei, die Nachrichten verfolgt habe – und wo sie sich an den Händen gehalten haben.
Der intensive Handdruck, das Sichfesthalten, die sich mit ihm mitteilende Gewissheit, nicht allein zu sein, zieht sich leitmotivisch durch den intensiven Film. Nastya Golubeva Carax nimmt die Position von Alice Winocour auf dem Sofa ein, drückt die Hand ihrer Freundin, während die Eltern in der Nacht des Attentats verschwunden sind, und vielleicht hat Alice Winocour auch deshalb die Tochter von Léos Carax für diese Rolle gewählt, weil auch ihr junges Leben sich mit dem frühen Tod der Mutter und Schauspielerin Jekaterina Golubewa (Pola X) verdunkelt hat.
Sich an den Händen zu halten, setze Oxytocin frei, sagt Winocour, das Hormon, das die Menschen miteinander verbinde, es sei eine treibende Kraft ihrer Filme. Auch ihr letzter Film Proxima (2019), in dem eine Astronautin ihre siebenjährige Tochter auf der Erde zurücklassen wird, inszeniert diese emotionale Kraft der Berührung – oder wenn sie nicht mehr möglich wird. Die Astronautin Sarah Loreau, mit schnörkelloser Klarheit von Eva Green verkörpert, muss vor ihrem Abflug in den Weltraum in Quarantäne, um sich keimfrei zu halten. Der Kindsvater (Lars Eidinger) versemmelt es, mit Tochter Stella – die mit Akerman als Nachnamen wie das Vorbild von Winocour heißen darf – pünktlich zur Abschiedsparty zu kommen. Als sie eintreffen, ist die Mutter bereits hinter Glas. Es ist herzzerreißend, wie die Astronautin ihre Hand an die Scheibe drückt, die Tochter ihr Händchen dagegen. Hier will Oxytocin strömen, das Hormon, das auch beim Stillen ausgeschüttet wird, aber die Mutter ist schon wie die von Panzerglas abgeschirmten Aliens in Villeneuves Arrival der irdischen Welt enthoben.
Während Alice Winocour vom Oxytocin spricht, faltet sie immer wieder ihre schmalen und sehr langen Finger, die mit neon-orangenem Nagellack von der Bühne her leuchten, zusammen. Unter ihrem langen Pony blickt sie mit gezeichneten Augen ins Publikum, um dann, in einem explosionsartigen Lächeln, ihr Gesicht ganz von ihrem strahlenden Mund dominieren zu lassen – die Begegnung mit Winocour wirkt überaus bewegend. Jederzeit hat man den Eindruck größter Authentizität und minimalster Effekthascherei, anders als dies etwa bei ausgebufften Profis der Fall sein könnte.
Die Trennung der Mutter von ihrer Tochter sei autobiographisch inspiriert, macht Winocour transparent, die Geschichte speise sich aus der Erfahrung, dass sie selbst monatelang am Set immer wieder von ihrer eigenen Tochter getrennt sei – während Eva Green jedoch, die die Mutter spielt, selbst keine Kinder habe. Die eigene Erfahrung sei zwar wichtig fürs Drehbuch und die Inszenierung der großen Gefühle im richtigen Ton und ohne Kitsch, hier aber nicht für die schauspielerische Performance.
Bei dieser vorsichtig persönlichen Grundierung der Filmprojekte ist es Winocour immens wichtig, in einem zweiten Schritt zu objektivieren, sprich: die Filme in einem zeitlich-räumlichen Kontext anzusiedeln, der ihr biographisch fremd ist. In Proxima ist dies die Sphäre der Weltraumfahrt, über die sie anfangs nichts wusste. Auch spielt der Film nicht in Frankreich, sondern in Deutschland und im russischen Swjosdny Gorodok, dem sogenannten Sternenstädtchen, wo sich das Kosmonauten-Ausbildungszentrum befindet. Mit den Filmprojekten verbinden sich auf diese Weise lange Zeiten der Recherche und eine dokumentarische Sorgfalt, die die emotionale Authentizität in immer richtigen Tonlagen ergänzt.
Oder Winocours Langfilmdebüt Augustine, das 2012 entstand und eigentlich noch ein Projekt der Filmhochschule über Hexen gewesen war. Über Jahre ist sie in die Archive eingetaucht und hat historische Dokumente über die Pariser Klinik La Salpêtrière und den berüchtigten Neurologen Jean-Marie Charcot studiert, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Hysterie forschte; Augustine war seine berühmteste Patientin. Hier wuchs ein feministisches Interesse am Filmemachen, zugleich sah sie in dem Fall auch eines der Grundprinzipien des Kinos verwirklicht. »Die Frauen standen völlig nackt vor der versammelten Doktorschaft mit ihren Fracks und Hüten, wie Versuchskaninchen«, so hat sie es auf den Fotos gefunden. Kino erzähle viel vom Begehren, mit dem Männer auf Frauen blicken, sagt sie, sie aber drehe in Augustine die Perspektive um und erzähle die Geschichte aus der Perspektive des »guinea pig«, auch gegen die Ratschläge von Kollegen, so Winocour – und fand damit ganz organisch zu einem vom male gaze befreiten Kino.
Und wie es vor kurzem noch undenkbar schien, dass jemals die großen Evergreen-Werke der männlichen Filmgeschichte, Orson Welles’ Citizen Kane und Alfred Hitchcocks Vertigo, vom ästhetisch-feministischen Ansatz einer Chantal Akerman abgelöst werden könnten – neu unter den Top Ten der besten Filme aller Zeiten ist auch Claire Denis mit Beau travail – muss man die Filmgeschichte in einem permanenten Wandel denken, in dem sich neue Stimmen unter die alten und bekannten weben. Das Filmfestival Mannheim/Heidelberg hat sich mit der Wahl von Alice Winocour als unbeirrbarer Seismograph des Kinos bewiesen: Traumwandlerisch erkennt das Festival die wichtigen neuen Stimmen des Weltkinos und öffnet die Leinwand in Richtung Zukunft.