Von traurigen Tigern und Smaragdkleidern |
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Queeres Driften in São Paulo: Três Tigres Tristes | ||
(Foto: LAFITA) |
Das Maskottchen von LAFITA (den Lateinamerikanischen Filmtagen München), das ist der Gecko aus der Familie der Schuppenkriechtiere, ein dämmerungs- und nachtaktives Tier. Selbst wenn der Gecko oft lange reglos scheint, so erweist er sich am Ende doch als quicklebendig. Nichts könnte besser auf das Kinopublikum passen, das zunächst gebannt auf die Leinwand blickt, um dann um so leidenschaftlicher am Filmgespräch teilzunehmen. Das dicht gepackte Programm von LAFITA lädt ganz in diesem Sinne mit vielen Gästen zum Kinobesuch und zu Diskussion und zu Austausch vor Ort ein.
In der diesjährigen Ausgabe hat sich im Programm ein Länderschwerpunkt Brasilien herausgeschält, eines der Länder, das in der letzten Zeit aufgrund der Politik natürlich besonders im Fokus stand. Das spiegelt sich auch in den vier brasilianischen Filmen der LAFITA 2022: etwa in der brisanten dokumentarischen Reportage über die Geschichte der Staatsstreiche in Brasilien und die Verwicklung und Kollaboration der Medien, insbesondere von The Coup d’État Factory (A Fantástica Fábrica de Golpes, 2021, von Víctor Fraga und Valnei Nunes, 01.12. 18:00, Werkstattkino, in Anwesenheit von Víctor Fraga).
Als nicht minder politisch erweist sich Ales Pritz' The Territory (2022): Der Dokumentarfilm handelt von dem indigenen Volk der Uru-eu-wau-wau im Amazonas-Regenwald, das sich in existentieller Bedrängnis gegen die Besiedlungs- und Abholzungspolitik Brasiliens zur Wehr setzt. Als die Pandemie die Dreharbeiten zusätzlich erschwert und den direkten Kontakt zu den Uru-eu-wau-wau unterbindet, überlässt der Regisseur diesen die Kamera, damit sie in Eigenregie weiterfilmen: daraus ist ein einzigartiges und eindrucksvolles Porträt einer bedrohten Kultur im Widerstand geworden.
In Anita Rocha da Silveiras Spielfilm Medusa (2021) geht es in provozierender Überspitzung um die Umtriebe antifeministischer Frauen, die einer evangelikal-fundamentalistischen Sekte angehören. Einer rigid-repressiven Sexualmoral folgend, machen sie Jagd auf andere Frauen, die ihrer Ansicht nach der Sünde verfallen sind. Dieser wilde Mix aus Satire und Kritik nimmt
stilistische Anleihen beim italienischen Giallo-Genre und bietet so eine überbordend-karnevaleske Manifestation gegen die Unterdrückung durch das Patriarchat.
(Ausführliche Kritik)
Gustavo Vinagre wiederum begleitet in Três Tigres Tristes (2022) drei junge Leute beim queeren Driften durch die pulsierende Metropole São Paulo und lotet dabei einen prekären Zustand zwischen Pandemie und der »Goldenen Phase« aus, die ein totalitäres Regime in dieser Dystopie seinen Untertanen verspricht. Halbdokumentarisch und doch gleichsam halluzinierend löst dieser Film die herkömmlichen binären Kategorien bereitwillig auf, um der bedrückenden Gegenwart mit der Kraft der Imagination zu begegnen. Im Vorprogramm dazu findet sich der von den drei in Berlin lebenden brasilianischen Filmemachern Eduardo Mamede, Paulo Menezes und Leandro Goddinho auf dem Handy gedrehte Kurzfilm Nicht die brasilianischen Homosexuellen sind pervers, sondern die Situation, in der sie leben (2022), in dem frei nach Rosa von Praunheims Undergroundklassiker zwei queere Brasilianer an einem Berliner See im Sommer abhängen, ein Film, der beim Filmfest Dresden den Preis des Verbands der deutschen Filmkritik bekam.
Das um diesen Brasilienschwerpunkt herumgruppierte Programm umfasst Kurzfilmblöcke, Spielfilme, Dokumentationen und poetisch-essayistische Formen, die allesamt politische und soziale Aspekte des aktuellen Lateinamerika beleuchten und bei der ästhetischen Gestaltung jeweils eigene Wege gehen.
Die Kurzfilme des Eröffnungsabends am vergangenen Dienstag etwa zeigten unter dem Titel »Pulsschläge« (Latidos) formal spannende Grenzgänge zwischen den Künsten: Musik, Performance und Dokumentation finden kreativ zueinander.
Hauptattraktion war dabei der knapp 40-minütige Terminal norte von der argentinischen Meisterregisseurin Lucrecia Martel. Sie erkundet in ihrer Heimatprovinz Salta eine subkulturelle Szene von Musiker*innen, Sänger*innen und Tänzer*innen, die sich in ihrem Umgang mit traditionellen und populären Stilen am Rande des Gewohnten befinden und damit nicht nur künstlerisch, sondern auch sozial marginalisiert sind. Martel liefert eine spannende soziographische Studie mit der Sängerin Julieta Laso im Mittelpunkt. Die beiden anderen Filme stammten von kolumbianischen Künstler*innen, die in Deutschland arbeiten. Manuela Illera von der Kunstakademie München stellte mit »Animal Ventus« persönlich einen 30-minütigen Film vor, der im Grenzbereich zwischen Tanz-Performance und filmischer Installation kulturelle Identität visuell veranschaulicht. Der teilweise in Berlin ansässige Christian Diaz Orejarena unternahm in »Fronteras visibles« eine 16-minütige musikalisch-akustisch-filmische Exploration in der kolumbianischen Karibik.
Auch die drei längeren Kurzfilme (Long Shorts) des Blocks »Kuba im Wandel / Cuba transmuta« sind formal vielfältig zwischen Dokumentation und poetischem Filmessay angesiedelt, um Aspekte der kubanischen Identität zwischen kolonialer Vergangenheit und sozialistischem Erbe zu erkunden.
Ein roter Faden, der sich durch die übrigen Filme zieht, ist ein spezifisch weiblicher Standpunkt, sowohl vor als auch hinter der Kamera.
Besonders hervorzuheben ist der Dokumentarfilm Lo que queda en el camino (2021, von Jakob Krese und Danilo Do Carmo), der eine ganz konkrete Vorstellung vom Alltag der Migration bietet: die Kamera begleitet Lilian und ihre vier Kinder auf dem über 4000 Kilometer langen Weg von Guatemala durch Mexiko zur US-amerikanischen Grenze. Sie sind zu Fuß, mit Lkw, Bus oder Zug unterwegs, Teil eines endlosen Stroms von Menschen. Was sonst mit dem bloßen Wort Migration allenfalls angerissen wird, ist hier in dieser ungewöhnlich nahegehenden Dokumentation physische Wirklichkeit von Strecke und Dauer, Erschöpfung und Resignation, Empathie und Hoffnung. Der Grund, Guatemala zu verlassen, sind hier Missbrauch und häusliche Gewalt durch den Ehemann: es beginnt ein unvorstellbarer Marsch in die Emanzipation.
Drei hochkarätige Spielfilme von Regisseurinnen sind weitere Highlights: aus Uruguay kommt das lakonische Coming-of-age-Drama »Los Tiburones« (2020, von Lucía Garibaldi) um die Teenagerin Rosina.
Natalia López Gallardo liefert mit »Robe of Gems« (2022, mit dem Silbernen Bären / Preis der Jury auf der Berlinale 2022 ausgezeichnet) aus Mexiko einen visuell nachdrücklichen Film über die Gewalt, die von den Drogenkartellen ausgeht und mit der sie bekämpft wird und die bis in die privaten Verhältnisse einsickert. In drei Erzählsträngen mit jeweils einer Frau im Zentrum wird das beklemmend-verstörende Bild einer Gesellschaft im Zustande der Zersetzung gezeigt. Besonders zu nennen neben der visuellen Kraft das intensive Sounddesign unter Mitwirkung des Tonmeisters Guido Berenblum, der in den Filmen von Lucrecia Martel für akustisch-sinnliche Soundatmosphäre sorgte. Die Regisseurin wiederum war als Schauspielerin und als Editorin unter anderem bei Carlos Reygadas beteiligt.
Auch die Chilenin Manuela Martelli war als Schauspielerin aktiv, bevor sie nun mit »1976« (2022) ihren ersten Film präsentiert. Sie führt in das Jahr 1976 zurück, unter die ersten Jahre der Pinochet-Diktatur: die 50-jährige Carmen (Aline Kuppenheim), als Arztgattin ein wohlbehütetes bürgerliches Leben führend, gerät in Kontakt zum im Untergrund operierenden Widerstand. Für die in den Konventionen des Bürgertums gefangene Frau beginnt eine Phase der Emanzipation aus dem Alltag, aber auch der Zweifel und der Angst. Dieser klassisch und konzentriert erzählte Film erinnert immer wieder an die Art, in der Carlos Saura das spanische Bürgertum im Franquismus sezierte, vermag aber zusätzlich die beklemmende Spannung eines Polit- und Psychothrillers zu entwickeln.
Neben diesen Frauenschicksalen gilt es aber noch die Marktfrauen von La Paz zu erwähnen, die im bolivianischen El Gran Movimiento (2021) von Kiro Russo einen großartigen Auftritt haben. Aus Bolivien bekommt man sehr selten Filme zu sehen: darum sollte man sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Auf aufregende Weise verbindet El Gran Movimiento dokumentarische, experimentelle und fiktionale Elemente miteinander und vermittelt einen ungeheuer intensiven Eindruck einer der größten Städte Boliviens. Drei junge Bergwerksarbeiter kommen aus Anlass von Protesten gegen Minenschließungen in die Stadt und bleiben hier als Gelegenheitsarbeiter hängen. Sie tauchen ein in die dichte Atmosphäre der steilen Gassen, Märkte und Seilbahnen und werden doch von den Geistern der harten Arbeit unter Tage verfolgt.
Luise (Eröffnung), Werkstattkino, HP8 Gasteig
Eintritt: 7 Euro