01.12.2022

»Das ist etwas, was nicht ein zweites Mal passieren wird«

Peter Nestler, Verteidigung der Zeit
Verteidigung der Zeit: Jean-Marie Straub und Danièle Huillet in München
(Foto: Deutsche Kinemathek | Peter Nestler, Verteidigung der Zeit)

Münchner Erinnerungen an Straub/Huillet. Zum Gedenken an den am 20. November verstorbenen Jean-Marie Straub

Von Dunja Bialas

»The form of the body gives birth to the soul. The struggle with the matter gives rise to the form. And the rest is just filling material. I want that to be clear.« – Jean-Marie Straub

Woher kommen nur all die Toten her? fragte am Dienstag die »Süddeut­sche Zeitung«. Zwar ging es mal wieder um Covid und eine plötz­liche, rätsel­hafte Über­sterb­lich­keit. Unsereins jedoch denkt sofort an: Hans Magnus Enzens­berger, Jean-Luc Godard, Klaus Lemke, Max Zihlmann und jetzt, vor gut zehn Tagen, auch noch Jean-Marie Straub. Vieler der Toten wurde sehr ausführ­lich gedacht, auch mit Alar­mismus, dass es jetzt ange­sichts des Nichts, das sich mit dem Verlust der wert­vollen Künstler auftue, vorbei sei mit der Kunst, mit dem Kino als Septième Art. Jean-Luc Godard hat mit seinem Tod sicher­lich die Nouvelle Vague mit sich gerissen. Das Kino jedoch nicht, schon gar nicht das fran­zö­si­sche.

Kompli­zierter wird es mit Jean-Marie Straub.

Der 1933 in Metz geborene Straub zählte zur »Rive Gauche« der Nouvelle Vague, prägte jedoch zusammen mit seiner 2006 verstor­benen Frau Danièle Huillet alsbald einen eigenen Stil. An Straub/Huillet, wie es für die gemein­samen Filme immer in einem Atemzug hieß – erst nach dem Tod wurden sie auch im Doppel­namen getrennt – schieden sich bisweilen die Geister. Während einige seine künst­li­chen und vom (Anti-)Theater inspi­riert wirkenden Tableaux-Filme nur schwer ertragen können, gibt es glühende Verehrer, die mit Feier­lich­keit den Besuch seiner Filme zele­brieren, soge­nannte »Strau­bianer«. Außerdem gibt es natürlich die wichtigen Wegbe­gleiter des Werks, die mit Straub/Huillet zusam­men­ar­bei­teten oder den von ihnen geprägten Stil fort­führten. Einige von ihnen haben nun die Tode­s­an­zeige in der »Süddeut­schen« gezeichnet, die sich wie ein Who is Who für eine andere Form des Kinos liest. Da sind die Filme­ma­cher*innen Bernhard Sallmann, Astrid Ofner, Ingemo Engström, Peter Nestler, Rainer Komers, Rudolf Thome und Klaus Wyborny. Da sind die Kurator*innen Klaus Volkmer, Alexander Horwath, Anne Grèzes, Karola Gramann und Katja Wieder­spahn. Da sind die Film­kri­tiker*innen und –theo­re­tiker*innen Helmut Färber, Peter Nau, Heide Schlüp­mann, Volker Panten­burg, Barbara Wurm und Fritz Göttler. Stefan Drößler als Reprä­sen­tant des Münchner Film­mu­seums, das das Gesamt­werk von Straub/Huillet für seine Sammlung gekauft hat, hat ebenfalls gezeichnet.

2013 hatte das Film­mu­seum München eine umfas­sende Retro­spek­tive zu Straub/Huillet gezeigt. Die Strau­bianer pilgerten ins Film­mu­seum, ich verfasste damals eine vorsich­tige Huldigung, und erklärte mir schrei­bend das Werk:

»Straub/Huillet lieben die Literatur, wie zum Beispiel Corneille, oder Brecht, oder Böll, oder Pavese. Und sie lieben die Musik, wie Bach oder Schönberg, und nehmen deren Werke als Rohma­te­rial für ihre Filme. Rohma­te­rial: Die Texte insze­nieren sie nicht, sondern lassen sie von Schau­spie­lern aufsagen, wobei sie den Akt des Aufsagens als Doku­men­ta­tion des Schau­spiels begreifen. Worte und Figuren werden eins, die Schau­spieler lassen Texte erklingen, und sind dabei mehr Sprach­rohr als Rollen­träger. Dement­spre­chend emoti­onslos und spröde begegnen einem die Literatur-Filme.«

Wie die Dreh­ar­beiten sich tatsäch­lich gestaltet haben, beschreibt der Film­jour­na­list und Karl-May-Forscher Ulrich von Thüna, ein weiterer Toter des Jahres 2022. In der Münchner Film­zeit­schrift »24« (18/1997) erinnert er sich, wie er für eine Rolle in Straub/Huillets Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht (1965) gecastet wurde. Er sollte den Emigranten Schrella spielen. »Jeden­falls fragte mich Straub, ob ich Lust hätte, in einer Verfil­mung von Bölls 'Billard um halb zehn' mitzu­ma­chen. Ich war damals 28 Jahre alt und sagte natürlich ja. Gleich­zeitig machte ich deutlich, daß ich noch nie irgendwo etwas gespielt hätte und sicher kein guter Darsteller sei. […] Ich bekam einige Monate später den Vertrag zugesandt. In ihm wurde ich für die Rolle des Rück­keh­rers Schrella für die fürst­liche Summe von DM 175,- verpflichtet. […] Straub selbst gab keine detail­lierten Anwei­sungen, jeder sollte so reden, wie ihm der Schnabel gewachsen war. In einem Papier von ihm, das wohl während der Fertig­stel­lung entstand, schrieb er unter der Über­schrift 'All about Nicht versöhnt': Keine soge­nannte 'Verfil­mung' des Romans. Und von den Darstel­lern wurde nicht verlangt, dass sie ihren Text irgendwie 'spielen', sondern dass sie ihn nach einer ganz bestimmten 'Partitur' rezi­tieren…«

Der Münchner Heraus­geber von »Sigi Goetz Enter­tain­ment« Ulrich Mannes hat mir den Text zugäng­lich gemacht. Mannes ist Spezia­list für den Jungen Deutschen Film, besonders gut kennt er sich im Umfeld der Münchner Gruppe aus. Straub war in den Sech­zi­ger­jahren eine Art Mentor für die Münchner Gruppe, sagt Mannes, er habe die ersten Kurzfilme von Max Zihlmann, Klaus Lemke und Rudolph Thome (der selbst in Nicht versöhnt als Darsteller mitwirkte) »nach Kräften« gefördert. Thomes Kurzfilm Jane erschießt John, weil er sie mit Ann betrügt (1967/68, Danièle Huillet machte den Schnitt) entstand mit Rohfilm, den Straub beim Drehen einge­spart hatte, und wurde als Vorfilm zu Chronik der Anna Magdalena Bach (1968) gezeigt. Auch Lemkes erste Kurzfilme entstanden mit Straub-Material. Straub/Huillet wohnten in Schwabing und hielten engen Kontakt zur Münchner Gruppe, die dort ebenfalls zuhause war. Mit Schau­spie­lern des bahn­bre­chenden Anti­teaters reali­sierten sie Der Bräutigam, die Komö­di­antin und der Zuhälter (1968), in dem Film wirken Rainer Werner Fass­binder, Irm Hermann, Peer Raben und Hannah Schygulla mit. Straub schenkte Fass­binder aus dem Film ein langes Travel­ling, das die an der Lands­berger Straße aufge­reihten Prosti­tu­ierten zeigte. Die Aufnahme inte­grierte Fass­binder in Liebe ist kälter als der Tod (1969), stumm und doku­men­ta­risch, während bei Straub die Fahrt mit Musik von Bach überhöht wird. Beide Filme sind mit der Aufnahme vom Münchner Auto­strich für immer verbunden.

Straub/Huillet waren 1958 aus Paris nach München gekommen, wegen ihrer kriti­schen Haltung zum Alge­ri­en­krieg, und weil Straub nicht zum Militär einge­zogen werden wollte. Auch nach der Verla­ge­rung ihres Lebens­mit­tel­punkts nach Italien blieb München für sie eine wichtige Station. Aus Rom brachten sie immer einen Schwung Straßen­katzen mit, erinnert sich Bernd Brehmer, Mitbe­gründer der Film­zeit­schrift »24« und Betreiber des Werk­statt­kinos, der zu dieser Zeit noch als Karten­ab­reißer im Münchner Film­mu­seum arbeitete. Alle hätten von ihnen Katzen aus Rom geschenkt bekommen. Nicht zuletzt Jan-Chris­to­pher Horak, der zwischen 1994 und 1998 das Film­mu­seum leitete. Horak schreibt auf Facebook anläss­lich des Todes von Straub: »A couple of weeks after I began work as director of the Munich Film­mu­seum in September 1994, Jean-Marie walked into my office and the first thing he said – using the familiar 'du' – was 'I have a cat for you,' although I had never met him previously. How he knew that we had lost our cat on the flight to Europe, I don’t know. Cata­strophe was a little back Roman street cat. He stayed with us for six years, before the feline leukemia he had contracted on the street killed him, but he was an incre­dibly smart cat who could open drawers and loved to fetch. I was always thankful to Danielle and Jean-Marie for that cat.«

Diese Hinwen­dung zu allem Leben­digen mag über­ra­schen, schließ­lich galt Straub/Huillets Werk vor allem der Dekon­struk­tion der Hoch­kultur, wie zum Beispiel ihr berühm­tester Film Chronik der Anna Magdalena Bach, an dessen Beginn die Idee stand »einen Film zu versuchen, in dem man Musik nicht als Beglei­tung, nicht als Kommentar, sondern als ästhe­ti­sche Materie benutzte«, so Jean-Marie Straub.

Die Liebe zum Leben­digen mani­fes­tierte sich darin, wie sie die Natur aufnahmen. Das Rauschen des Windes in den Blättern prägt viele ihrer Aufnahmen, dann die Ausblicke auf fast buko­li­sche Land­schaften, oder auch in der Ferne der Lärm der Großstadt, der als natür­liche Stör­geräu­sche und Gegen­warts­in­di­zien in die klas­si­schen Texte hinein­bre­chen – und auch die Texte zu Teilen unver­s­tänd­lich machen.

Die Bilder, Kadrie­rungen, das spre­chende Material – nicht nur die Schau­spieler, die Musik oder die Texte, sondern vor allem das Film­ma­te­rial selbst – sind das Faszi­nie­rende in Straub/Huillets Werk. In ihrem Zentrum beginnen die Filme zu vibrieren, sie sind fern und faszi­nie­rend, abweisend und einneh­mend zugleich. Fast wie das Paar, das Straub/Huillet abgaben: Straub, der mal Abwei­sende, mal Dozie­rende, irgendwie Dauer­gran­tige, Huillet, die mal Scharf­sin­nige, mal sich im Hinter­grund Haltende und immer emsig Arbei­tende, während Straub an seinen Sentenzen feilte. So zumindest findet es sich in Peter Nestlers Vertei­di­gung der Zeit (2007).

»Luxus ist, kein Geld zu haben«, sagt Straub dort, ein Bonmot, das wir in München begeis­tert über­nahmen. Der Luxus, den Straub/Huillet sich leisteten, war, eine Kunst gegen alle Konven­tionen zu schaffen und dabei in ihrem Werk bahn­bre­chend zu sein. 2006 bekamen sie in Venedig den Löwen für ihr Lebens­werk, das war kurz vor Danièle Huillets Tod.
Ein anderes, in München ebenfalls gerne erin­nertes Bonmot, ist Jean-Marie Straubs wütender Satz: »Die Stereo­phonie ist eine Erfindung von Goebbels«, der einmal im Film­mu­seum fiel. Angeblich, so kennt Bernd Brehmer die Anekdote, hätten sie sogar einmal in einem Münchner Geschäft auf den Kauf eines Plat­ten­spie­lers verzichtet, weil es ihn nur in Stereo gab. Gerne hätten sie nur einen Laut­spre­cher mitge­nommen, aber der Verkäufer weigerte sich. Ihre Filme haben sie alle in Mono gemacht, ohnehin gab es damals kaum Möglich­keiten für den Stereoton. Straub hasste die Stereo­phonie.

Straub verband im Alter viel mit Jean-Luc Godard. Beide wohnten im kleinen Ort Rolle am Genfer See, für beide wurde er der Sterbeort. Helmut Färber, Film­kri­tiker und enger Wegbe­gleiter von Straub, erzählte anläss­lich der Münchner Premiere von Godards Adieu au langage (2014), dass sich die beiden hin und wieder im Super­markt begeg­neten, oder, als sie noch umtrie­biger waren, in einer Bar im Ort. Ganz grün sollen sie sich aber nicht gewesen sein.

Die Filme von Straub/Huillet haben auf mehrere Gene­ra­tionen gewirkt, leicht ist im Stil einzelner Filme­ma­cher*innen die Inspi­ra­ti­ons­quelle ausfindig zu machen. Einen Film der ganz anderen Art hat Jean-Marie Straub in München hervor­ge­rufen, ohne aber je davon erfahren zu haben. Er heißt Drôle de film und entstand im Jahre 1982. Bernd Brehmer liest darin eine Kritik zu einem Film von Straub vor, die er in der Zeit­schrift »Filme« entdeckt hatte. Er selbst kannte zu diesem Zeitpunkt Straub noch nicht, vor der Kamera postierte er nach dem Vorbild von Film­kri­tiker Peter W. Jansen. Film­kritik galt damals noch etwas, heute nennt Brehmer seine sorg­fältig unter Verschluss gehaltene Super-8-Kame­raü­bung eine »Jugend­sünde in Schwarz­weiß«.

Lassen wir zum Schluss dieser Münchner Erin­ne­rungen Danièle Huillet und Jean-Marie Straub noch einmal selbst zu Wort kommen. In Peter Nestlers Portrait unter­halten sie sich, anläss­lich ihres letzten gemein­samen Films Jene ihrer Begeg­nun­genen, über ihr Film­schaffen und über die Rezeption ihrer Filme. Es ergibt sich folgender Dialog:

Danièle Huillet: Ich glaube, das Problem von unseren Filmen ist nicht, dass sie intel­lek­tuell sind, sondern, dass sie zu einfach sind.

Jean-Marie Straub: Sie sind sinnlich, einfach. Sie sind sinnlich, erzählen eine Geschichte mit Figuren. Vor allem aber sind sie sinnlich – jede Sekunde in ihnen bedeutet: Schaut euch das Licht an, die Bewegung, hört euch das an, usw. Das ist etwas, was nicht ein zweites Mal passieren wird.