»Das ist etwas, was nicht ein zweites Mal passieren wird« |
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Verteidigung der Zeit: Jean-Marie Straub und Danièle Huillet in München | ||
(Foto: Deutsche Kinemathek | Peter Nestler, Verteidigung der Zeit) |
Von Dunja Bialas
»The form of the body gives birth to the soul. The struggle with the matter gives rise to the form. And the rest is just filling material. I want that to be clear.« – Jean-Marie Straub
Woher kommen nur all die Toten her? fragte am Dienstag die »Süddeutsche Zeitung«. Zwar ging es mal wieder um Covid und eine plötzliche, rätselhafte Übersterblichkeit. Unsereins jedoch denkt sofort an: Hans Magnus Enzensberger, Jean-Luc Godard, Klaus Lemke, Max Zihlmann und jetzt, vor gut zehn Tagen, auch noch Jean-Marie Straub. Vieler der Toten wurde sehr ausführlich gedacht, auch mit Alarmismus, dass es jetzt angesichts des Nichts, das sich mit dem Verlust der wertvollen Künstler auftue, vorbei sei mit der Kunst, mit dem Kino als Septième Art. Jean-Luc Godard hat mit seinem Tod sicherlich die Nouvelle Vague mit sich gerissen. Das Kino jedoch nicht, schon gar nicht das französische.
Komplizierter wird es mit Jean-Marie Straub.
Der 1933 in Metz geborene Straub zählte zur »Rive Gauche« der Nouvelle Vague, prägte jedoch zusammen mit seiner 2006 verstorbenen Frau Danièle Huillet alsbald einen eigenen Stil. An Straub/Huillet, wie es für die gemeinsamen Filme immer in einem Atemzug hieß – erst nach dem Tod wurden sie auch im Doppelnamen getrennt – schieden sich bisweilen die Geister. Während einige seine künstlichen und vom (Anti-)Theater inspiriert wirkenden Tableaux-Filme nur schwer ertragen können, gibt es glühende Verehrer, die mit Feierlichkeit den Besuch seiner Filme zelebrieren, sogenannte »Straubianer«. Außerdem gibt es natürlich die wichtigen Wegbegleiter des Werks, die mit Straub/Huillet zusammenarbeiteten oder den von ihnen geprägten Stil fortführten. Einige von ihnen haben nun die Todesanzeige in der »Süddeutschen« gezeichnet, die sich wie ein Who is Who für eine andere Form des Kinos liest. Da sind die Filmemacher*innen Bernhard Sallmann, Astrid Ofner, Ingemo Engström, Peter Nestler, Rainer Komers, Rudolf Thome und Klaus Wyborny. Da sind die Kurator*innen Klaus Volkmer, Alexander Horwath, Anne Grèzes, Karola Gramann und Katja Wiederspahn. Da sind die Filmkritiker*innen und –theoretiker*innen Helmut Färber, Peter Nau, Heide Schlüpmann, Volker Pantenburg, Barbara Wurm und Fritz Göttler. Stefan Drößler als Repräsentant des Münchner Filmmuseums, das das Gesamtwerk von Straub/Huillet für seine Sammlung gekauft hat, hat ebenfalls gezeichnet.
2013 hatte das Filmmuseum München eine umfassende Retrospektive zu Straub/Huillet gezeigt. Die Straubianer pilgerten ins Filmmuseum, ich verfasste damals eine vorsichtige Huldigung, und erklärte mir schreibend das Werk:
»Straub/Huillet lieben die Literatur, wie zum Beispiel Corneille, oder Brecht, oder Böll, oder Pavese. Und sie lieben die Musik, wie Bach oder Schönberg, und nehmen deren Werke als Rohmaterial für ihre Filme. Rohmaterial: Die Texte inszenieren sie nicht, sondern lassen sie von Schauspielern aufsagen, wobei sie den Akt des Aufsagens als Dokumentation des Schauspiels begreifen. Worte und Figuren werden eins, die Schauspieler lassen Texte erklingen, und sind dabei mehr Sprachrohr als Rollenträger. Dementsprechend emotionslos und spröde begegnen einem die Literatur-Filme.«
Wie die Dreharbeiten sich tatsächlich gestaltet haben, beschreibt der Filmjournalist und Karl-May-Forscher Ulrich von Thüna, ein weiterer Toter des Jahres 2022. In der Münchner Filmzeitschrift »24« (18/1997) erinnert er sich, wie er für eine Rolle in Straub/Huillets Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht (1965) gecastet wurde. Er sollte den Emigranten Schrella spielen. »Jedenfalls fragte mich Straub, ob ich Lust hätte, in einer Verfilmung von Bölls 'Billard um halb zehn' mitzumachen. Ich war damals 28 Jahre alt und sagte natürlich ja. Gleichzeitig machte ich deutlich, daß ich noch nie irgendwo etwas gespielt hätte und sicher kein guter Darsteller sei. […] Ich bekam einige Monate später den Vertrag zugesandt. In ihm wurde ich für die Rolle des Rückkehrers Schrella für die fürstliche Summe von DM 175,- verpflichtet. […] Straub selbst gab keine detaillierten Anweisungen, jeder sollte so reden, wie ihm der Schnabel gewachsen war. In einem Papier von ihm, das wohl während der Fertigstellung entstand, schrieb er unter der Überschrift 'All about Nicht versöhnt': Keine sogenannte 'Verfilmung' des Romans. Und von den Darstellern wurde nicht verlangt, dass sie ihren Text irgendwie 'spielen', sondern dass sie ihn nach einer ganz bestimmten 'Partitur' rezitieren…«
Der Münchner Herausgeber von »Sigi Goetz Entertainment« Ulrich Mannes hat mir den Text zugänglich gemacht. Mannes ist Spezialist für den Jungen Deutschen Film, besonders gut kennt er sich im Umfeld der Münchner Gruppe aus. Straub war in den Sechzigerjahren eine Art Mentor für die Münchner Gruppe, sagt Mannes, er habe die ersten Kurzfilme von Max Zihlmann, Klaus Lemke und Rudolph Thome (der selbst in Nicht versöhnt als Darsteller mitwirkte) »nach Kräften« gefördert. Thomes Kurzfilm Jane erschießt John, weil er sie mit Ann betrügt (1967/68, Danièle Huillet machte den Schnitt) entstand mit Rohfilm, den Straub beim Drehen eingespart hatte, und wurde als Vorfilm zu Chronik der Anna Magdalena Bach (1968) gezeigt. Auch Lemkes erste Kurzfilme entstanden mit Straub-Material. Straub/Huillet wohnten in Schwabing und hielten engen Kontakt zur Münchner Gruppe, die dort ebenfalls zuhause war. Mit Schauspielern des bahnbrechenden Antiteaters realisierten sie Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter (1968), in dem Film wirken Rainer Werner Fassbinder, Irm Hermann, Peer Raben und Hannah Schygulla mit. Straub schenkte Fassbinder aus dem Film ein langes Travelling, das die an der Landsberger Straße aufgereihten Prostituierten zeigte. Die Aufnahme integrierte Fassbinder in Liebe ist kälter als der Tod (1969), stumm und dokumentarisch, während bei Straub die Fahrt mit Musik von Bach überhöht wird. Beide Filme sind mit der Aufnahme vom Münchner Autostrich für immer verbunden.
Straub/Huillet waren 1958 aus Paris nach München gekommen, wegen ihrer kritischen Haltung zum Algerienkrieg, und weil Straub nicht zum Militär eingezogen werden wollte. Auch nach der Verlagerung ihres Lebensmittelpunkts nach Italien blieb München für sie eine wichtige Station. Aus Rom brachten sie immer einen Schwung Straßenkatzen mit, erinnert sich Bernd Brehmer, Mitbegründer der Filmzeitschrift »24« und Betreiber des Werkstattkinos, der zu dieser Zeit noch als Kartenabreißer im Münchner Filmmuseum arbeitete. Alle hätten von ihnen Katzen aus Rom geschenkt bekommen. Nicht zuletzt Jan-Christopher Horak, der zwischen 1994 und 1998 das Filmmuseum leitete. Horak schreibt auf Facebook anlässlich des Todes von Straub: »A couple of weeks after I began work as director of the Munich Filmmuseum in September 1994, Jean-Marie walked into my office and the first thing he said – using the familiar 'du' – was 'I have a cat for you,' although I had never met him previously. How he knew that we had lost our cat on the flight to Europe, I don’t know. Catastrophe was a little back Roman street cat. He stayed with us for six years, before the feline leukemia he had contracted on the street killed him, but he was an incredibly smart cat who could open drawers and loved to fetch. I was always thankful to Danielle and Jean-Marie for that cat.«
Diese Hinwendung zu allem Lebendigen mag überraschen, schließlich galt Straub/Huillets Werk vor allem der Dekonstruktion der Hochkultur, wie zum Beispiel ihr berühmtester Film Chronik der Anna Magdalena Bach, an dessen Beginn die Idee stand »einen Film zu versuchen, in dem man Musik nicht als Begleitung, nicht als Kommentar, sondern als ästhetische Materie benutzte«, so Jean-Marie Straub.
Die Liebe zum Lebendigen manifestierte sich darin, wie sie die Natur aufnahmen. Das Rauschen des Windes in den Blättern prägt viele ihrer Aufnahmen, dann die Ausblicke auf fast bukolische Landschaften, oder auch in der Ferne der Lärm der Großstadt, der als natürliche Störgeräusche und Gegenwartsindizien in die klassischen Texte hineinbrechen – und auch die Texte zu Teilen unverständlich machen.
Die Bilder, Kadrierungen, das sprechende Material – nicht nur die Schauspieler, die Musik oder die Texte, sondern vor allem das Filmmaterial selbst – sind das Faszinierende in Straub/Huillets Werk. In ihrem Zentrum beginnen die Filme zu vibrieren, sie sind fern und faszinierend, abweisend und einnehmend zugleich. Fast wie das Paar, das Straub/Huillet abgaben: Straub, der mal Abweisende, mal Dozierende, irgendwie Dauergrantige, Huillet, die mal Scharfsinnige, mal sich im Hintergrund Haltende und immer emsig Arbeitende, während Straub an seinen Sentenzen feilte. So zumindest findet es sich in Peter Nestlers Verteidigung der Zeit (2007).
»Luxus ist, kein Geld zu haben«, sagt Straub dort, ein Bonmot, das wir in München begeistert übernahmen. Der Luxus, den Straub/Huillet sich leisteten, war, eine Kunst gegen alle Konventionen zu schaffen und dabei in ihrem Werk bahnbrechend zu sein. 2006 bekamen sie in Venedig den Löwen für ihr Lebenswerk, das war kurz vor Danièle Huillets Tod.
Ein anderes, in München ebenfalls gerne erinnertes Bonmot, ist Jean-Marie Straubs wütender Satz: »Die Stereophonie ist eine Erfindung von
Goebbels«, der einmal im Filmmuseum fiel. Angeblich, so kennt Bernd Brehmer die Anekdote, hätten sie sogar einmal in einem Münchner Geschäft auf den Kauf eines Plattenspielers verzichtet, weil es ihn nur in Stereo gab. Gerne hätten sie nur einen Lautsprecher mitgenommen, aber der Verkäufer weigerte sich. Ihre Filme haben sie alle in Mono gemacht, ohnehin gab es damals kaum Möglichkeiten für den Stereoton. Straub hasste die Stereophonie.
Straub verband im Alter viel mit Jean-Luc Godard. Beide wohnten im kleinen Ort Rolle am Genfer See, für beide wurde er der Sterbeort. Helmut Färber, Filmkritiker und enger Wegbegleiter von Straub, erzählte anlässlich der Münchner Premiere von Godards Adieu au langage (2014), dass sich die beiden hin und wieder im Supermarkt begegneten, oder, als sie noch umtriebiger waren, in einer Bar im Ort. Ganz grün sollen sie sich aber nicht gewesen sein.
Die Filme von Straub/Huillet haben auf mehrere Generationen gewirkt, leicht ist im Stil einzelner Filmemacher*innen die Inspirationsquelle ausfindig zu machen. Einen Film der ganz anderen Art hat Jean-Marie Straub in München hervorgerufen, ohne aber je davon erfahren zu haben. Er heißt Drôle de film und entstand im Jahre 1982. Bernd Brehmer liest darin eine Kritik zu einem Film von Straub vor, die er in der Zeitschrift »Filme« entdeckt hatte. Er selbst kannte zu diesem Zeitpunkt Straub noch nicht, vor der Kamera postierte er nach dem Vorbild von Filmkritiker Peter W. Jansen. Filmkritik galt damals noch etwas, heute nennt Brehmer seine sorgfältig unter Verschluss gehaltene Super-8-Kameraübung eine »Jugendsünde in Schwarzweiß«.
Lassen wir zum Schluss dieser Münchner Erinnerungen Danièle Huillet und Jean-Marie Straub noch einmal selbst zu Wort kommen. In Peter Nestlers Portrait unterhalten sie sich, anlässlich ihres letzten gemeinsamen Films Jene ihrer Begegnungenen, über ihr Filmschaffen und über die Rezeption ihrer Filme. Es ergibt sich folgender Dialog:
Danièle Huillet: Ich glaube, das Problem von unseren Filmen ist nicht, dass sie intellektuell sind, sondern, dass sie zu einfach sind.
Jean-Marie Straub: Sie sind sinnlich, einfach. Sie sind sinnlich, erzählen eine Geschichte mit Figuren. Vor allem aber sind sie sinnlich – jede Sekunde in ihnen bedeutet: Schaut euch das Licht an, die Bewegung, hört euch das an, usw. Das ist etwas, was nicht ein zweites Mal passieren wird.