73. Berlinale 2023
Bruchlinien des Filmischen |
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Epochales Filmessay: Viera Čákanyovás Notes from Eremocene | ||
(Foto: Viera Čákanyová / 73. Berlinale) |
Die immense Fülle ist natürlich eine Überforderung. Allein 28 Filme im Hauptprogramm des Forums (daneben Specials wie die Fiktionsbescheinigung und das Forum Expanded mit Koryphäen des experimentellen Films wie Deborah Stratman) – ein reiches Angebot jedenfalls. Dazu die Verteilung über viele Spiel-Orte, die von jedem eine eigene Berlinale-Logistik erfordern. (Manche Orte allerdings, wie das im Programm so verlockend apostrophierte Werkstattkino im Silent Green erweisen sich dann eher als Etikettenschwindel: das mag daran liegen, dass man als Münchner die Initiation in experimentelles Kino unter anderem in dem seit den 70er Jahren in München bestehenden Werkstattkino absolviert hat. Und das ist tatsächlich ein Kino, und nicht nur ein Vortragssaal in der Kuppelhalle des Silent Green, ausgestattet mit Stuhlreihen und einer Beamerprojektion.)
Fast wie trotzige Behauptungen wirken die allein schon durch ihre Länge und Dauer überwältigenden Dokumentarfilme des diesjährigen Forum-Programms – tragende Säulen, die innerhalb des vielfältig auseinanderdriftenden Spektrums an filmischen Formen so etwas wie Verlässlichkeit und Orientierung versprechen.
Zum einen Dokumentarisches der sensiblen Beobachtung und der persönlichen Betroffenheit wie Claire Simons Notre
Corps oder Volker Koepps Gehen und Bleiben, beide um die drei Stunden.
Zum anderen Dokumentationen, die über das Material und seine Aufbereitung Fragen der adäquaten Darstellbarkeit von politischen und historischen Gewalterfahrungen aufwerfen, wie De Facto von Selma Doborac (über
zwei Stunden) und El Juicio von Ulises de la Orden (drei Stunden lang). Selma Doborac führt Täteraussagen, unter anderem aus dem Jugoslawienkrieg, in ein Dialogkonstrukt ein, das von zwei Schauspielern rezitiert wird. Das Dokumentarische wird so in eine Art reenactment versetzt und einer Überprüfung unterzogen.
Ulises de la Orden verarbeitet Videomaterial, das bei dem fünf Monate langen Prozess gegen Angehörige der argentinischen
Militärjuntas (1976-1983) 1985 aufgenommen wurde, offizielles Material, zu dem der Regisseur erst 2019 Zugang erlangte. De la Orden wählt aus den über 530 Stunden aus, um das vor Gericht verhandelte Ungeheure in knapp drei Stunden zu verdichten. Es wird hier also mit Found footage gearbeitet, allerdings handelt es sich nicht um Bilder aus verschiedenen Quellen, sondern um homogenes Material, das ausschließlich von den vor Gericht eingesetzten Fernsehkameras stammt.
Die Montage
ordnet das Material in 18 thematische Kapitel, die prägnant mit Zitaten aus den vor Gericht gemachten Aussagen überschrieben sind. Vor allem geht es de la Orden darum, die durch die Zeugen benannten Vorgänge der Repression, der Verhaftung, der Folter und der Tötung zu exponieren. Der institutionelle Rahmen des Juristischen schafft einen Raum der Sagbarkeit, der gleichermaßen Schutz bietet und Ausgesetztheit herstellt. Sound-bridges raffen geschickt, die Aussagen werden zu
thematischen Bündeln zusammengepackt, die die brutalen und unmenschlichen Praktiken der Diktatur in einem erschütternden Panorama aufrufen. Die Winkelzüge und Störmanöver der Verteidiger und den uneinsichtigen Starrsinn der angeklagten Militärs lässt das als Skandalon sondergleichen erscheinen. Das schlierige U-matic-Videoformat mit seinen eigenartig flirrenden Materialspuren vermag zwar eine reflexive Brechung anzudeuten, die dem Dokumentarischen einen prekären
Status verleiht. Die schiere Wucht und Masse des Materials lässt aber zusammen mit der Grausamkeit des Verhandelten keine Atem- und Denkpause.
Das Forum bleibt insbesondere mit diesem Film einer Linie treu, die es seit seinen Anfängen mit dem aus Lateinamerika stammenden Konzept eines Dritten Kinos jenseits von Hollywood und europäischem Autorenfilm verfolgte. Die in den letzten Jahren im Forum zu sehenden Beiträge eines strengen protokollarischen Dokumentarismus, mit dem
Jonathan Perel die argentinische Militärdiktatur aufarbeitete, finden hier eine Form, die auch einem größeren Publikum zugänglich ist.
Die verschiedenen Ausprägungen des Dokumentarischen, die befragt und in einem konstanten Modus der Prüfung verwendet werden, können auch ins Narrative und Fiktionale hinübergleiten. Solche vom Dokumentarischen genährten inszenatorischen Formen führen an Grenzen des Erzählens, die brüchig werdende Wirklichkeiten erkunden.
Susana Nobre aus Portugal zeigt das in Cidade Rabat an der Entfremdungserfahrung ihrer Protagonistin Helena. Dieser
scheint ihr Leben abhandengekommen zu sein: die Begegnungen mit der Mutter, der heranwachsenden Tochter, dem Ex-Mann und dem nur für kurze Zeit anwesenden Geliebten absolviert sie allesamt mit derselben lakonischen Gleichmütigkeit. Auch die Arbeit für eine Filmproduktion, die einen Dreh in marginalisierten Migranten-Communitys Lissabons macht, verrichtet sie mit unerschütterlicher Routine. Sogar der Tod der Mutter verändert hier erst einmal nichts, im Gegenteil, die
notwendig werdenden Gänge zu Behörden und die zu veranlassenden Abwicklungen scheinen ihrer auf Funktionalität reduzierten Haltung geradezu entgegenzukommen.
Nobre verankert die resonanzlosen Realitätseindrücke ihrer Protagonistin in einem nüchternen Kamerastil des Registrierens, der mit dokumentarischen Gesten alles Fiktionale quasi erkalten lässt. Doch nicht endgültig: ein Residuum an Empathie, das den Film grundiert, kann am Ende in eine kathartische Auflösung
der Starre münden.
Neben dem Dokumentarischen und dem Fragil-Narrativen kennzeichnen als dritter Pol diverse essayistische Schreibweisen der Kinematographie von jeher die im Forum vorhandenen Arbeiten. Und in dieser Kategorie liegen vielleicht auch die am meisten wegweisenden Beispiele dieser Edition des Forums.
Das mag zunächst weniger für Being in a Place von Luke Fowler gelten, ein poetisch-essayistisches Porträt der schottischen Dichterin und Filmerin
Margaret Tait (1918-1999), die man als Pionierin des filmischen Nature-Writing bezeichnen kann. Fowlers Porträt-Essay weist eher archivarisch in die nähere Vergangenheit, führt in einer liebevollen Geste der Hommage ans analoge Filmen in die marginalisierten Zonen der Filmkunst zurück: er leistet eine Art Bestandssicherung, wenn er bislang unveröffentlichtes Material aus nicht vollendeten Werken von und über Tait versammelt. Er montiert unter anderem Ausschnitte aus ihren
dichterischen Kameraskizzen eines Projekts über die Orkney-Inseln mit ihren Notizbüchern und handbeschriebenen und schreibmaschinengetippten Seiten zu einem auratischen Gebilde, das durch Zartheit betört.
Neben dieser eher dem jüngsten Erbe verpflichteten Arbeit (und nicht nur neben dieser, sondern überhaupt im diesjährigen Programm) sticht die Slowakin Viera Čákanyová mit ihrem epochalen Filmessay Notes from Eremocene als
Beschreiterin von definitivem Neuland hervor. Sie wagt die Konfrontation mit den Errungenschaften der Künstlichen Intelligenz und kann dieser unprofan anmutenden Begegnung einen Film abringen, den man als nichts anderes als einen Meilenstein bezeichnen muss. Sie liefert eine Ortsbestimmung zwischen analoger Nostalgie und digitaler Euphorie, indem sich die Filmemacherin als virtuelles Ich in die Zukunft projiziert. Von dort wirft sie einen kritisch-skeptischen Blick zurück
auf unsere Gegenwart und lässt diese als eine Zeit erkennen, in der vieles womöglich schon zu spät für einen Kurswechsel ist.
Doch nicht Kulturpessimismus spricht aus ihren Überlegungen, sondern es blitzt inmitten der Verzweiflung immer wieder der Schalk auf, mit dem sie kühn Phänomene wie Blockchain-Technologie und G-DOA (Globale dezentrale autonome Organisation) ironisch-überspitzend in den Blick nimmt, anekdotisch-phantasievoll weiterspinnt und
spielerisch-experimentellen Verfahren der Darstellung aussetzt. AI-generierte Bilder werden mit Super-8- und 16mm-Aufnahmen kombiniert, Textelemente dringen in den Bildraum ein, analoge Material-Übermalungen alternieren mit digitaler Verpixelung. Das fügt sich zu einer fulminanten Signatur unserer Epoche und dessen, was folgen könnte. Eremozän, der Begriff aus dem Titel, ist eine Neu-Prägung des amerikanischen Biologen Edward O. Wilson und kann als Antwort auf und als
Verschärfung des Anthropozäns verstanden werden. Ein Zeitalter der Isolation, eines eremitischen Daseins, zeichnet sich für die Menschheit inmitten der Natur ab, falls sie überhaupt überdauert. Die filmische Versuchsanordnung von Viera Čákanyová erkundet diese beklemmende Zone auf eine Weise, in der Intelligenz und Sinnlichkeit unauflöslich verschmelzen.
Und ausgehend von diesem Film vermag man dann sogar die Werke eines alten Bekannten und langjährigen Weggefährten
des Forums neu zu sehen. Kann man sich Filme vorstellen, die mehr vom Anthropozän und Eremozän künden als James Bennings menschenleere Meditationen über die amerikanische Landschaft? Auch sein Film Allensworth gibt wieder einen konkret anschaulichen Begriff davon, dass jede Landschaft und jegliche Natur ein von Menschenhand durchformter Kulturraum ist, in dem unauslöschliche Spuren des
Historischen niedergelegt sind. Natur als vom Menschen zurückgelassenes Artefakt…