02.03.2023
73. Berlinale 2023

Bruchlinien des Filmischen

Epochales Filmessay: Notes from Eremocene
Epochales Filmessay: Viera Čákanyovás Notes from Eremocene
(Foto: Viera Čákanyová / 73. Berlinale)

Das letzte von Cristina Nord verantwortete Forumsprogramm streut viele Spuren aus, solche, die zurückführen auf die vertrauten Forum-Pfade, die sich einem Dritten Kino verpflichtet zeigen, und solche, die in die Zukunft des Films weisen, der sich unweigerlich mit den Herausforderungen der KI auseinandersetzt

Von Wolfgang Lasinger

Die immense Fülle ist natürlich eine Über­for­de­rung. Allein 28 Filme im Haupt­pro­gramm des Forums (daneben Specials wie die Fikti­ons­be­schei­ni­gung und das Forum Expanded mit Koryphäen des expe­ri­men­tellen Films wie Deborah Stratman) – ein reiches Angebot jeden­falls. Dazu die Vertei­lung über viele Spiel-Orte, die von jedem eine eigene Berlinale-Logistik erfordern. (Manche Orte aller­dings, wie das im Programm so verlo­ckend apostro­phierte Werk­statt­kino im Silent Green erweisen sich dann eher als Etiket­ten­schwindel: das mag daran liegen, dass man als Münchner die Initia­tion in expe­ri­men­telles Kino unter anderem in dem seit den 70er Jahren in München bestehenden Werk­statt­kino absol­viert hat. Und das ist tatsäch­lich ein Kino, und nicht nur ein Vortrags­saal in der Kuppel­halle des Silent Green, ausge­stattet mit Stuhl­reihen und einer Beamer­pro­jek­tion.)

Auf den Spuren des Dritten Kinos

Fast wie trotzige Behaup­tungen wirken die allein schon durch ihre Länge und Dauer über­wäl­ti­genden Doku­men­tar­filme des dies­jäh­rigen Forum-Programms – tragende Säulen, die innerhalb des viel­fältig ausein­an­der­drif­tenden Spektrums an filmi­schen Formen so etwas wie Verläss­lich­keit und Orien­tie­rung verspre­chen.
Zum einen Doku­men­ta­ri­sches der sensiblen Beob­ach­tung und der persön­li­chen Betrof­fen­heit wie Claire Simons Notre Corps oder Volker Koepps Gehen und Bleiben, beide um die drei Stunden.
Zum anderen Doku­men­ta­tionen, die über das Material und seine Aufbe­rei­tung Fragen der adäquaten Darstell­bar­keit von poli­ti­schen und histo­ri­schen Gewalt­er­fah­rungen aufwerfen, wie De Facto von Selma Doborac (über zwei Stunden) und El Juicio von Ulises de la Orden (drei Stunden lang). Selma Doborac führt Täter­aus­sagen, unter anderem aus dem Jugo­sla­wi­en­krieg, in ein Dialog­kon­strukt ein, das von zwei Schau­spie­lern rezitiert wird. Das Doku­men­ta­ri­sche wird so in eine Art reenact­ment versetzt und einer Über­prü­fung unter­zogen.
Ulises de la Orden verar­beitet Video­ma­te­rial, das bei dem fünf Monate langen Prozess gegen Angehö­rige der argen­ti­ni­schen Mili­tär­juntas (1976-1983) 1985 aufge­nommen wurde, offi­zi­elles Material, zu dem der Regisseur erst 2019 Zugang erlangte. De la Orden wählt aus den über 530 Stunden aus, um das vor Gericht verhan­delte Ungeheure in knapp drei Stunden zu verdichten. Es wird hier also mit Found footage gear­beitet, aller­dings handelt es sich nicht um Bilder aus verschie­denen Quellen, sondern um homogenes Material, das ausschließ­lich von den vor Gericht einge­setzten Fern­seh­ka­meras stammt.
Die Montage ordnet das Material in 18 thema­ti­sche Kapitel, die prägnant mit Zitaten aus den vor Gericht gemachten Aussagen über­schrieben sind. Vor allem geht es de la Orden darum, die durch die Zeugen benannten Vorgänge der Repres­sion, der Verhaf­tung, der Folter und der Tötung zu expo­nieren. Der insti­tu­tio­nelle Rahmen des Juris­ti­schen schafft einen Raum der Sagbar­keit, der glei­cher­maßen Schutz bietet und Ausge­setzt­heit herstellt. Sound-bridges raffen geschickt, die Aussagen werden zu thema­ti­schen Bündeln zusam­men­ge­packt, die die brutalen und unmensch­li­chen Praktiken der Diktatur in einem erschüt­ternden Panorama aufrufen. Die Winkel­züge und Stör­manöver der Vertei­diger und den unein­sich­tigen Starrsinn der ange­klagten Militärs lässt das als Skandalon sonder­glei­chen erscheinen. Das schlie­rige U-matic-Video­format mit seinen eigen­artig flir­renden Mate­ri­al­spuren vermag zwar eine reflexive Brechung anzu­deuten, die dem Doku­men­ta­ri­schen einen prekären Status verleiht. Die schiere Wucht und Masse des Materials lässt aber zusammen mit der Grau­sam­keit des Verhan­delten keine Atem- und Denkpause.
Das Forum bleibt insbe­son­dere mit diesem Film einer Linie treu, die es seit seinen Anfängen mit dem aus Latein­ame­rika stam­menden Konzept eines Dritten Kinos jenseits von Hollywood und europäi­schem Autoren­film verfolgte. Die in den letzten Jahren im Forum zu sehenden Beiträge eines strengen proto­kol­la­ri­schen Doku­men­ta­rismus, mit dem Jonathan Perel die argen­ti­ni­sche Mili­tär­dik­tatur aufar­bei­tete, finden hier eine Form, die auch einem größeren Publikum zugäng­lich ist.

Fragile Narra­tionen

Die verschie­denen Ausprä­gungen des Doku­men­ta­ri­schen, die befragt und in einem konstanten Modus der Prüfung verwendet werden, können auch ins Narrative und Fiktio­nale hinü­ber­gleiten. Solche vom Doku­men­ta­ri­schen genährten insze­na­to­ri­schen Formen führen an Grenzen des Erzählens, die brüchig werdende Wirk­lich­keiten erkunden.
Susana Nobre aus Portugal zeigt das in Cidade Rabat an der Entfrem­dungs­er­fah­rung ihrer Prot­ago­nistin Helena. Dieser scheint ihr Leben abhan­den­ge­kommen zu sein: die Begeg­nungen mit der Mutter, der heran­wach­senden Tochter, dem Ex-Mann und dem nur für kurze Zeit anwe­senden Geliebten absol­viert sie allesamt mit derselben lako­ni­schen Gleich­mü­tig­keit. Auch die Arbeit für eine Film­pro­duk­tion, die einen Dreh in margi­na­li­sierten Migranten-Commu­nitys Lissabons macht, verrichtet sie mit uner­schüt­ter­li­cher Routine. Sogar der Tod der Mutter verändert hier erst einmal nichts, im Gegenteil, die notwendig werdenden Gänge zu Behörden und die zu veran­las­senden Abwick­lungen scheinen ihrer auf Funk­tio­na­lität redu­zierten Haltung geradezu entge­gen­zu­kommen.
Nobre verankert die reso­nanz­losen Reali­täts­ein­drücke ihrer Prot­ago­nistin in einem nüch­ternen Kame­ra­stil des Regis­trie­rens, der mit doku­men­ta­ri­schen Gesten alles Fiktio­nale quasi erkalten lässt. Doch nicht endgültig: ein Residuum an Empathie, das den Film grundiert, kann am Ende in eine kathar­ti­sche Auflösung der Starre münden.

Filmische Versuchs­an­ord­nung

Neben dem Doku­men­ta­ri­schen und dem Fragil-Narra­tiven kenn­zeichnen als dritter Pol diverse essay­is­ti­sche Schreib­weisen der Kine­ma­to­gra­phie von jeher die im Forum vorhan­denen Arbeiten. Und in dieser Kategorie liegen viel­leicht auch die am meisten wegwei­senden Beispiele dieser Edition des Forums.
Das mag zunächst weniger für Being in a Place von Luke Fowler gelten, ein poetisch-essay­is­ti­sches Porträt der schot­ti­schen Dichterin und Filmerin Margaret Tait (1918-1999), die man als Pionierin des filmi­schen Nature-Writing bezeichnen kann. Fowlers Porträt-Essay weist eher archi­va­risch in die nähere Vergan­gen­heit, führt in einer liebe­vollen Geste der Hommage ans analoge Filmen in die margi­na­li­sierten Zonen der Filmkunst zurück: er leistet eine Art Bestands­si­che­rung, wenn er bislang unver­öf­fent­lichtes Material aus nicht voll­endeten Werken von und über Tait versam­melt. Er montiert unter anderem Ausschnitte aus ihren dich­te­ri­schen Kame­ra­skizzen eines Projekts über die Orkney-Inseln mit ihren Notiz­büchern und hand­be­schrie­benen und schreib­ma­schi­nen­ge­tippten Seiten zu einem aura­ti­schen Gebilde, das durch Zartheit betört.
Neben dieser eher dem jüngsten Erbe verpflich­teten Arbeit (und nicht nur neben dieser, sondern überhaupt im dies­jäh­rigen Programm) sticht die Slowakin Viera Čákanyová mit ihrem epochalen Filmessay Notes from Eremocene als Beschrei­terin von defi­ni­tivem Neuland hervor. Sie wagt die Konfron­ta­tion mit den Errun­gen­schaften der Künst­li­chen Intel­li­genz und kann dieser unprofan anmu­tenden Begegnung einen Film abringen, den man als nichts anderes als einen Meilen­stein bezeichnen muss. Sie liefert eine Orts­be­stim­mung zwischen analoger Nostalgie und digitaler Euphorie, indem sich die Filme­ma­cherin als virtu­elles Ich in die Zukunft proji­ziert. Von dort wirft sie einen kritisch-skep­ti­schen Blick zurück auf unsere Gegenwart und lässt diese als eine Zeit erkennen, in der vieles womöglich schon zu spät für einen Kurs­wechsel ist.
Doch nicht Kultur­pes­si­mismus spricht aus ihren Über­le­gungen, sondern es blitzt inmitten der Verzweif­lung immer wieder der Schalk auf, mit dem sie kühn Phänomene wie Block­chain-Tech­no­logie und G-DOA (Globale dezen­trale autonome Orga­ni­sa­tion) ironisch-über­spit­zend in den Blick nimmt, anek­do­tisch-phan­ta­sie­voll weiter­spinnt und spie­le­risch-expe­ri­men­tellen Verfahren der Darstel­lung aussetzt. AI-gene­rierte Bilder werden mit Super-8- und 16mm-Aufnahmen kombi­niert, Text­ele­mente dringen in den Bildraum ein, analoge Material-Über­ma­lungen alter­nieren mit digitaler Verpi­xelung. Das fügt sich zu einer fulmi­nanten Signatur unserer Epoche und dessen, was folgen könnte. Eremozän, der Begriff aus dem Titel, ist eine Neu-Prägung des ameri­ka­ni­schen Biologen Edward O. Wilson und kann als Antwort auf und als Verschär­fung des Anthro­po­zäns verstanden werden. Ein Zeitalter der Isolation, eines eremi­ti­schen Daseins, zeichnet sich für die Mensch­heit inmitten der Natur ab, falls sie überhaupt über­dauert. Die filmische Versuchs­an­ord­nung von Viera Čákanyová erkundet diese beklem­mende Zone auf eine Weise, in der Intel­li­genz und Sinn­lich­keit unauf­lös­lich verschmelzen.
Und ausgehend von diesem Film vermag man dann sogar die Werke eines alten Bekannten und lang­jäh­rigen Wegge­fährten des Forums neu zu sehen. Kann man sich Filme vorstellen, die mehr vom Anthro­pozän und Eremozän künden als James Bennings menschen­leere Medi­ta­tionen über die ameri­ka­ni­sche Land­schaft? Auch sein Film Allens­worth gibt wieder einen konkret anschau­li­chen Begriff davon, dass jede Land­schaft und jegliche Natur ein von Menschen­hand durch­formter Kultur­raum ist, in dem unaus­lö­sch­liche Spuren des Histo­ri­schen nieder­ge­legt sind. Natur als vom Menschen zurück­ge­las­senes Artefakt…