Wo ist der Osten? |
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Das »direkte« Leben in: Lombard | ||
(Foto: Mittelpunkt Europa Festival) |
Von Paula Ruppert
Wo ist innerhalb Europas »der Osten«? Wo verläuft die Grenze zum »Westen«? Wie sollten diejenigen Länder eingeordnet werden, die sich lieber weder noch zuordnen würden und deshalb die Kategorie »Mitteleuropa« als für sich passender sehen? An diesen Kategorisierungen haben sich schon viele Akademiker und Theoretiker versucht, mit unterschiedlichen Ergebnissen. Durch diese Gruppierungsversuche verschiedener Länder in verschiedene Rubriken werden jedoch vor allem zwei Dinge deutlich: Die kulturelle Diversität ist so hoch ausgeprägt, dass sich keine klaren Grenzen ziehen lassen, und es kommt immer auf den Blickwinkel an. Auch dieses Jahr wieder richtet das Mittel Punkt Europa Filmfest seinen Blick auf unsere östlich gelegenen Nachbarn und skizziert diese diverse Region vom 2.-12. März 2023 mit zwölf Filmen aus sechs mittel- und osteuropäischen Ländern.
Unter diesen Filmen sind drei, die die Ukraine thematisieren, die unbestreitbar letztes Jahr in das Zentrum der Aufmerksamkeit katapultiert wurde. Der Eröffnungsfilm Pamfir, der Dorfkultur an der Grenze zu Rumänien, Mafiastrukturen und andere Facetten des Lebens in der Provinz beleuchtet, ebenso wie der Spielfilm Das Haus Slovo. Unvollendeter Roman, der die als Holodomor bekannte Hungersnot sowie die sogenannten Stalinistischen Säuberungen thematisiert, rücken Seiten dieses Landes in den Blick, die hierzulande eher weniger bekannt sein dürften. So kann man sich als Zuschauer das Bild, das die Berichterstattung zum Krieg schafft, um Elemente erweitern, die nichts direkt mit dem tagesaktuellen Geschehen zu tun haben, aber Hintergründe und kulturelle Eigenheiten erklären könnten.
Lohnenswert ist auch der Kurzfilm Swiataja wada (Holy Water), der durch seine Sepia-Färbung wirkt wie eine Sammlung längst vergangener Erinnerungen, wie das Zeugnis eines Lebens, das es so schon lange nicht mehr gibt. Doch er wurde erst zu Beginn des letzten Jahres gedreht; allerdings zeigt er das Leben in Kiew wenige Woche vor Ausbruch des Krieges auf eine Art und Weise, die berührt. Die Bewohner der Stadt baden traditionellerweise in Eiswasser, um die Seele zu reinigen, so auch Ende Januar 2022. Die Gespräche der umstehenden Leute drehen sich um die Beziehungen zu Russland, zu dort lebenden Freunden und Familie, um die Durchschlagskraft der dortigen Propaganda. Und keiner möchte so wirklich glauben, dass sich der Krieg über den Osten der Ukraine hinaus ausbreiten könnte, auch wenn sich manche ob der Gefahr durchaus bewusst sind. Durch all das, was etwa einen Monat später begann, bekommen die Bilder einen schwer zu beschreibenden, vielleicht irgendwie romantisierend-wehmütigen Charakter; man wünscht sich diese scheinbar so weit entfernte vergilbte Welt zurück, in eine Zeit, als diese Welt noch im Großen und Ganzen heil war, über die noch keine Katastrophe hereingebrochen war.
Völlig anders in seiner Art ist der polnische Dokumentarfilm Lombard (Das Leihhaus), der die Hoffnung in der heruntergekommenen Provinzstadt porträtiert. Die Steinkohleminen, die die meisten Arbeitsplätze gestellt hatten, wurden geschlossen, die meisten Bewohner sind infolgedessen arbeitslos, verarmen und haben keine Perspektiven. Auch das riesige Leihhaus läuft alles andere als gut: die Kasse ist leer, die Leute kommen mit Dingen vorbei, die sich beim besten Willen wohl kaum jemals wieder verkaufen lassen werden, das Gehalt der Angestellten fällt dementsprechend mager aus. Trotz allem versuchen sie, denjenigen zu helfen, die es noch schwerer haben und den Laden irgendwie, teils auf sehr kreative Art und Weise, am Laufen zu halten. Denn hier kommen alle hin, man tauscht sich aus und redet sich seine Probleme von der Seele. Der Film zeichnet alles so unmittelbar, dass man gar nicht das Gefühl eines Dokumentarfilms hat, durch den etwas gezeigt und erklärt wird, sondern direkt in das gezeigte Leben eintaucht.
Einen harten Kontrast zu schwierigen Lebensverhältnissen oder politisch-düsteren Inhalten bietet beispielsweise die tschechische Komödie Mimorádná událost (Emergency Situation). Man könnte sie als Parodie auf Hollywood-Action-Katastrophenfilme bezeichnen, die auf herrlich ruhige und auskostende Weise eine Gruppe Fahrgäste irgendwo im böhmischen Nichts zeigt, deren Bummelzug sich plötzlich ohne Fahrer unaufhaltsam rückwärts bewegt. Die Reaktionen besagter Fahrgäste, des Lokalpolitikers im Wahlkampf und der freiwilligen Feuerwehr, die allesamt nicht das Zeug zum Helden haben, der den Zug anhält, sorgen mit ein paar wohlplatzierten Klischees für große Unterhaltung.
Das diesjährige Mittel Punkt Europa Filmfest bietet wieder eine Bandbreite an Filmen, die sonst nur selten zu finden ist. Wer sich dem fast schon hypnotischen Sog über Leben und Wirken eines Okkultisten aussetzen möchte, wird im auf wahren Begebenheiten beruhenden Arvéd ebenso fündig wie jemand, der sich für Korruption und mafiöse Strukturen in der slowakischen Justiz interessiert im Dokumentarfilm Ocista (Säuberung).
Mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine richteten sich plötzlich alle Augen auf ein Land, das vorher für viele irgendwo fernab am Rande Europas lag. Das Mittel Punkt Europa Filmfest sorgt dafür, dass eine ganze Region Europas in den Fokus rückt, die – ebenso wie die Ukraine – nicht so weit entfernt liegt, wie man manchmal denkt und über die man in diesen zwölf Filmen viel erfahren kann.
Mittel Punkt Europa Filmfest
02.03.-12.03.2023, Filmmuseum München
Eintritt: 5 €