02.03.2023

Wo ist der Osten?

Lombard
Das »direkte« Leben in: Lombard
(Foto: Mittelpunkt Europa Festival)

Vom 2.-12. März bietet das Mittel Punkt Europa Filmfest zum siebten Mal dem Kino unserer östlichen Nachbarn eine Plattform

Von Paula Ruppert

Wo ist innerhalb Europas »der Osten«? Wo verläuft die Grenze zum »Westen«? Wie sollten dieje­nigen Länder einge­ordnet werden, die sich lieber weder noch zuordnen würden und deshalb die Kategorie »Mittel­eu­ropa« als für sich passender sehen? An diesen Kate­go­ri­sie­rungen haben sich schon viele Akade­miker und Theo­re­tiker versucht, mit unter­schied­li­chen Ergeb­nissen. Durch diese Grup­pie­rungs­ver­suche verschie­dener Länder in verschie­dene Rubriken werden jedoch vor allem zwei Dinge deutlich: Die kultu­relle Diver­sität ist so hoch ausge­prägt, dass sich keine klaren Grenzen ziehen lassen, und es kommt immer auf den Blick­winkel an. Auch dieses Jahr wieder richtet das Mittel Punkt Europa Filmfest seinen Blick auf unsere östlich gelegenen Nachbarn und skizziert diese diverse Region vom 2.-12. März 2023 mit zwölf Filmen aus sechs mittel- und osteu­ropäi­schen Ländern.

Unter diesen Filmen sind drei, die die Ukraine thema­ti­sieren, die unbe­streitbar letztes Jahr in das Zentrum der Aufmerk­sam­keit kata­pul­tiert wurde. Der Eröff­nungs­film Pamfir, der Dorf­kultur an der Grenze zu Rumänien, Mafia­struk­turen und andere Facetten des Lebens in der Provinz beleuchtet, ebenso wie der Spielfilm Das Haus Slovo. Unvoll­endeter Roman, der die als Holodomor bekannte Hungersnot sowie die soge­nannten Stali­nis­ti­schen Säube­rungen thema­ti­siert, rücken Seiten dieses Landes in den Blick, die hier­zu­lande eher weniger bekannt sein dürften. So kann man sich als Zuschauer das Bild, das die Bericht­erstat­tung zum Krieg schafft, um Elemente erweitern, die nichts direkt mit dem tages­ak­tu­ellen Geschehen zu tun haben, aber Hinter­gründe und kultu­relle Eigen­heiten erklären könnten.

Lohnens­wert ist auch der Kurzfilm Swiataja wada (Holy Water), der durch seine Sepia-Färbung wirkt wie eine Sammlung längst vergan­gener Erin­ne­rungen, wie das Zeugnis eines Lebens, das es so schon lange nicht mehr gibt. Doch er wurde erst zu Beginn des letzten Jahres gedreht; aller­dings zeigt er das Leben in Kiew wenige Woche vor Ausbruch des Krieges auf eine Art und Weise, die berührt. Die Bewohner der Stadt baden tradi­tio­nel­ler­weise in Eiswasser, um die Seele zu reinigen, so auch Ende Januar 2022. Die Gespräche der umste­henden Leute drehen sich um die Bezie­hungen zu Russland, zu dort lebenden Freunden und Familie, um die Durch­schlags­kraft der dortigen Propa­ganda. Und keiner möchte so wirklich glauben, dass sich der Krieg über den Osten der Ukraine hinaus ausbreiten könnte, auch wenn sich manche ob der Gefahr durchaus bewusst sind. Durch all das, was etwa einen Monat später begann, bekommen die Bilder einen schwer zu beschrei­benden, viel­leicht irgendwie roman­ti­sie­rend-wehmü­tigen Charakter; man wünscht sich diese scheinbar so weit entfernte vergilbte Welt zurück, in eine Zeit, als diese Welt noch im Großen und Ganzen heil war, über die noch keine Kata­strophe herein­ge­bro­chen war.

Völlig anders in seiner Art ist der polnische Doku­men­tar­film Lombard (Das Leihhaus), der die Hoffnung in der herun­ter­ge­kom­menen Provinz­stadt porträ­tiert. Die Stein­koh­le­minen, die die meisten Arbeits­plätze gestellt hatten, wurden geschlossen, die meisten Bewohner sind infol­ge­dessen arbeitslos, verarmen und haben keine Perspek­tiven. Auch das riesige Leihhaus läuft alles andere als gut: die Kasse ist leer, die Leute kommen mit Dingen vorbei, die sich beim besten Willen wohl kaum jemals wieder verkaufen lassen werden, das Gehalt der Ange­stellten fällt dementspre­chend mager aus. Trotz allem versuchen sie, denje­nigen zu helfen, die es noch schwerer haben und den Laden irgendwie, teils auf sehr kreative Art und Weise, am Laufen zu halten. Denn hier kommen alle hin, man tauscht sich aus und redet sich seine Probleme von der Seele. Der Film zeichnet alles so unmit­telbar, dass man gar nicht das Gefühl eines Doku­men­tar­films hat, durch den etwas gezeigt und erklärt wird, sondern direkt in das gezeigte Leben eintaucht.

Einen harten Kontrast zu schwie­rigen Lebens­ver­hält­nissen oder politisch-düsteren Inhalten bietet beispiels­weise die tsche­chi­sche Komödie Mimorádná událost (Emergency Situation). Man könnte sie als Parodie auf Hollywood-Action-Kata­stro­phen­filme bezeichnen, die auf herrlich ruhige und auskos­tende Weise eine Gruppe Fahrgäste irgendwo im böhmi­schen Nichts zeigt, deren Bummelzug sich plötzlich ohne Fahrer unauf­haltsam rückwärts bewegt. Die Reak­tionen besagter Fahrgäste, des Lokal­po­li­ti­kers im Wahlkampf und der frei­wil­ligen Feuerwehr, die allesamt nicht das Zeug zum Helden haben, der den Zug anhält, sorgen mit ein paar wohl­plat­zierten Klischees für große Unter­hal­tung.

Das dies­jäh­rige Mittel Punkt Europa Filmfest bietet wieder eine Band­breite an Filmen, die sonst nur selten zu finden ist. Wer sich dem fast schon hypno­ti­schen Sog über Leben und Wirken eines Okkul­tisten aussetzen möchte, wird im auf wahren Bege­ben­heiten beru­henden Arvéd ebenso fündig wie jemand, der sich für Korrup­tion und mafiöse Struk­turen in der slowa­ki­schen Justiz inter­es­siert im Doku­men­tar­film Ocista (Säuberung).

Mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine richteten sich plötzlich alle Augen auf ein Land, das vorher für viele irgendwo fernab am Rande Europas lag. Das Mittel Punkt Europa Filmfest sorgt dafür, dass eine ganze Region Europas in den Fokus rückt, die – ebenso wie die Ukraine – nicht so weit entfernt liegt, wie man manchmal denkt und über die man in diesen zwölf Filmen viel erfahren kann.

Mittel Punkt Europa Filmfest
02.03.-12.03.2023, Film­mu­seum München

Eintritt: 5 €