Wo Pommes??? |
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Auf der Suche nach der fiktionalen Wahrheit... | ||
(Foto: Neue Visionen) |
Von Nora Moschuering
Jetzt mach ich ein schon zahlreiche Male geöffnetes Fass auf und das wegen eines Filmes, der es eigentlich nicht so ernst meint: Olaf Jagger. Eine Mischung aus Olaf Schubert und Mick Jagger, wobei Letzterer nur Impulsgeber ist, also wenn dann, imaginär vorkommt. Der Filmverleih Neue Visionen stellt Olaf Jagger als
»fiktionalen Dokumentarfilm« vor (das Wort hybrid haben wir ja ohnehin nie so recht in unsere Herzen schließen mögen). »Fiktionaler Dokumentarfilm« ist ein Oxymoron, also ein Zusammenschluss zweier gegensätzlicher Begriffe und damit, wenn auch nicht wahnsinnig originell, gar nicht mal so schlecht.
Im Haus der Kunst in München läuft gerade eine Ausstellung des Karrabing Film
Collectives aus Australien. 50 Mitglieder fasst die Gruppe und es ist die erste umfassende Einzelausstellung einer indigenen Künstler:innengruppe aus Australien, in der Pressemappe steht außerdem dazu: »Ihre häufig als 'improvisierter Realismus' beschriebenen Arbeiten öffnen einen Raum jenseits des klassischen, binären Konzepts von Spielfilm und Dokumentarfilm.« Ich empfehle den Besuch der Ausstellung, habe mich aber über dieses angeblich »klassische« Konzept
geärgert, denn das mit der Binarität ist ja schon lange nicht mehr haltbar und war es wahrscheinlich noch nie, weder im Kino- noch im Kunstbereich. Trotzdem war es immer schon ein Ausgangspunkt für zahlreiche wichtige Diskurse. Ich bin nicht dafür, die beiden Begriffe: Fiktionaler Film/Spielfilm und Dokumentarfilm aufzugeben, schon alleine um sich an etwas reiben, um über etwas diskutieren und nachdenken zu können und das muss man besonders über all das »Dazwischen« (siehe auch G_GESCHICHTEN und Lovemobil: Wo im Dunkeln konstruiert wird).
Dieses Mal also anhand von Olaf Jagger, der am 06.04. in den Kinos startet. Nichts gegen Olaf Jagger, aber ich hatte mir, als ich mit dieser Reihe anfing, doch erhofft, dass ich eine etwas größere, monatliche Dokumentarfilmauswahl hätte. Leider finde ich in der Liste, in der ich Filmstarts recherchiere, wöchentlich etwa 8-11 Starts von fiktionalen Filmen und in jeder Woche nur 1 Dokumentarfilmstart. Das ist dramatisch, selbst wenn ich den ein oder anderen übersehen habe. Was ist denn da los?! Und das jetzt, wo Nicolas Philiberts Sur l’Adamant den Goldenen Bären bekommen hat!?! Der einzige Dokumentarfilm im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale! Wollen wir uns nicht mehr mit der Gegenwart beschäftigen? Und wenn, nur in kleinen Häppchen in den Mediatheken? Ich meine, ich schaue auch regelmäßig »Zu Tisch« auf Arte, esse Kaffee und Kuchen im Gartencenter und höre den »Drei???-Fall der Woche«, zum Runterkommen, aber will ich das im Kino? Unter dem Aspekt finde ich die Entscheidung für Sur l’Adamant, den ich nicht gesehen habe, aber in dem es anscheinend um Menschlichkeit, Empathie und Verständnis geht, der es schafft, Probleme zu zeigen, aber auch Lösungen, die in uns liegen, sehr gut.
Ist Olaf Jagger menschlich? Na, zumindest ist er manchmal lustig und fällt im Großen und Ganzen in die Ablenkungssektion, was ihm vielleicht zu vielen Zuschauer:innen verhelfen wird. Immerhin macht er ja schon mal eins richtig: Er hantiert mit großen Namen.
Olaf Jagger
Der Vorname bezieht sich auf Olaf Schubert (eigentlich Michael Haubold), der mit Karopullunder in der heute-Show sitzt und mit ziemlich überzeugender Miene, scheinbar ziemlich plausibel, unplausible Dinge erzählt. Hier ist der erste, quasi doppelt-fiktionale Moment: Michael Haubold aka Olaf Schubert aka Olaf Jagger. Ist Michael Haubold jetzt eigentlich ein Schauspieler? Oder
Kleinkünstler? Performer? Michael Kirby, ein Theatertheoretiker, würde das, was er macht wohl als »simple acting« bezeichnen und das ist nicht so despektierlich gemeint, wie es vielleicht klingt (Sacha Baron Cohen als Borat »simple overacted« dagegen), und es passt für diesen Film. Mit uns macht sich Olaf auf die Suche nach seinem möglichen Vater: Mick Jagger. Diese Suche bildet die fiktionale
Linie, die durch die reale Welt führt. Am 11. September 1965 gaben die Rolling Stones ihr allererstes Deutschlandkonzert in Münster. Das stimmt. Olaf Schubert äh Haubold ist ein bisschen zu spät geboren, nämlich 1967, aber das ist mir jetzt auch zu spitzfindig, ich nehme die Prämisse einfach mal an und die heißt: Olaf Schubert! macht sich auf die Suche nach der fiktionalen Wahrheit [sic].
Was kann man, außer recherchierbaren Fakten, noch in einem Film tun, um ihn zu einem
Dokumentarfilm zu machen? Ganz genau: Man nutzt eine bewegte Handkamera, die manchmal nicht hinterherkommt und die man in sensiblen Momenten um Privatsphäre bittet, Super 8-Familien-Aufnahmen, das Durchbrechen der vierten Wand, Bauchbinden und wenn man es sehr echt will, dann nimmt man auch noch Diskussionen über Bildrechte mit rein.
Olaf Schubert macht sich mit all dem auf und reist in die Musikgeschichte der DDR und befragt Zeitzeugen und Zeitzeuginnen nach den damaligen Umständen. Eine davon ist Christine Dehn, die beim DDR-Jugendhörfunksender DT 64 Moderatorin war und mit der Olaf Schuberts Mutter gearbeitet hat (oder nicht?). Die beiden laufen während ihres Gesprächs durch aufgelassene Teile des ehemaligen Rundfunkgebäudes, quasi on location. Dann sind da noch Toni Krahl, der Sänger der Rock-Band
»City«, als Gegensatz dazu Hartmut König, ehemaliger Liedermacher und Sekretär des Zentralrates der FDJ, dann SED-Funktionär und ab 1989 stellvertretender Kulturminister ... und noch viele weitere. Leider dürfen Krahl und alle anderen nicht lange erzählen, denn sie müssen ja die fiktive Geschichte weitertreiben. Das ist sehr schade, denn sie erzählen schon in den wenigen Minuten so viel Interessantes über die ostdeutsche Rockmusik und Kulturpolitik, dass man gerne mehr erfahren
würde. Aber Olaf muss weiter, er recherchiert auch in Westdeutschland und landet schließlich in Frankreich vor Jaggers Ferienhaus, äh Château. Das macht schon auch Spaß, aber dazu muss man den Stil von Olaf Schubert mögen. Er kann improvisieren und hat eine gute Art, entspannt auf sein Gegenüber einzuwirken, so dass sie gerne erzählen. Nach etwa 40 Minuten gibt es dann eine »Auflösung«, das bedeutet aber leider auch, dass der Film in den privaten Bereich abkippt. Jetzt wird es ein
bisschen schwierig, denn diese persönliche, mit starken Emotionen verbundene Geschichte muss jetzt von Haubold getragen werden, der zwar gut interagieren und improvisieren kann, aber der jetzt doch ein bisschen allein gelassen wirkt.
In Olaf Jagger wird leider vieles, was interessant wäre – und das ist eben nicht die fiktive Geschichte, die ist ja relativ simpel – nur anerzählt, und das
ist schade, trotzdem ist es ein sympathischer Film und in jedem Fall einer, in dem man sich entspannen kann.
Sorry Genosse
Zu einem anderen Dokumentarfilm, der auch in der DDR angesiedelt ist und Anfang des Jahres in den Kinos lief: Sorry Genosse von Vera Brückner. Er erzählt die Liebesgeschichte von Hedi und Karl-Heinz, die in Hedis Flucht aus der DDR mündet. Es ist so schön, wie schwer
Liebesgeschichten im Dokumentarfilm zu erzählen, was hier aber funktioniert, denn obwohl die beiden nicht mehr zusammen sind, spürt man doch die Energie zwischen ihnen: In den Briefen, die sie vorlesen, in den Blicken die sie sich zuwerfen, dem gemeinsamen Erinnern an das Zusammensein und sich nach dem Anderen sehnen. Wir erinnern uns mit ihnen aber auch an die politischen Umstände Ende der 60er-Jahre, die die Beiden mal als Aufbruch sehen, als Chance und Herausforderung, die
sich aber oft als Hürde herausstellen. Vera Brückner hat nach Orten gesucht, die aus den 70ern stammen könnten, und die beiden in diese Settings gesetzt. Daneben wird auch hier mit Footage aus der Zeit gearbeitet, dieses Mal aber vor allen Dingen, um die persönliche Geschichte auch historisch einzubetten und nicht, wie bei Olaf Jagger, rein emotional. So zeigt der Film, wie bedeutsam und fesselnd es ist,
wenn Menschen ihre eigene Geschichte erzählen, wie es ja auch bei Olaf Jagger anklingt. Im zweiten Teil von Sorry Genosse wird dann mit vollem Einsatz und mit aller Absurdität Hedis Flucht aus der DDR als Kriminalspiel nachgestellt. Mit dabei: Settings, Requisite, Licht, Farben, durchdachte Texte, die Spannung
erzeugen. Wir gehen mit den Beiden in diesen Genrebruch, denn das Leben ähnelt eben manchmal auf absurde Weise dem Spielfilm.
So ein Spielfilmdreh kann auch eine Motivation sein, anhand derer man die Realität erkundet, so macht es KRAI.
KRAI (2021)
»Wann fahren wir zurück nach Wien?« – »Wenn das Projekt beendet ist.« Der Regisseur Aleksey Lapin dreht einen historischen Spielfilm über ein Dorf an der russisch-ukrainischen Grenze. Und der Filmdreh ist fiktiv, oder doch nicht? Die Bewohner*innen, unter ihnen auch einige von Lapins Familienmitgliedern, bewerben sich als
Schauspieler:innen. Aber sind die Castingszenen Vorarbeit oder schon Teil des Films? Und was ist mit dem ein bisschen eitlen Auftreten der Filmcrew, die bei einem Stadtfest in einer sehr schönen Szene vorgestellt wird? Möglicherweise ist das aber auch egal, mir zumindest ging es nach einer Zeit so, dass ich es gar nicht mehr auseinanderhalten wollte, weil die Mischung so merkwürdig, interessant und auch befremdlich ist, dass keine Kategorie mehr Halt fand. Fragmente fädeln sich auf:
Begegnungen, Zufälle, Inszenierungen, Rätselhaftes. Ein Auto bleibt liegen, der Strom fällt aus. Ein mäanderndes, magisches Making-off das, anders als Olaf Jagger oder Sorry Genosse, so gut wie nicht mehr narrativ ist, man kann nur noch einzelne Fäden zu kleinen Geschichten spinnen. Dokumentarfilm war
eigentlich schon immer Film »nach dem Drama«, nur leider scheint das in letzter Zeit immer mehr vergessen zu werden, was sicher auch daran liegt, dass das Drama sich als Erwartung des Publikums durchgesetzt hat, weswegen wir es auch im Dokumentarfilm suchen. Dabei ist der Dokumentarfilm etwas ganz was Kniffliges, vielleicht spielt er deshalb in der bildenden Kunst so eine große Rolle. Also suchen wir auch in KRAI: Wovon soll der Film handeln? Man erfährt es nicht, aber man könnte es in ein paar Szenen erahnen: Irgendwie geht es um eine Liebe oder doch nicht? Dann wieder gibt es Szenen, in denen sie einen Kameramann zeigen, der in einer orthodoxen Kirche filmt und über seine Leidenschaft für das Filmen spricht, das scheint sehr dokumentarisch, ebenso wie die Tableaux in denen Situationen entstehen, die ihre Zeit brauchen, um sich zu entfalten, wie die
pensionierte Lehrerin, die vor einer Blumentapete und Kissen mit Spitzenbezug sitzt, in einem Blumenkleid. Es werden ein paar Fragen nach ihrer Vergangenheit gestellt. Sie antwortet, erzählt über ihre Arbeit, über ihren Mann. Oder eine Gruppe, die sich über das Vergehen der Zeit unterhält, den Sozialismus, sie spielen Gitarre, singen und befinden sich dabei in einem abendlichen Dämmerzustand. Es ist ein Film über einen Film, in dessen Rahmen ein Film über einen Ort entstanden ist
und das alles gehört zusammen.
Brüder der Nacht (2016)
Patric Chihas Film erzählt von bulgarischen Burschen in Wien, die wissen, wann sie am Film teilnehmen und wann nicht. So können sie sich in das orange-blaue Licht stellen, in den Spot, an eine Bar, an den Fluss, mit Nebel, mit Kostüm, mit Bezahlung und (ihre) Geschichten erzählen. Die Absprache war, anders als bei KRAI, klar, auch für uns Zuschauer:innen, weil die Künstlichkeit schön und sehr offensichtlich ist. Ähnlich auch wie bei Sorry Genosse, nur das hier das populäre Kino (wenn man es so nennen möchte) bedient wird und nicht das Arthaus-Kino (falls man es so nennen möchte), Chiha inszeniert sie im Stil von
Fassbinders Querelle.
Dann sehen wir die Burschen im »Rüdiger«, einer Wiener Kneipe, in der sie auf ihre Freier warten, posieren, Billard spielen, Bier trinken oder in ihre Handys gucken und sich gegenseitig Bilder und Filme zeigen und von ihren Familien in Bulgarien erzählen. Kurz kommen wir auch in ihre Zimmer, die schäbig und überteuert sind, wo sich der eine auf seinem Bett
zusammenrollt und sagt: Er komme gleich mit zu einer Prostituierten und man meint – aber man meint es natürlich nur – seine Erschöpfung zu sehen, auf dem ausgelegenem Bettlaken. Momente der Beobachtung, die sie Chiha vertrauensvoll geben.
Dabei ist es auch weniger wichtig, was sie genau sagen, sondern wie sie es sagen und wie sie sich dabei bewegen. So ist Brüder der
Nacht auch ein Film der Körper, der Blicke, der Gesten: Bewegungen, Provokationen und Annäherungen. Die letzte Szene ist dabei nicht die einzige, aber die offensichtlichste: eine bulgarische Party, auf der die Burschen alleine und miteinander tanzen. Ohne Worte erfährt man dabei etwas über Sehnsucht, Schmerz, Freude, Zärtlichkeit, Aggression, Einsamkeit, Nähe und Zusammengehörigkeit. Das ist sinnliche, körperliche Spannung anstelle einer dramatischen.
»Was für ein Film ist das nun, fragt Alejandro Bachmann, ein Dokumentarfilm oder nicht vielmehr ein Spielfilm mit Laiendarstellern? Für Chiha: Eine Reise vom Dokumentar- zum Spiel- zum Dokumentarfilm.«.
Klare Grenzen sind schwierig, aber wie ich schon zu Beginn geschrieben habe, denke ich nicht, dass deswegen alles beliebig werden sollte und man keine Begriffe wie Spiel- und Dokumentarfilm mehr bräuchte, im Gegenteil, man sollte die Chance haben, beides zu erkennen, so dass man zur Miterschaffenden der Filme wird. Dabei sollte man aber eben nicht misstrauisch werden, sondern kompetent und neugierig sein, auch darin, Ambivalenzen zuzulassen.