ABSTAND/ZOOM
G_GESCHICHTEN |
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Nichtereignisse liefern keinen Stoff. Über sie lässt sich aber trotzdem wunderbar erzählen, wie der narrative Dokumentarfilm Aus einem Jahr der Nichtereignisse beweist | ||
(Foto: Ann Carolin Renninger/René Frölke) |
Von Nora Moschuering
Diese Pandemie zieht sich.
Hier liege ich nur extrem abgeschlafft auf meinem Bett herum. Egal wie lange dieses ganze Pandemieding noch geht, jetzt gäbe es die Zeit, seinen Roman oder seine Biografie zu schreiben, und wie sieht es damit bei mir aus? Ich liege hier auf dem Laken und hinterlasse einen Abdruck. Viel mehr nicht. Das kann man sich auch schwer schönreden. Vielleicht mit Eierlikör auf Sprühsahne ein bisschen schöntrinken, aber auch nur ein bisschen.
Alles ist gerade unterbrochen, auch unsere Storylines, die wir mal vor irgendwem gepitcht haben und denen wir nun zu folgen versuchen oder die wir uns retrospektiv erzählen, um Ordnung in die Ereignisse zu bringen.
Wie sehen diese Geschichten aus, die wir uns über das Leben erzählen, und was wollen wir darüber sehen? Der Dokumentarfilmer Dietmar Post nennt es auf artechock in Bezug auf den inszenierten Dokumentarfilm Lovemobil das Einfordern der »schönen Relotius-Geschichte«. Eingefordert wird sie von Dokumentarfilmfestivals, Preis-Jurys und vielleicht ja auch schon von den Filmhochschulen, sie alle will ich da – neben den Fernseh-Redaktionen – nicht ausnehmen, aber ich würde behaupten, dass auch die ZuschauerInnen danach verlangen. Ein bisschen auch das alte Henne und Ei-Problem. Mittlerweile wird nämlich das »Geschichten erzählen«, das »Storytelling«, auch auf unser Leben angewendet, und wenn Dokumentarfilme das auch noch übernehmen, obwohl ich behaupte, dass es gar nicht da ist, beißt sich natürlich das Ei in die Henne oder so. Natürlich ist das eine These und ich kann mir vorstellen, dass auch Romane aus dem 19. Jahrhundert Ideen für die Interpretation der Geschehnisse im eigenen Leben boten, nur las man eben nicht 5-6 Romane in einer Woche. Falsch ist das ja auch nicht, nur ist es natürlich schon zu hinterfragen, dass jetzt ausgerechnet Dokumentarfilme das auch noch bedienen müssen, eben jene Kausalketten- und Sinngebungsstruktur mit Dramaturgie und Entwicklung der Personen, eben informativ und unterhaltend sein sollen. Dabei ist das Leben und sind damit auch die Dokumentarfilme immer Versuche, auf die man sich einlässt, denen man folgt und deren Ergebnis offen ist, und das eben für beide Seiten: Die Filmemachenden und ZuschauerInnen. Es kann dabei eine Narration geben, es muss aber nicht.
Eigentlich wollte ich diesen »Geschichten«-Text mit George Lucas beginnen, weil der sich gerade ein Museum baut: Das »Lucas Museum of Narrative Art«, das sich ganz dem visual Storytelling widmen soll. Es ähnelt sehr einem Raumschiff, na ja: Spaceships are the story of his life. Tobias Kniebe hat sich 2017 in einem Artikel, der das Lucas-Museum als Ausgangspunkt nahm, mit dem »Modewort Narrativ« beschäftigt. Er benennt den Philosophen Jean-François Lyotard, der in den 80ern über das Ende der »großen Erzählungen«, der »Metaerzählungen« – übersetzt als Narrativ – schrieb, als indirekten Aufbringer dieser Mode. Aber was ist das »Narrativ«? »Eine sinnstiftende Herkunfts- oder Entwicklungsgeschichte, ohne die eine Gemeinschaft nicht existieren kann.« Ob das Lucas meint? Ob das im Englischen so benutzt wird? Auch im Deutschen ist der Begriff »Narration« heute sehr dehnbar. Kniebe dazu: »Das Gehirn ist die größte Narrationsmaschine überhaupt, und die eingebaute Funktion der erzählerischen Sinnstiftung, über die es verfügt, ist im Prinzip auch nicht abschaltbar.« Vielleicht gilt das ja auch für unser Leben. Also wieder: Was war zuerst da? Der Film und seine Vorgaben oder unser Wille zur Strukturierung, zur Sinnfindung in allem? Und welchen Einfluss hat denn dieses ständige Storytelling auf uns? Was macht denn das, wenn wir uns unser eigenes Leben als Bildungsreise vorstellen, Kausalkettenabfolge, hin zu … ja zu was denn eigentlich? Zum Happy End? »Und wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende?« Von wem ist dieser bescheuerte Satz eigentlich?
Auch DokumentarfilmerInnen wollen Geschichten erzählen und ich frage mich: Was soll denn das heißen: Ihr wollt Geschichten erzählen? Laufen die da draußen so rum, die Dreiakter? Andererseits weiß ich genau, was sie meinen, ich verstehe das und mir geht es ja auch so, aber: Jetzt tötet sie doch endlich mal, die Katze! Schmeißt sie raus die Plotpoints und Meilensteine! Oder: Viel viel mehr rein davon. Chaos. Versuche, die im Werden Gestalt annehmen, auch eine, die wir nicht haben kommen sehen, oder die wir noch gar nicht kennen.
Natürlich können Filme Orientierungspunkte bieten, sie können uns trösten oder aufregen, wir können uns für eine Weile identifizieren – das muss aber auch wirklich nicht sein – und uns an Erfahrungen reicher, verständiger und empathischer machen. Aber hilft es uns wirklich, uns unser Leben als eine Art Heldengeschichte zurechtzucoachen, oder ständig auf die Eule zu warten, die uns in unsere Meta-Erzählung einweist? Welche »Narrative« hat denn dieses Hollywood-Storytelling möglicherweise schon über uns gekippt, in denen wir jetzt feststecken: Happy End, der Sieg des Fleißigen, die Liebe des Lebens und die Kernfamilie? (Wie es auch im Umfeld von Marketing- und Kommunikationsagenturen auftaucht.)
Es muss auch nicht auf diese Art erzählt werden, nicht im fiktionalen Film und erst recht nicht im Dokumentarfilm, weil es eben nicht so ist. Aber da tut sich auch schon so einiges und auch vieles im Dokumentarfilm.
Der wunderschöne Dokumentarfilm Aus einem Jahr der Nichtereignisse macht den Alltag eines alten Mannes »erzählenswert« und auch, ja, jetzt komme ich noch mal zurück auf Elke Lehrenkrauss, sie hat in Sachliche Romanze einen Film über eine Nicht-Geschichte »erzählt«. Es geht um den Versuch eines Ehepaares, nach einer Trennung, die schon ein paar Jahre zurückliegt, wieder zum Paar zu werden, weil es aus verschiedenen Gründen praktisch wäre: Man hätte ein gemeinsames Haus, ihre Flucht aus der Ehe in die Freiheit hat nicht das geboten, was sie erhofft hat, sie haben einen Pool und vor allem: Man wäre nicht mehr alleine. Sie treffen ein paar Tage im Alltag wieder aufeinander, und man spürt in allem, ihren Blicken, ihren Gesten, dass das zwar eine eigentlich gut klingende Idee ist, die aber im Leben nichts zu suchen hat. Am Schluss geht sie, dafür gibt es keinen konkreten Anlass, keinen Streit, sie ist nur einfach nicht mehr da, und er lebt weiter zwischen sehr vielen alten Dingen in einem Haus, und der Pool füllt sich mit modrigen Blättern. Nichts weiter. Alles erzählt in unspektakulären, kargen Einstellungen (ich kann nur hoffen, dass die »Romanze« nicht inszeniert war).
Filme können auch eine Art Sammlung sein, wie es Ursula K. Le Guin in den 80ern in ihrer »Tragetaschentheorie des Erzählens« schreibt. Das Sammeln ist ja auch vielleicht viel eher ein Bild für unsere Leben als die Heldenreise. Die Filmemacherin Agnès Varda sammelte, am Offensichtlichsten natürlich in Die Sammler und die Sammlerin.
Die Theoretiker und Filmemacherin Trịnh Thị Minh Hà »erzählt« ihre »Geschichten« ganz anders, als wir es aus dem US-amerikanischen Kino – und damit sind wir nun mal aufgewachsen – gewohnt sind. Sie dekonstruiert alles, was wir von den »Alten Meistern« gelernt haben, damit meint sie besonders Anthropologen, aber auch Filmemacher. Sie nutzt dabei jedes einzelne filmische Element neu und sicher erst einmal irritierend anderes, z.B. in »Reassemblage«. Außerdem versucht sie Filme zu machen, die »not to speak about/ just speak nearby« »erzählen«, sie versucht also, jegliche Autorität und Hierarchisierung zu vermeiden. Es geht ihr darum, Konventionen offen zu legen und sie zu hinterfragen, denn Konventionen sind keine Naturgesetze, sondern Gewohnheiten und Auswirkungen von Machtstrategien, die man auch ändern kann.
Es geht also nicht nur darum, neue Geschichten zu erzählen, sondern auch darum, wie man es tut.
Sie können überraschend sein, Spaß machen, unerwartet und zufällig daherkommen, für uns unbekannte Bilder zeigen. Sie können auch spröde sein, unsicher und ohne narrative Kohärenz und Zusammenhang, ästhetisch rau, zerfasert, fragmentarisch. Wir müssen dann geduldig und genau beim Zuschauen sein.
Und ja, ich finde, dass Dokumentarfilme da einen anderen Maßstab haben sollten als fiktionale Filme, weil das »Haltlose« dem Leben entspricht. Denn ja, vielleicht ist unser Leben gar keine dramatische und sinnige Geschichte. Wir sind ziemlich viel mit Geld verdienen, Zähne putzen und Essen zubereiten beschäftigt, nein, und es muss kein Happy End geben, die Geschichte kann auch vorher enden, oder irgendwie ganz anders weitergehen.
Und was geht bei dir so?
Ich sitze immer noch da, wo ich vor einer Woche schon saß, und ich glaube, es läuft auch noch immer der gleiche Film.