76. Filmfestspiele Cannes 2023
Die Träumenden |
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Das Narrative lässt Federn: Lisandro Alonsos Eureka | ||
(Foto: Slot Machine | Cannes 2023) |
Von Dunja Bialas
»Die Zeit ist eine Erfindung der Menschen, nur der Raum existiert wirklich.« Der Satz aus Lisandro Alonsos Eureka, mein Einstieg in ein verregnetes Cannes, passt perfekt zu meinem Zustand. Wer mich fragt, seit wann ich hier bin, bekommt eine diffuse Antwort. Seit gestern, nein seit heute, eigentlich erst wenige Stunden. Ich bin mit dem Nachtzug gefahren, Sitzplatz im Sechserabteil, es ging eine ganze Nacht lang über Villach nach Genua, dort eineinhalb Stunden Bewunderung dieses wahnsinnig schönen Entrees in die Stadt, die sich über mehrere Etagen – drei? vier? – auf den steilen Hügeln ringsum aufbaut. Nach dem Staunen dann weiter, die regennasse Mittelmeerküste entlang, grau in grau taucht plötzlich das Meer zur Linken auf, ein Tunnel führt zur unterirdischen Station von Monte Carlo, vielleicht, damit man der Stadt nichts weggucken kann.
Dennoch eine durch und durch lineare und fahrplanmäßige Reise. Nur wegen der Unterschiedlosigkeit von Tag und Nacht gelang es ihr, das Zeitbewusstsein zu verwirren. Große Empfänglichkeit aber daher für den neuen Film des Argentiniers Alonso. Eureka, ich hab’s – der Filmtitel spannt ein irritierendes Assoziationsfeld zu Archimedes und dem abendländischen Rationalismus auf. Alonsos Film aber ist viel mehr dessen Antithese oder überhaupt keine These. Sondern ein labyrinthisches Roadmovie in der Zeit, in dem sich die Spuren der Protagonisten immer wieder verlieren und die Geschichte ohne Umstände auf andere Figuren übergehen kann. Wie in einem kollektiven Geschichtsverlauf, in dem einfach die Perspektive der Erzählung wie ein Staffelstab an den nächsten Protagonisten weitergereicht wird.
Alles beginnt in 4:3, Academy Format, Schwarzweiß. Ein, ja: Indianer erspäht auf einem Felsen eine offene Pferdekutsche mit einem Sarg, auf dem Kutschbock sitzt eine Nonne in zerfledderter Tracht. Angekommen in einer schlammdurchfluteten Westernstadt lädt sie den Sarg ab und einen Mitreisenden, den genretypischen Fremden, der den Ort aufräumen wird. Bald geht es hinein in die Raufereien, Messerstechereien und den Kugelhagel, während der Ort sich mehr und mehr als Sündenpfuhl geriert: volltrunkene Westerner, bis in die Morgenstunden ausgehfreudiges, leichtes Weibsvolk. Die Lust liegt hier in den letzten Zügen, bevor sie unter wildem Blockflötengequietsche zum delirierenden Höhepunkt gelangt.
Während man sich fragt, was Alonso denn geritten hat, das klassische Westerngenre derart zu überdrehen, kommt auch schon die Auflösung. Alles nur Film im Film, der Western läuft im Fernsehen. Wird aber sogleich auch als Intro und Mise en abyme, also als Kondensat dessen, was folgen wird, verständlich: Der gesetzte semantische Raum geht weiter, öffnet sich im Breitbild auf die farbige Jetztzeit, verharrt noch kurz im Vexierbild, wenn man nach Orientierung im neuen Raum sucht – eine Frau in Polizeiuniform durchkramt einen Wandschrank in einem Wohnzimmer, auf dem Sofa ein Native American Girl. Ein paar Dialoge später ist klar: die Polizistin ist die Mutter, die ihren Dienst antritt. Draußen ist dunkle Nacht, Schnee, wir sind im hohen Norden, in Süd-Dakota. Auf den beleuchteten Landstraßen Werbeschilder: »Buffalo«, eine Spielhalle wirbt, Jameson Whiskey, Reminiszenzen an das zerstörte Leben der Native Americans. Süd-Dakota war der Schauplatz einer heftigen Kolonialisierung und der größten Massaker an der indigenen Bevölkerung: Crow Creek, Sioux, Northern Pacific Railway, Tod der Büffelherden – nur ein paar Stichworte, hinter denen sich das kollektive Trauma verbirgt.
Drei Geschichten übergeben im Verlauf des Films einander den Stab: von der Polizisten-Mutter wechselt die Erzählperspektive auf die Tochter, die deren Verschwinden mitbekommt, »174 dispatch 10-23« verhallt es ohne Antwort auf der Polizeitstation, wo MacKenzie, die Tochter, ihre Mutter erwartet. Sie geht zu ihrem indigenen Großvater. »I’m still here«, sagt er, übergibt ihr einen Kräutersud, den sie trinken soll. Danach werde es nie wieder so sein wie es war. Sie ist bereit. Eine Kamerafahrt später, die nach draußen führt, wo der Opa einen Wandervogel fliegen sieht, und wieder zurück auf das Sofa, wo die Tochter den Tee nahm, finden sich nur noch ein paar lose Federn auf der Sitzbank.
Fortan übernimmt ein phantastischer Kranich die Erzählung. In schäbigem CGI guckt er und wendet seinen Hals, fliegt auf, klappt die Beine zusammen, fliegt. Wie in El Auge del humano (The Human Surge) des Argentiniers Eduardo Williams gelangt auch Eureka – Überblendungen kennzeichnen das umstandslose Überwinden des Raums – an den südlichen Teil der Erdkugel, mitten in den Dschungel Brasiliens. Das Bild engt sich wieder ein, 4:3. Eine Art indigene Schule, die Schüler erzählen sich ihre Träume. Eine große Langsamkeit greift um sich, der Film gelangt fast zum Stillstand, als er dann doch noch einen großen Satz macht – zu den Goldschürfern. Eine Crime-Story tut sich auf, rohe Gewalt bricht sich Bahn, die Kolonialisierungsgeschichte ist da, der Kreis zum Western hat sich geschlossen. Aber jetzt sind wir auf die andere Seite des Bildes gelangt.
Alonso fordert mit seinem traumhaften Phantasma heraus. Die Figuren werden fallen gelassen zugunsten eines tieferen Zusammenhangs der Geschichte. Nicht das Einzelschicksal, das Individuum interessiert ihn, vielmehr das Erleben eines kollektiven Traums oder Alptraums. Nach Los Muertos, Fantasma und dem stärker narrativen Liverpool ist er diesmal noch einen Schritt weiter gegangen und wagt sich in das unebene Gelände einer nicht mehr geschlossenen und keinesfalls restlos erschließbaren Erzählung, die jedoch auf eine tiefere Ebene abzielt. Letztlich ist Eureka eine lyrische Klage über den brutalen Kolonialismus und das Vernichten der indigenen Lebensweise.
Interessanterweise ist Eureka in der Reihe »Cannes Première« untergekommen, mit Cerrar los ojos des spanischen Altmeisters Victor Erice und Perdidos en la noche von Amat Escalante sind es drei spanischsprachige unter sieben Produktionen der Sektion.
»Cannes Première« wurde erst 2021, mitten in der Pandemie, als neue Sektion geschaffen. Sie ist Filmen »großer Namen« gewidmet, die nicht unbedingt den »Kriterien des Wettbewerbs« gehorchen, wie es auf der Website heißt – welche genau diese auch sein mögen.
Denn der Wettbewerb um die Goldene Palme lässt sich dieses Jahr formal sehr heterogen an. Neben den großen Produktionen des Erzählkinos und zwei Filmen aus unterrepräsentierten Filmländern (Tunesien, Senegal) konkurriert auch Wang Bings dreieinhalbstündiger Dokumentar-Film-Fleuve Qing Chun (Chun) / Youth (Spring) um die Goldene Palme. Damit wurde erstmals seit Michael Moores Fahrenheit 9/11 ein Dokumentarfilm in den Wettbewerb aufgenommen. Während Moore aber den Gesetzen des narrativen Kinos gehorcht, zumindest, wenn er den Zuschauer an die Hand nimmt und ihm erzählt, wie er was zu finden hat, widersetzt sich Wang mit seinem Cinema Direct ähnlich wie Alonso der thetischen Geschlossenheit. Ihm geht es eher um ein Aufsammeln von losen Geschichten, sein Film ist fast mehr eine sich enthaltende, dokumentierende Bestandsaufnahme denn Dokumentarfilm als autorengesteuerte Interpretation der Wirklichkeit.
Youth (Spring) taucht ein in die Sweatshop-Hochburg Zhili, sieht in den kargen, teilweise familiengeführten Ateliers, die sich wie Legebatterien in mehrstöckigen Arbeits-Häusern reihen, den jungen Näherinnen und Nähern bei ihrer Akkordarbeit zu. Immer wieder nimmt Wang seine Kamera in die Hand, folgt ihnen auf den Fersen – ein Markenzeichen seines dokumentarischen Stils – wenn sie die heruntergekommenen Außengänge in der Arbeiterstadt entlanggehen, schwere Ballen mit Stoffresten auf die Straße fallen lassen, im Wohnheim versuchen, ihre Jugend zu leben.
Das laute Surren der Nähmaschinen begleitet die Bilder, Ruhe ist nur, wenn die Arbeiter*innen in ihre Schlafsäle gehen, Instantnudeln aus Plastikschalen essen. Die Jugend ist aber auch da, der Titel ist kein (oder nicht nur) Zynismus. Sie flirten, gehen aus, erzählen sich von dem Leben, das sie sich erhoffen. Ihr Gehalt werden sie nicht nur nach Hause schicken. Sie werden auch Klamotten kaufen – Klamotten, die andere junge Menschen im Akkord gefertigt haben. Der Kreis schließt sich zum System, das sich aus sich selbst heraus erfüllt. Ein Perpetuum mobile im Turbokapitalismus, Fast Fashion und Wanderarbeit. Wang wird seine Bestandsaufnahme um weitere drei Teile ergänzen, zum Jahreszyklus, der den Kreislauf von Produktion und Konsumation auf die Spitze treiben wird.
Youth ist kaum ein Film, der auf die Goldene Palme hoffen darf. Dennoch ist die Wettbewerbsteilnahme ein gutes Zeichen für die genreübergreifende Öffnung in einem Weltkino, das in Bewegung geraten ist.