22.05.2023
76. Filmfestspiele Cannes 2023

Die Träumenden

Eureka
Das Narrative lässt Federn: Lisandro Alonsos Eureka
(Foto: Slot Machine | Cannes 2023)

Lisandro Alonsos Eureka provoziert die Erwartungen an das Erzählkino mit einer lyrischen Klage über den Kolonialismus. Mit Wang Bings Youth (Spring) ist seit Jahren wieder ein Dokumentarfilm im Wettbewerb um die Goldene Palme

Von Dunja Bialas

»Die Zeit ist eine Erfindung der Menschen, nur der Raum existiert wirklich.« Der Satz aus Lisandro Alonsos Eureka, mein Einstieg in ein verreg­netes Cannes, passt perfekt zu meinem Zustand. Wer mich fragt, seit wann ich hier bin, bekommt eine diffuse Antwort. Seit gestern, nein seit heute, eigent­lich erst wenige Stunden. Ich bin mit dem Nachtzug gefahren, Sitzplatz im Sech­ser­ab­teil, es ging eine ganze Nacht lang über Villach nach Genua, dort einein­halb Stunden Bewun­de­rung dieses wahn­sinnig schönen Entrees in die Stadt, die sich über mehrere Etagen – drei? vier? – auf den steilen Hügeln ringsum aufbaut. Nach dem Staunen dann weiter, die regen­nasse Mittel­meer­küste entlang, grau in grau taucht plötzlich das Meer zur Linken auf, ein Tunnel führt zur unter­ir­di­schen Station von Monte Carlo, viel­leicht, damit man der Stadt nichts weggucken kann.

Reise ins Fantasma des Kolo­nia­lismus: Eureka

Dennoch eine durch und durch lineare und fahr­plan­mäßige Reise. Nur wegen der Unter­schied­lo­sig­keit von Tag und Nacht gelang es ihr, das Zeit­be­wusst­sein zu verwirren. Große Empfäng­lich­keit aber daher für den neuen Film des Argen­ti­niers Alonso. Eureka, ich hab’s – der Filmtitel spannt ein irri­tie­rendes Asso­zia­ti­ons­feld zu Archi­medes und dem abend­län­di­schen Ratio­na­lismus auf. Alonsos Film aber ist viel mehr dessen Antithese oder überhaupt keine These. Sondern ein laby­rin­thi­sches Roadmovie in der Zeit, in dem sich die Spuren der Prot­ago­nisten immer wieder verlieren und die Geschichte ohne Umstände auf andere Figuren übergehen kann. Wie in einem kollek­tiven Geschichts­ver­lauf, in dem einfach die Perspek­tive der Erzählung wie ein Staf­fel­stab an den nächsten Prot­ago­nisten weiter­ge­reicht wird.

Alles beginnt in 4:3, Academy Format, Schwarz­weiß. Ein, ja: Indianer erspäht auf einem Felsen eine offene Pfer­de­kut­sche mit einem Sarg, auf dem Kutsch­bock sitzt eine Nonne in zerfled­derter Tracht. Ange­kommen in einer schlamm­durch­flu­teten Western­stadt lädt sie den Sarg ab und einen Mitrei­senden, den genre­ty­pi­schen Fremden, der den Ort aufräumen wird. Bald geht es hinein in die Raufe­reien, Messer­ste­che­reien und den Kugel­hagel, während der Ort sich mehr und mehr als Sünden­pfuhl geriert: voll­trun­kene Westerner, bis in die Morgen­stunden ausgeh­freu­diges, leichtes Weibsvolk. Die Lust liegt hier in den letzten Zügen, bevor sie unter wildem Block­flö­ten­ge­quiet­sche zum deli­rie­renden Höhepunkt gelangt.

Während man sich fragt, was Alonso denn geritten hat, das klas­si­sche Western­genre derart zu über­drehen, kommt auch schon die Auflösung. Alles nur Film im Film, der Western läuft im Fernsehen. Wird aber sogleich auch als Intro und Mise en abyme, also als Kondensat dessen, was folgen wird, vers­tänd­lich: Der gesetzte seman­ti­sche Raum geht weiter, öffnet sich im Breitbild auf die farbige Jetztzeit, verharrt noch kurz im Vexier­bild, wenn man nach Orien­tie­rung im neuen Raum sucht – eine Frau in Poli­zei­uni­form durch­kramt einen Wand­schrank in einem Wohn­zimmer, auf dem Sofa ein Native American Girl. Ein paar Dialoge später ist klar: die Poli­zistin ist die Mutter, die ihren Dienst antritt. Draußen ist dunkle Nacht, Schnee, wir sind im hohen Norden, in Süd-Dakota. Auf den beleuch­teten Land­straßen Werbe­schilder: »Buffalo«, eine Spiel­halle wirbt, Jameson Whiskey, Remi­nis­zenzen an das zerstörte Leben der Native Americans. Süd-Dakota war der Schau­platz einer heftigen Kolo­nia­li­sie­rung und der größten Massaker an der indigenen Bevöl­ke­rung: Crow Creek, Sioux, Northern Pacific Railway, Tod der Büffel­herden – nur ein paar Stich­worte, hinter denen sich das kollek­tive Trauma verbirgt.

Drei Geschichten übergeben im Verlauf des Films einander den Stab: von der Poli­zisten-Mutter wechselt die Erzähl­per­spek­tive auf die Tochter, die deren Verschwinden mitbe­kommt, »174 dispatch 10-23« verhallt es ohne Antwort auf der Poli­zei­t­sta­tion, wo MacKenzie, die Tochter, ihre Mutter erwartet. Sie geht zu ihrem indigenen Großvater. »I’m still here«, sagt er, übergibt ihr einen Kräu­tersud, den sie trinken soll. Danach werde es nie wieder so sein wie es war. Sie ist bereit. Eine Kame­ra­fahrt später, die nach draußen führt, wo der Opa einen Wander­vogel fliegen sieht, und wieder zurück auf das Sofa, wo die Tochter den Tee nahm, finden sich nur noch ein paar lose Federn auf der Sitzbank.

Fortan übernimmt ein phan­tas­ti­scher Kranich die Erzählung. In schäbigem CGI guckt er und wendet seinen Hals, fliegt auf, klappt die Beine zusammen, fliegt. Wie in El Auge del humano (The Human Surge) des Argen­ti­niers Eduardo Williams gelangt auch Eureka – Über­blen­dungen kenn­zeichnen das umstands­lose Über­winden des Raums – an den südlichen Teil der Erdkugel, mitten in den Dschungel Brasi­liens. Das Bild engt sich wieder ein, 4:3. Eine Art indigene Schule, die Schüler erzählen sich ihre Träume. Eine große Lang­sam­keit greift um sich, der Film gelangt fast zum Still­stand, als er dann doch noch einen großen Satz macht – zu den Gold­schür­fern. Eine Crime-Story tut sich auf, rohe Gewalt bricht sich Bahn, die Kolo­nia­li­sie­rungs­ge­schichte ist da, der Kreis zum Western hat sich geschlossen. Aber jetzt sind wir auf die andere Seite des Bildes gelangt.

Alonso fordert mit seinem traum­haften Phantasma heraus. Die Figuren werden fallen gelassen zugunsten eines tieferen Zusam­men­hangs der Geschichte. Nicht das Einzel­schicksal, das Indi­vi­duum inter­es­siert ihn, vielmehr das Erleben eines kollek­tiven Traums oder Alptraums. Nach Los Muertos, Fantasma und dem stärker narra­tiven Liverpool ist er diesmal noch einen Schritt weiter gegangen und wagt sich in das unebene Gelände einer nicht mehr geschlos­senen und keines­falls restlos erschließ­baren Erzählung, die jedoch auf eine tiefere Ebene abzielt. Letztlich ist Eureka eine lyrische Klage über den brutalen Kolo­nia­lismus und das Vernichten der indigenen Lebens­weise.

Inter­es­san­ter­weise ist Eureka in der Reihe »Cannes Première« unter­ge­kommen, mit Cerrar los ojos des spani­schen Altmeis­ters Victor Erice und Perdidos en la noche von Amat Escalante sind es drei spanisch­spra­chige unter sieben Produk­tionen der Sektion.

»Cannes Première« wurde erst 2021, mitten in der Pandemie, als neue Sektion geschaffen. Sie ist Filmen »großer Namen« gewidmet, die nicht unbedingt den »Kriterien des Wett­be­werbs« gehorchen, wie es auf der Website heißt – welche genau diese auch sein mögen.

Denn der Wett­be­werb um die Goldene Palme lässt sich dieses Jahr formal sehr heterogen an. Neben den großen Produk­tionen des Erzähl­kinos und zwei Filmen aus unter­re­prä­sen­tierten Film­län­dern (Tunesien, Senegal) konkur­riert auch Wang Bings drei­ein­halb­stün­diger Doku­mentar-Film-Fleuve Qing Chun (Chun) / Youth (Spring) um die Goldene Palme. Damit wurde erstmals seit Michael Moores Fahren­heit 9/11 ein Doku­men­tar­film in den Wett­be­werb aufge­nommen. Während Moore aber den Gesetzen des narra­tiven Kinos gehorcht, zumindest, wenn er den Zuschauer an die Hand nimmt und ihm erzählt, wie er was zu finden hat, wider­setzt sich Wang mit seinem Cinema Direct ähnlich wie Alonso der theti­schen Geschlos­sen­heit. Ihm geht es eher um ein Aufsam­meln von losen Geschichten, sein Film ist fast mehr eine sich enthal­tende, doku­men­tie­rende Bestands­auf­nahme denn Doku­men­tar­film als autoren­ge­steu­erte Inter­pre­ta­tion der Wirk­lich­keit.

Die schwit­zenden Träume der Jugend: Youth

Youth (Spring) taucht ein in die Sweatshop-Hochburg Zhili, sieht in den kargen, teilweise fami­li­en­ge­führten Ateliers, die sich wie Lege­bat­te­rien in mehr­s­tö­ckigen Arbeits-Häusern reihen, den jungen Nähe­rinnen und Nähern bei ihrer Akkord­ar­beit zu. Immer wieder nimmt Wang seine Kamera in die Hand, folgt ihnen auf den Fersen – ein Marken­zei­chen seines doku­men­ta­ri­schen Stils – wenn sie die herun­ter­ge­kom­menen Außen­gänge in der Arbei­ter­stadt entlang­gehen, schwere Ballen mit Stoff­resten auf die Straße fallen lassen, im Wohnheim versuchen, ihre Jugend zu leben.

Youth
Wang Bing: Youth (Foto: Wang Bing | Cannes 2023)

Das laute Surren der Nähma­schinen begleitet die Bilder, Ruhe ist nur, wenn die Arbeiter*innen in ihre Schlaf­säle gehen, Instant­nu­deln aus Plas­tik­schalen essen. Die Jugend ist aber auch da, der Titel ist kein (oder nicht nur) Zynismus. Sie flirten, gehen aus, erzählen sich von dem Leben, das sie sich erhoffen. Ihr Gehalt werden sie nicht nur nach Hause schicken. Sie werden auch Klamotten kaufen – Klamotten, die andere junge Menschen im Akkord gefertigt haben. Der Kreis schließt sich zum System, das sich aus sich selbst heraus erfüllt. Ein Perpetuum mobile im Turbo­ka­pi­ta­lismus, Fast Fashion und Wander­ar­beit. Wang wird seine Bestands­auf­nahme um weitere drei Teile ergänzen, zum Jahres­zy­klus, der den Kreislauf von Produk­tion und Konsu­ma­tion auf die Spitze treiben wird.

Youth ist kaum ein Film, der auf die Goldene Palme hoffen darf. Dennoch ist die Wett­be­werbs­teil­nahme ein gutes Zeichen für die genreü­ber­grei­fende Öffnung in einem Weltkino, das in Bewegung geraten ist.