76. Filmfestspiele Cannes 2023
Die Atmenden |
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Konzentrierter Blick auf den Man in Black: Wang Bing | ||
(Foto: Wang Bing | Cannes 2023) |
Von Dunja Bialas
»What a terrible day / I am tired / We are all alone / We have to know why we suffer!« Der portugiesische Regisseur Pedro Costa hatte mit seinem Vanda-Zyklus ab 1997 (Ossos / Haut und Knochen) die kapverdische Diaspora in Lissabons Armenviertel Fontainhas gefilmt, wo er auch Vanda Duarte kennenlernte. Bis zum Abriss der slumartigen Siedlung, den er in Horse Money begleitet hat, schuf er den Menschen um Vanda herum ein filmisches Denkmal. Mit Licht und Dunkelheit hatte er im eigenwilligen Einsatz seiner Digitalkamera intim-expressionistische Gemälde im Chiaroscuro geschaffen, flirrend oszillierend zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Das setzte er fort, auch Vitalina Varela (2019), der zu Teilen auf den Kapverden gedreht wurde, ist Gemälde und politische Klage über das Schicksal der kapverdischen Einwanderer zugleich. Jetzt zeigt er in Cannes in einer Séance Spéciale As Filhas do Fogo (Les filles du feu), der zunächst als Installation zusammen mit dem portugiesischen Künstler Rui Chafes im Georges Pompidou 2022 zu sehen war.
Costas Schritt in die Kunstwelt war nur ein kleiner. Schon 2003 realisierte er eine erste Installation im Rotterdammer Witte de With, die die damalige Museumsleiterin Catherine David auf der Basis von Costas bahnbrechendem Film In Vandas Zimmer (2000) in Auftrag gegeben hatte. Sie machte ihn mit dem Lissabonner Künstler Rui Chafes bekannt, der die Installation um Costas Bilder herum konzipierte. Sein Triptychon As Filhas do Fogo wird in der Kino-Uraufführung von Cannes zum Single Channel. Auf den drei nebeneinander liegenden Bildern singen drei Schwestern von ihrer Trennung durch einen Vulkanausbruch. Die einzelnen Bilder auf der Leinwand separieren und verbinden sie zugleich, rechts und links liegen auf dem Vulkanschotter zwei der Frauen, sie sehen nach oben, zu einem imaginären Vulkan, ihre Augäpfel leuchten weiß in der Schummrigkeit, hinter ihnen eine blut- und glutrot durchzogene schwarze Gesteinswand. In der Mitte aufrecht die Dritte. Dann noch ein Auszug aus einem Film, den der portugiesische Geograph Orlando Ribeiro aufgenommen hatte, als er 1951 auf der Insel war. Die Einwohner treten vor ihre kargen Steinhütten, ein kurzes ethnographisches Zeugnis ihrer Existenz.
Der letzte Vulkanausbruch auf der Insel war 2014, sie ist die Ilha do Fogo, Insel des Feuers, kaum bewohnbar. Die Rassentrennung zwischen den europäischen Herren und den afrikanischen Sklaven hielt sich hier lange, bis 1910, auf anderen Inseln hatten sich die Klassen (und Rassen) schon zur kreolischen Kultur vereinigt. Die Vulkanausbrüche auf der Insel können emblematisch für das Leiden der Bevölkerung gelesen werden. Und dachte man, dass Costa nach dem Abriss des Fontainha-Viertels und dem Verlust von Vanda als Protagonistin sein Sujet wechseln würde, lässt auch diese künstlerische Arbeit erkennen, dass Costa den Atem der kapverdischen Bevölkerung weiterträgt, er weiter davon erzählt, sie von ihrem Schicksal zu heilen.
Die installative Arbeit allerdings zeichnet nun auch den Weg nach, den schon Harun Farocki genommen hatte. Dessen analytischen Dokumentarfilme kondensierten sich immer mehr im installativen Zusammenhang zum Artefakt, wenn er mit der Gleichzeitigkeit der Gedanken und Bildentwürfen spielte; aus der Filmwelt zog er sich mehr und mehr zurück, auch wenn er sich immer noch dazu rechnete. Die Rezeptionsbedingungen waren schwerer geworden. Hoffen wir, dass Costa den Weg zurück ins Kino findet, der auch geeignete Produktionsbedingungen, nicht nur die Kunst, umfasst.
Wang Bing ist der zweite der »alten Meister«, die die Filmfestspiele von Cannes in den Kunstraum überführen, mit Man in Black – der zusätzlich zu seinem Wettbewerbsbeitrag Youth (Spring) (wir berichteten) in einer Séance Spéciale zu sehen ist. Wang hatte einzelne Filme schon früher als »films for exhibition« gelabelt, wohl wissend um die Handlungsarmut seiner dokumentarischen Beobachtungen, in denen man das Leben der Arbeiter in Echtzeit mitverfolgen konnte. Wie im Vierzehnstünder Crude Oil (2008), der den harten Alltag der Öl-Arbeiter auf einem Hochplateau im Norden Chinas während eines ganzen Tages zeigt. Man in Black hingegen begibt sich während einer Stunde in ein Theater. Ein völlig nackter, alter Mann sitzt auf den Rängen. Trommeln, dissonante Orchestermusik. Der Mann steht auf, geht hinunter zur Bühne, im Hintergrund ein Flügel. Die Kamera umfängt den Mann, umkreist ihn, zeigt ihn in seiner ganzen Nacktheit, seine geschundene Haut, sein altes Geschlecht. Dann geht er in Skispringerhaltung, beugt den Oberkörper vor, die Arme nach hinten gestreckt, die Fäuste geballt. Die Musik steigert sich zum Sirenengeheul.
Nach ein paar undefinierten Lauten beginnt der Mann zu singen, erst mal nur in Tönen, dann mit Text. Und wir verstehen, was wir in Erinnerung an seinen Film Dead Souls über ehemalige Inhaftierte in chinesischen Umerziehungslagern schon ahnten: der Mann wurde zum politischen Opfer der chinesischen Politik. Wang Xilin kommt aus der Tiefe der Zeit, 1949, mit 13 Jahren heuerte er bei der Armee an, durchlief eine Ausbildung als Militärkomponist, erwies sich als begnadet und wurde gechasst, als er eine künstlerische Ausbildung wollte, keine politische. Er kehrte der Partei den Rücken, wurde mit 26 Jahren inhaftiert. 1966 kam die Kulturelle Revolution, er wurde interniert und gefoltert. Wang Xilin, heute 86, ist noch immer einer der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten Chinas. Mit zurückgehaltener Wut erzählt er von Selbstmorden von Kollegen, vom Umschreiben ihrer Werke im parteipolitischen Sinne. Während immer wieder seine Symphonien mit Kraft anheben, bleibt er nackt. Die Kamera fährt seinen Körper entlang, arbeitet die skulpturale Struktur der hervortretenden Adern heraus, seine Verletzlichkeit. Wang Xilins Körper inkarniert das nackte Leben, von dem Giorgio Agamben schrieb, sein vernarbter und geschundener Körper ist die bloße leibliche Existenz und biopolitische Landkarte der Staatsgewalt, die ihn gefangen hielt.
Wang Xilin singt Lieder, kraftvoll, der Bauch hebt und senkt sich beim Atmen. Immer wieder umkreist die Kamera ihn im schwarzen Kubus des Théâtre Buff im Norden von Paris. Es ist der erste Film, den Wang, der schon lange im französischen Exil lebt, in Frankreich gedreht hat. Am Ende des Films singt Wang Xilin ein Lied, wo sich der »Man in Black« als eine Figur aus einer Kurzgeschichte des Anti-Konfuzianisten Lu Xun herausstellt, als Rächerfigur mit geheimnisvollen und hexenhaften Zügen. Für uns aber hat sich der Man in Black als nacktes Leben im schwarzen Theaterraum eingebrannt. Ein unter die Haut gehendes Bild, das wieder einmal vorführt, wie Kunst politisch und Politik kunstvoll sein kann.
Die letzte Bemerkung folgt natürlich dem Geiste Jean-Luc Godards, der forderte, nicht politische Filme zu machen, sondern Filme politisch zu machen. Der große JLG ist noch einmal zu Gast im Théatre Debussy im Grand Palais, angeblich war es sein liebster Kinosaal an der Croisette. Der letztes Jahr Verstorbene (Festivalchef und Conférencier Thierry Frémaux lässt es sich natürlich nicht nehmen zu sagen: »il a décidé de partir«, er hat beschlossen zu gehen) wird noch einmal herbei- und angerufen, wie in einer Geisterbeschwörung. Ein TV-Biopic, anmaßend betitelt als Godard par Godard (niemals hätte sich Godard so porträtiert) erklärt, warum sein Werk groß ist und seine Zitate toll. Dann aber Drôles de Guerre, angekündigt als Godards »letzte Geste des Kinos« (ultime geste de cinéma) und Film annonce, Trailer zu einem Film, den es niemals geben wird.
Das Label »Film« stellt sich dann aber als Täuschung, wenn nicht gar Enttäuschung heraus. Was der Produzent, Kameramann und enge Mitarbeiter Fabrice Aragno aus dem Schweizer Örtchen Rolle, Wirkungsstätte von Godard, mitgebracht hat, ist eher eine Abfolge unbewegter Bilder, die aus Textausrissen, Videostills (Histoire(s) de Cinéma) und Godard’scher Beschriftung collagiert sind, eine Art 2D-Installation. Etwa: Passion und sentiment, aber durchgestrichen. Der »Film« ist natürlich sehr hermetisch, allusiv, mit enigmatischen letzten Worten: »… avant de devenir une agence juive«, »ein jüdisches Reisebüro«, ja, das sind die letzten Worte.
Das bleibt jetzt als vage impressionistisches Fragment so stehen. Natürlich muss man den »Film« noch mal sehen, drei Mal mindestens, wie Godard immer gefordert hat. Verstehen wird man ihn nie restlos, aber das war auch Intention von Godard, während er Zitate und Tonspuren sich überlappen ließ, Musikklänge anspielte und auf die Werke nur mit einem Augenschlag verwies.
Aragno erklärt dann doch, was der Hintergrund für die Hinterlassenschaft ist: Godard wollte als nächsten Film den Roman Faux passeports (Prix Goncourt 1937) von Charles Plisnier in Film transponieren, der aus mehreren Kapiteln besteht, das je einer anderen Figur gewidmet ist. Zeitraum ist die Oktoberrevolution von 1917 und die Dreißigerjahre. Aragno: »Er wollte ein Drehbuch in sechs Kapiteln. Sechs ist für ihn die erste der perfekten Zahlen, wie er immer sagte. Er hat begonnen, Collagen in sein Notizbuch zu kleben. Dann sind die Monate vergangen.« Jean-Luc Godard, der als Atemloser begonnen hatte, hat am Ende einfach den Atem angehalten. Und, ja, es ist großes Pathos zu sagen: Sein Geist atmet immer noch – in Cannes aber ist dies wohlplatziert.