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All the Beauty and the Bloodshed: Mehr als eine zusammengekleisterte stimmungsvolle Collage? | ||
(Foto: Plaion Pictures/Studiocanal) |
Von Nora Moschuering
Betritt man den Kunstbau des Lenbachhauses und damit die Ausstellung »Leben? oder Theater?«, so wird man durch drei Akte eines Singspiels geführt, das Lebenswerk Charlotte Salomons (1917 Berlin – 1943 Auschwitz), das innerhalb von zwei Jahren in Südfrankreich entstanden ist. Der Ausstellungsraum öffnet sich zu einem Theater oder auch einem Kino, in dem man in seiner eigenen Zeit von Bild zu Bild und von Szene zu Szene geht. Jedes Bild ist dabei eine eigene Geschichte, ein
Gefühl, eine Komprimierung und Ausarbeitung gelebter und geträumter Momente. Das Singspiel, die Musik, spielt dabei auf mehreren Ebenen eine Rolle, sowohl inhaltlich, z.B. durch die Stiefmutter Paulinka Bimbam, die Sängerin ist oder Amadeus Daberlohn, Kriegsheimkehrer und Gesangspädagoge, als auch als Musikeinlagen in den Szenen, die als Notizen auf den Blättern stehen. Man folgt Salomons Geschichte und Geschichten: sie erzählt vom Freitod ihrer Tante, dem Leben ihrer Mutter, der
Liebesgeschichte ihrer Eltern, der eigenen Geburt, dem Leben in Berlin, dem Verlust der Mutter, der Stiefmutter – eben jener Paulina Bimbam –, der ersten Liebe – eben zu jenem Amadeus Daberlohn –, der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Südfrankreich zu den Großeltern und dem Finden des Zeichnens und Malens als Ausdruck. Salomon arbeitet das Biografische, die Figuren, subjektiv aus, addiert Dinge, fügt Szenen hinzu, erinnert sich, meint sich zu erinnern,
erinnert sich für andere. Dabei geht es um zwischenmenschliche Beziehungen, Depression, Liebe, Erwartungshaltungen, das Verhältnis von Männern und Frauen, aber auch um das Leiden durch den 1. Weltkrieg und die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Salomon malt sich eine Lebenserzählung, ein Verwobensein ihrer Gefühle mit der Umgebung.
Die Raumerfahrung der Ausstellung ist sehr zu empfehlen, das Jewish Cultural Quartier in Amsterdam hat das gesamte Werk aber auch
aufgearbeitet, Musik hinzugefügt und zugänglich gemacht.
CHARLOTTE SALOMON, LIFE AND THE MAIDEN
Auf dem DOK.fest lief Charlotte Salomon, Life And The Maiden von Delphine und Muriel Coulin, ein Dokumentarfilm, der wie Salomons Werk ebenso dokumentarisch wie fiktional ist. Die beiden Regisseurinnen ergänzen Salomons Bilder durch Archivmaterial, das aus der erzählten Zeit stammt, also etwas vom »echten« Leben mit reinnimmt. Sonst konzentrieren sie sich auf Salomons Bilder, die sie dezent animieren, ohne
dabei etwas hineinzugeben, was nicht in den Bildern liegt. Die Erfahrung im Kino ist dabei noch mal eine andere als im Museum, man bewegt sich nicht selber durch die Geschichte, sondern die Bilder kommen einem in Groß näher, man wird geleitet und sie werden gewichtet. Vicky Krieps spricht Charlotte Salomon mit dieser leicht rauen, etwas knarzenden Zartheit, die einerseits Verletzlichkeit, aber auch Stärke und Trotz transportiert.
Charlotte Salomon, Life And The Maiden ist die sensible Übertragung einer Kunst in eine andere, ohne dass dabei die andere, also der Film, vergisst, was er für eigene Qualitäten hat. Damit ist er dem Film All the Beauty and the Bloodshed (»All die Schönheit und das Blutvergießen«, Goldener Löwe in Venedig) von Laura Poitras nicht unähnlich, der Nan Goldins Leben und Werk behandelt.
ALL THE BEAUTY AND THE BLOODSHED
Anders als der Film Charlotte Salomon, der sehr konzentriert und klar in seinen Bildern und Textpassagen ist und Zeit und Lücken für eigene Gedanken lässt, hat dieser Film fast etwas Barockes, etwas Überbordendes, denn hinter jeder Falte, die sich auftut, kommt wieder eine neue Falte zu Tage und noch eine. Da sind die zwei Hauptthemen: Der Kampf der Fotografin Goldin gegen die Familie Sackler und ihren Pharma-Konzern
Perdue, der das Opioid Oxycontin herstellt und vertreibt und nachgewiesenerweise für die Opioid-Krise in den USA mitverantwortlich ist. Die Familie tritt gleichzeitig als große Mäzenin zahlreicher Kulturinstitutionen auf, in denen auch Werke von Goldin ausgestellt sind. Die andere Falte: Das Leben und Werk der Künstlerin Goldin, die selber Oxycontin-abhängig war, nachdem sie es wegen einer Handgelenk-OP verschrieben bekommen hatte. Man folgt ihr durch die 70er- und
80er-Jahre, nach dem Selbstmord ihrer Schwester und dem Verlassen ihrer Familie und mit ihrer queeren Wahlfamilie, die sie in ihren Fotografien zeigt.
Das ist eine naheliegende Entscheidung, die in der Umsetzung aber komplex ist, entstanden ist dadurch ein sehr dichter Film, bei dem man ab und an verpasst, aus Fakten ein Gefühl zu entwickeln oder andersherum. Beispielsweise vergisst man aufgrund eines guten Gefühls, dass die Fakten gar nicht so gut sind. 2021 beispielsweise müssen drei Sackler-Familien-Mitglieder per Zoom Opfer anhören. Das ist gelinde gesagt eigentlich nichts, bedenkt man, dass sie für Hunderttausende von Opioid-Toten mitverantwortlich sind und mit einem lächerlichen Vergleich aus dem Gerichtsverfahren kommen, u.a. weil Perdue Pharma Konkurs anmeldet und damit die Familienmitglieder Milliardäre bleiben. Der Film verkauft diese Anhörung wie einen sehr emotionalen Sieg. Das ist vielleicht auch ein Hollywood-Thema: Die »David gegen Goliath-Geschichte«, sie muss gut ausgehen (wobei hier mal dahingestellt sein mag, ob ausgerechnet Goldin eigentlich ein »David« ist). Hier wäre ein bisschen mehr Zeit für Reflexion und auch Wut gut gewesen und ein Blick auf das große Ganze, z.B. auf Justiz- und Staatsversagen. Die Sacklers haben Oxycontin mit der aggressiven und falschen Behauptung vermarktet, dass es nicht stark sei und nicht süchtig mache, bei einem Opioid, das chemisch mit Heroin verwandt und doppelt so stark wie Morphium ist.
Poitras arbeitet hier ganz anders als bei dem im Vergleich dazu »minimalistischen« Citizenfour (2014), für den sie den Oscar bekommen hat und der zum großen Teil aus einem Interview mit dem Whistleblower Edward Snowden in einem Hotel besteht. All The Beauty And The Bloddshed wurde von Goldin produziert und man kann davon ausgehen, dass es ein kollaboratives Filmemachen war, denn wie Salomons Bilder sind auch Goldins Fotografien cineastisch, sie hat sowohl ein Gefühl für Bilder als auch fürs Geschichtenerzählen. Ihr bekanntestes Werk: »Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit« besteht aus 800 Bildern und zeigt die schwierige Beziehung von Männern und Frauen und wurde in privaten Kreisen, in Bars, Galerien, Museen, aber auch in Kinos, als Diashow mit Musik gezeigt. Goldin hatte zudem schon Material der Aktionen gegen die Sackler-Familie gefilmt, bevor 2019 Poitras in das Projekt einstieg. Goldin ist sich der Bedeutung von Sichtbarmachung und Öffentlichkeit bewusst, für ihre Fotografien und sicher für diesen Film: »Ich war immer eine Aktivistin!« Auch der Film hat eine klare Haltung, er begleitet die doch recht kleine P.A.I.N.-Gruppe, »Prescription Addiction Intervention Now«, die von Goldin gegründet wurde, bei ihren Aktionen, z.B. im Metropolitan Museum of Art (MET) oder im Guggenheim Museum, wo sie Pillendosen und Rezepte verteilen und sich auf den Boden legen oder bei Demonstrationen oder Einsatzbesprechungen: Der Gegner ist klar. Anhand der Familie Sackler wird das Thema »Artwashing« angesprochen. In den USA wird Kunst zum größten Teil privat gefördert, durch Stiftungen und Mäzene, die damit auch ihren Namen und Image reinwaschen. Genau dagegen möchten Goldin und P.A.I.N. vorgehen, sie möchten, dass die Namen der Sacklers aus den Galerien verschwinden und diese kein Geld mehr von ihnen annehmen und, Spoiler, der Gruppe gelingt es – das ist das große »Happy End«.
Das ist auch beileibe kein Thema, das Goldin angestoßen hat. 2014 gab es Proteste, als das MET eine Spende des Multimillionärs David H. Koch annahm, dessen Familie zu den Hauptunterstützern der rechtskonservativen Tea-Party-Bewegung gehören. In Deutschland sind vielleicht die Proteste rund um den Sammler Friedrich Christian Flick bekannt, Erbe des Flick-Konzerns, der 2003 seine Sammlung dem Hamburger Bahnhof geben wollte. Das Vermögen von Flick entstand durch Rüstungsfabriken, in denen Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge während des Nationalsozialismus ausgebeutet wurden. Natürlich war das ein Versuch, den Namen Flick auf eben diesem Weg von der Assoziation mit NS-Verbrechen zu befreien. Ein aktueller Fall ist der Protest um die Kunstausstellung »Dimensions« in Leipzig, die vom US-amerikanischen Datenanalyse-Unternehmen Palantir gesponsort wird, das durch den rechtskonservativen Peter Thiel gegründet wurde.
Zurück zum Film: Parallel zu der Erzählung der Aktionen geht es von Beginn an in einer anderen Ebene von den 60er-Jahren bis ins Heute (Goldin ist 1953 geboren). Den Rahmen bildet dabei ihre Schwester und deren Selbstmord: Es geht um eine gutbürgerliche Fassade, Frauenfiguren und ihre Schicksale, Schweigsamkeit und Verdrängung und besonders das Loch, das ihre Schwester hinterließ (ähnlich wie die Tante und die Mutter bei Salomon). Die Familienfotos reiht der Film auf wie Goldins Fotostrecken. Sie beschreibt ihr Leben in Pflegefamilien, ihre lähmende Schüchternheit und Sprachlosigkeit, bis sie auf David trifft, einen Freund und Fotografen. Goldin: »Wir haben uns gegenseitig befreit!«, durch ihn begann sie zu fotografieren. Sie zieht mit ihrer Wahlfamilie zusammen, beschreibt aber auch Beziehungen, die man heute als toxisch bezeichnen würde, und zeigt Orte, wie die Tin Pan Alley Bar am Times Square, in der sie als Barkeeperin gearbeitet hat und die von Frauen geleitet wurde. Ende der 70er zieht sie in die Bowery, sie macht Kunst, arbeitet als Tänzerin und Sexarbeiterin und stellt zum ersten Mal ihre Bilder aus. HIV bricht aus und der Interessensverband Act Up entsteht, der gegen die Stigmatisierung der Krankheit kämpft. Hier sind große Parallelen zur Opioid-Krise und P.A.I.N. zu finden. Das sind nur einige der Verstrebungen, die es im Film gibt, und man kann doch viel mehr von einem dreidimensionalen Myzel sprechen als von Falten.
Ich habe für diesen Text noch eine Reibungsfläche gefunden: Einen Artikel von Catrin Lorch, der am 25.04.23 im SZ-Feuilleton erschienen ist: Im Rausch des Erzählens. Der Text hat seit seinem Erscheinen in mir gearbeitet und das nicht nur, weil hier Begriffe einerseits so lapidar genutzt wie andererseits so vehement und absolut gesetzt werden: Die Begriffe Kunst, Dokumentation und Dokumentarfilm.
Catrin Lorch beginnt mit: »Laura Poitras hat einen Film über die Fotografin Nan Goldin und ihren Kampf gegen schmutziges Geld in der Museumswelt gemacht. Doch ist das noch Dokumentation oder schon ein eigenes Kunstwerk?« Also ja, gute Frage. Oder halt nein: Gibt es da, zwischen diesen beiden Polen nicht noch etwas anderes? Den Dokumentarfilm – oder auch den künstlerischen Dokumentarfilm und unsere Richtungsneigung, etwas klarer zu setzen? Vielleicht ist das als Einführung catchy, ich weiß es nicht, aber zu was führt das eigentlich: Kunstbeflissene nicken und denken sich: Oho Kunst im sonst nur für Unterhaltung bekannten Kino, aber da stehe ich dann Schlange mit den Indiana Jones-Fans und die, die auf Informationen hoffen: Oha, das kann aber nicht gutgehen, ich mache lieber das TV an. Beide Seiten sind verwirrt. Das kann dazu führen, dass sie weiterlesen, ihre Verwirrung lösen wird das aber nicht.
Stellen wir uns den Dokumentarfilm doch mal als eigenes filmisches Kunstwerk vor, auch hier gibt es sie nämlich, die dekorative, die l’art pour l’art, die unterhaltende, die aktivistische, surreale, expressive, performative, ruhige, laute, aufklärerische, provokante, essayistische ... Kunst. Die klassische Dokumentation ist die Art Fernsehformatierung und -Normierung, die eher selten ins Kino kommt, sondern in Senderabläufe und Strukturen passt, einen anderen Auftrag hat und journalistischer arbeitet. Das heißt freilich nicht, dass ein Kino-Dokumentarfilm nichts mit journalistischem Arbeiten zu tun haben muss, aber dazu gleich mehr.
Etwas später: »Im Mai läuft All the Beauty and the Bloodshed in deutschen Kinos an. Aber handelt es sich da wirklich um einen Dokumentarfilm?« – gut also jetzt eben ein anderer Begriff, sie scheinen hier synonym verwendet zu werden. »Als Genre ist die Art von dokumentarischem Künstlerfilm, zu der All
the Beauty and the Bloodshed gehört, noch vergleichsweise jung. Es dauerte, bis Film- und Videokünstler zu der Unbefangenheit fanden, die es braucht, um die Kamera so subjektiv zu verwenden wie Stift, Pinsel, Meißel«. Nun also »dokumentarischer Künstlerfilm«, das finde ich eigentlich einen interessanten Begriff, er meint also keine Künstler*innen-Biografie, sondern einen Film von einem Künstler oder einer Künstlerin selber, der dokumentarisch ist, also ein Kunstwerk. Wir
erinnern uns an die Regisseurin des Films, Laura Poitras (by the way Oscar-Gewinnerin), die hier kurz mal weggewischt oder zu Goldins Handlangerin wird oder zu ihrem Stift, Pinsel oder Meißel.
Poitras wird von Lorch als »Chronistin einer David-gegen-Goliath-Geschichte« (ja das habe ich von ihr im oberen Teil des Textes zitiert) bezeichnet. Ich habe eben versucht, die vielen Facetten des Filmes zu beschreiben, seine Dichte, ihn als reine Chronik zu bezeichnen ist schon gewagt, denn eben
diese sehr dramaturgische David-gegen-Goliath-Geschichte muss ja von jemandem herausgearbeitet werden. Außerdem geht es niemals einfach nur um eine reine Begleitung, die gibt es ohnehin nicht, immer stehen Fragen der Nähe, der Entfernung, der Perspektive, der Einstellungen, der Kamerabewegung, der Vorbereitung und des Tons im Raum, ganz zu schweigen von Interviews, Schnitt, Musik, Archivmaterial, der Einbettung der Fotoarbeiten von Goldin, der Einbettung der eigenen
Person, der gesamten zusammenfassenden Dramaturgie, des Grading und der Tonmischung ... puh, Atem holen ... also die Mittel, die Filme haben und die Poitras verwendet.
Lorch macht weiter: »(...) – doch wirft der Film durchaus Fragen auf zu einem Genre, das sich immer mehr durchsetzt: dem radikal subjektiven Dokumentarfilm, dessen Thema selbst der Chef ist. Produziert hat ihn Nan Goldin selbst. ›Es ist meine Stimme, die meine Geschichte erzählt in meinen Bildern, also muss es vor allem für mich wahr sein, es muss das zum Ausdruck bringen, was ich sagen will‹, sagte Goldin in einem Interview«, das ist tatsächlich von Goldin nicht weit gedacht und auch arrogant und ignorant. Zum »radikal subjektiven Dokumentarfilm« (vielleicht so was wie der biografische Autor*innenfilm?): Den gibt es schon eine ganze Weile und er ist zahlreich. Hier ein paar Filmtipps vom diesjähirgen DOK.fest: Hypermoon von Mia Engberg, A Adieu Sauvage von Sergio Guataquira Sarmiento oder einfach alle Tagebuchfilme von Jonas Mekas oder Jan Peters. Das sind Filmemacher*innen, die Filme über sich machen, die Künstlerin Goldin allerdings macht keinen Film selber, über sich selber, sondern sie holt sich eine Filmemacherin dazu. Denn obwohl oder vielleicht sogar gerade, weil Goldin gleichzeitig Protagonistin und Produzentin ist, macht das Sinn. Goldins Aussage dazu: Na ja.
Und damit noch mal zum journalistischen Vorgehen, denn mit diesen Entwicklungen fallen laut Lorch »(...) auch viele Regeln und Konventionen weg: das Überprüfen von Fakten, Rückfragen an Beschuldigte, das Einbetten in größere Zusammenhänge, um nur einige zu nennen«. Man kann davon ausgehen, dass Poitras und auch Goldin die Fakten kennen und ihre Zahlen stimmen – sonst würde das sowohl ihnen, als auch der Sache schaden. Recherche und das Überprüfen von Fakten ist immer ein Teil des Filmemachens, es ist nur die Frage, ob man sich dafür entscheidet, es mit in den Film zu nehmen. Außerdem wird das Thema durchaus in größere Zusammenhänge eingebettet: z.B. mit den Parallelen zu HIV in den 80ern, auch über die Macht des Geldes und die Verstrickungen mit der Politik erfährt man etwas. Ich stimme aber zu, dass man da tiefer hätte gehen können und auch sollen, gerade für das internationale Publikum wäre das wichtig gewesen. Die Zivilklagen werden zwar erwähnt, ich finde aber auch, dass man andere Proteste hätte mit reinnehmen sollen, das wäre sympathisch und richtig gewesen, so steht Goldin als einzelne Heldin dar, als Individuum gegen den Rest, auch das ein alter US-amerikanischer Film-Topos, seit es Film gibt, in allen Western- und Superheldenfilmen oder bei Erin Brockovich.
In einer Passage geht es noch um den Einzug der Dokumentarismen in der Kunstwelt (dazu hat die Künstlerin und Filmemacherin Hito Steyerl ein empfehlenswertes Buch verfasst: »Die Farbe der Wahrheit«). Lorch: »Es waren künstlerische Werke, die sich als Realismus in der Folge eines Gustav Courbet begriffen. Aber auch als Gegenschuss zu den schnellen Bildern der Journalisten und Dokumentaristen verstanden wurden.« Auch Dokumentarfilmer*innen haben sich mit dem Begriff Realismus beschäftigt, also das tun sie ja quasi schon qua definitionem und dabei haben sie immer auch an »Gegenschüssen« gearbeitet, also gegen diese »schnellen« Bilder: mit langen Einstellungen, Darstellungen des Alltags, Slow cinema ... das beginnt spätestens in den 60ern bei den Pionieren des Direct Cinemas. Da ist immer schon auch künstlerischer Widerstand von Dokumentarfilmer*innen gegen die Bilderflut.
»(…) Goldin und Poitras (haben) aus Musik und Archivmaterial eine stimmungsvolle Collage zusammenkleistern (...)«. Poitras hat ihren Goldenen Löwen an Goldin weitergeleitet: »Ob das bedeutet, dass sie auch verstanden hat, dass ihr Film die Bezeichnung Dokumentarfilm nicht verdient, das wäre auch so eine Frage.« Offenbar ist es zum Schluss für Lorch weder ein eigenes Kunstwerk noch ein Dokumentarfilm, sondern eine »zusammengekleisterte stimmungsvolle Collage«. Na, auch eine Kategorie. Ich mache noch eine auf: Es ist ein aktivistischer Film, weil er in seinem Ziel ganz klar und wenig ambivalent ist, seine Dramaturgie gut konsumierbar und die Action, der Schnittrhythmus, oft so schnell, dass man keine Zeit zum Nachdenken hat. Aber es gibt sicher noch weitere.