26.05.2023
76. Filmfestspiele Cannes 2023

Die Indigenen

La Fleur de Buriti
Hybride Intimität: La fleur de Buriti
(Foto: Cannes 2023 | João Salaviza & Renée Nader Messora)

Kolonialisierung und Widerstand: La Fleur de Buriti taucht ein in den Dschungel Brasiliens, Schauplatz des Genozids an den Indigenen, Los colonos erzählt von der Zeit der Siedler in Chile

Von Dunja Bialas

Lisandro Alonso hat für dieses Cannes-Jahr mit Eureka das Framing für die Aufmerk­sam­keit indigener Völker gesetzt. Noch mindes­tens zwei weitere Filme wenden sich dem Schicksal indigener Völker zu. Als echte Entde­ckung darf der brasi­lia­ni­sche Film Crowrã (La Fleur de Buriti) gelten, eine Mischung aus Doku­mentar- und Spielfilm mit Laien­dar­stel­lern. Man könnte auch von einem kollek­tiven oder parti­zi­pa­tiven Projekt sprechen, das das portu­gie­si­sche Filme­ma­cher-Paar João Salaviza und Renée Nader Messora mit dem indigenen Volk der Krahô reali­siert hat – oder vielmehr mit den Über­le­benden eines Massakers. Drei histo­ri­sche Zustände werden durch­laufen: die Jetztzeit mit der funk­tio­nie­renden und behutsam moder­ni­sierten Gemein­schaft der Krahô, die trotz moderner Items wie Smart­phone, T-Shirts oder BHs in Schilf­hütten leben, das, was sie zum Essen brauchen, selbst kulti­vieren, sich im Fluss mit Kokos­seife waschen. Die Kinder spielen autark in der Natur, mit Papageien und Amei­sen­bären, klettern auf Bäume und vertreiben die Kühe, die sich über den Gemü­se­garten hermachen wollen, mit ihren Pfeilen. Den Menschen und ihren Geschichten kommt man ganz nahe, wie einer Mutter mit ihrer Tochter, die nach einer Matratze zum Schlafen verlangt. Die Mutter lehnt ab, das wäre der Anfang vom Konsu­mismus, der ihre Erde und ihre Lebens­grund­lage zerstören würde. In diesem kurzen Dialog zeichnet sich auch ein Hinter­fragen der Bräuche durch die nach­wach­sende Gene­ra­tion ab.

Die Blume des Dschun­gels

Salaviza und Messora haben schon andere Filme zusammen mit den Krahô reali­siert, ihr gemein­sames Lang­film­debüt Le Chant de la forêt gewann 2018 in Cannes den Spezi­al­preis der Jury. Für ihren neuen Film haben sie fünfzehn Monate mit dem indigenen Volk zusam­men­ge­lebt. Heraus­ge­kommen ist ein Film, der wirkt, als wäre er aus der Mitte der Krahô entstanden, es ist ihre Sicht auf die Geschichte der Kolo­nia­li­sie­rung und auf die brutale Landnahme. In vielen doku­men­ta­ri­schen Dialogen kriti­sieren die Krahô die Siedler-Politik der europäi­schen Einwan­derer explizit. Sie sind hellwach und bestens infor­miert, was ihre poli­ti­sche Situation anbelangt, auf einer Groß­de­mons­tra­tion in Brasilia verei­nigen sie sich mit den anderen Indigenen des Dschun­gels gegen Bolsonaro, die Rodung des Dschun­gels und die Landnahme für Vieh durch die »cupẽ«, wie sie die Neu-Brasi­lianer in ihrer Sprache nennen.

La Fleur de Buriti
(Foto: João Salaviza & Renée Nader Messora | Cannes 2023)

Über die doku­men­ta­ri­sche Erzählung spinnt sich noch die histo­ri­sche Ebene, die in einer blut- und feuer­rüns­tigen Szene vom Genozid erzählt, und eine phan­tas­ti­sche, mit Riten, Tänzen, Liedern. Aber auch die doku­men­ta­ri­sche Jetztzeit wirkt mit den starken Prot­ago­nisten wie insze­niert. Man denkt sofort an das Verfahren von Robert Flaherty in Moana – A Romance of the Golden Age (1926), dem ersten als Doku­men­tar­film benannten Werk. Er entwarf starke Prot­ago­nisten entlang einer Handlung: ein Verfahren, um die Distanz zur darge­stellten Welt zu über­winden.

Crowrã gliedert sich damit in die ersten großen ethno­gra­phi­schen Erzäh­lungen der Film­ge­schichte ein, ist aber auch als Projekt mit einer klaren Agenda zu verstehen. Der Ton kommt vom Anthro­po­logen Diogo Goltara. Im Stab finden sich viele Namen der Krahô, die beim Drehbuch mitwirkten und vor Ort die Produk­tion über­nommen haben. Der Centro Cultural Kajré dos Krahô wiederum hat für die histo­ri­sche Ausstat­tung gesorgt.

Trotz seiner deut­li­chen poli­ti­schen Agenda, Resti­tu­tion für die Krahô zu sein, ist der Film stets mehr als ein ethno­gra­phi­sches oder gar ethno­ak­ti­vis­ti­sches Projekt. Renée Mader Messora hat die Kamera geführt, sie dreht auf Kodak-Material. Die körnigen 16mm-Aufnahmen verleihen den Dschungel-Bildern Tiefe und Sorgfalt, als würden sie die Menschen umarmen, nicht einfach abbilden oder gar ihr Bild rauben – was auch im starken Sinne kultu­reller Film-Appro­pria­tion vieler von außen kommender Ethno­gra­phen gemeint ist. Satte Farben, ein leuch­tender Ster­nen­himmel in der dunklen Nacht, rot leuch­tende Bema­lungen der Krahô verleihen ihrer Existenz eine sublime Schönheit und Dignität.

Western à la Chiléo

Der Genozid, der im chile­ni­schen Feuerland an den Urein­woh­nern stattfand, ist das Thema des ungleich poppiger daher­kom­menden Los colonos des Chilenen Felipe Gálvez, der 2018 mit dem Kurzfilm Rapaz in der „Semaine de la Critique“ sein Cannes-Debüt hatte. Sein erster Langfilm ist jetzt in »Un certain regard« zu sehen. Los colonos – inter­na­tio­naler Titel: The Settlers – ist ein Western, fast schon klassisch, in dem es um die Besetzung des frucht­baren Landes geht, das der aris­to­kra­ti­sche Groß­ko­lo­nia­list José Menéndez, selbst­er­nannter »König von Pata­go­nien« braucht, um einen Zugang zum Atlantik zu haben. Er wollte die Isla Grande von den Selk’nam (oder Ona, wie sie im Film heißen) »reinigen«, die ihn empfind­lich daran störten, das Land einzu­nehmen. Ein ausge­sandtes Menéndez-Dreier-Trüppchen soll den Genozid vorbe­reiten, unter ihnen auch der Indio Segundo, eine in beide Rich­tungen oszil­lie­rende Verräter-Figur: Verrat an dem eigenen Volk auf der einen Seite, auf der anderen dann Verrat an seinen Auftrag­ge­bern. Zum Militär gesellt sich ein Wissen­schaftler, der vergeb­lich dafür plädoy­iert, die Indigenen nicht zu töten, sondern ihnen Bildung zukommen zu lassen, auf Univer­si­täten zu schicken, sie zu Inge­nieuren zu machen und von ihrer Intel­li­genz zu profi­tieren.

Los Colonos
(Foto: Felipe Gálvez | Cannes 2023)

Die Geschichte ist bekannt, 1887 kam es zu einem Genozid an den Selk’nam, innerhalb weniger Jahr­zehnte waren sie nahezu verschwunden, die Kultur kam Anfang des 20. Jahr­hun­derts völlig zum Erliegen. Von Beginn des Films an ist alles hoff­nungslos.

Felipe Gálvez’ Los colonos will mit seinem Film keine alter­na­tiven Fakten oder eine imaginäre Geschichts­um­schrei­bung schaffen. Sein Interesse liegt woanders: in Gestalt eines Westerns von dem Genozid erzählen, der immer noch nicht im Bewusst­sein der Chilenos gegen­wärtig ist. Er hat im 4:3-Format, ebenfalls auf Film­ma­te­rial, gedreht, fängt die weite Land­schaft in ihrer histo­ri­schen Beengt­heit ein, die hohen Anden, die grünen Weiden, die Schafs­herden, geht aber auch ganz dicht ran, in das Fell der Pferde, die die Männer striegeln. Auch die Gewalt wird gezeigt. Die Weißen schneiden den getöteten Indios ein Ohr ab, als Trophäe, viel­leicht auch als Beweis ihres Tötens. Segundo soll auf Befehl eine gefangene Indigene verge­wal­tigen, auch das eine harte Szene, wenn er sie statt­dessen lieber tötet und damit dem Zugriff der Colonos entreißt.

Die Film ist in vier Kapitel unter­teilt, die gewalt­volle Szene findet sich im Kapitel „El mestizo“. Der Titel hebt sich auf die Leinwand, bild­fül­lend, plakativ, rot, schreiend. Der Kontrast zwischen diesen großen Gesten des Ausru­fe­zei­chens, der rohen Gewalt und der Poetik der Aufnahmen bringt eine elegische Spannung in diesen nicht groß gewollten Film. Schließ­lich gelangt der Trupp ans „Fin del mundo“, ans Ende der Welt und mit ihm vollzieht sich die Ankunft der Siedler mit allen Begleit­erschei­nungen: Groß­bür­ger­lich­keit, Aris­to­kratie, plötz­liche Umarmung der Unter­drückten, die als Bedi­ens­tete arbeiten dürfen. Als Segundo gefragt wird, ob er als Kronzeuge des Völker­mords auftreten kann, wird ihm und seiner indigenen Frau, die er während der Mission retten konnte, eine Tasse Tee vorge­setzt. Während sie Tee trinken, sollen sie berichten, wie alles war. Die Enttar­nung des „rey del oro blanco“ als schlach­tendes Schwein wird das letzte Kapitel sein.