76. Filmfestspiele Cannes 2023
Die Indigenen |
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Hybride Intimität: La fleur de Buriti | ||
(Foto: Cannes 2023 | João Salaviza & Renée Nader Messora) |
Von Dunja Bialas
Lisandro Alonso hat für dieses Cannes-Jahr mit Eureka das Framing für die Aufmerksamkeit indigener Völker gesetzt. Noch mindestens zwei weitere Filme wenden sich dem Schicksal indigener Völker zu. Als echte Entdeckung darf der brasilianische Film Crowrã (La Fleur de Buriti) gelten, eine Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm mit Laiendarstellern. Man könnte auch von einem kollektiven oder partizipativen Projekt sprechen, das das portugiesische Filmemacher-Paar João Salaviza und Renée Nader Messora mit dem indigenen Volk der Krahô realisiert hat – oder vielmehr mit den Überlebenden eines Massakers. Drei historische Zustände werden durchlaufen: die Jetztzeit mit der funktionierenden und behutsam modernisierten Gemeinschaft der Krahô, die trotz moderner Items wie Smartphone, T-Shirts oder BHs in Schilfhütten leben, das, was sie zum Essen brauchen, selbst kultivieren, sich im Fluss mit Kokosseife waschen. Die Kinder spielen autark in der Natur, mit Papageien und Ameisenbären, klettern auf Bäume und vertreiben die Kühe, die sich über den Gemüsegarten hermachen wollen, mit ihren Pfeilen. Den Menschen und ihren Geschichten kommt man ganz nahe, wie einer Mutter mit ihrer Tochter, die nach einer Matratze zum Schlafen verlangt. Die Mutter lehnt ab, das wäre der Anfang vom Konsumismus, der ihre Erde und ihre Lebensgrundlage zerstören würde. In diesem kurzen Dialog zeichnet sich auch ein Hinterfragen der Bräuche durch die nachwachsende Generation ab.
Salaviza und Messora haben schon andere Filme zusammen mit den Krahô realisiert, ihr gemeinsames Langfilmdebüt Le Chant de la forêt gewann 2018 in Cannes den Spezialpreis der Jury. Für ihren neuen Film haben sie fünfzehn Monate mit dem indigenen Volk zusammengelebt. Herausgekommen ist ein Film, der wirkt, als wäre er aus der Mitte der Krahô entstanden, es ist ihre Sicht auf die Geschichte der Kolonialisierung und auf die brutale Landnahme. In vielen dokumentarischen Dialogen kritisieren die Krahô die Siedler-Politik der europäischen Einwanderer explizit. Sie sind hellwach und bestens informiert, was ihre politische Situation anbelangt, auf einer Großdemonstration in Brasilia vereinigen sie sich mit den anderen Indigenen des Dschungels gegen Bolsonaro, die Rodung des Dschungels und die Landnahme für Vieh durch die »cupẽ«, wie sie die Neu-Brasilianer in ihrer Sprache nennen.
Über die dokumentarische Erzählung spinnt sich noch die historische Ebene, die in einer blut- und feuerrünstigen Szene vom Genozid erzählt, und eine phantastische, mit Riten, Tänzen, Liedern. Aber auch die dokumentarische Jetztzeit wirkt mit den starken Protagonisten wie inszeniert. Man denkt sofort an das Verfahren von Robert Flaherty in Moana – A Romance of the Golden Age (1926), dem ersten als Dokumentarfilm benannten Werk. Er entwarf starke Protagonisten entlang einer Handlung: ein Verfahren, um die Distanz zur dargestellten Welt zu überwinden.
Crowrã gliedert sich damit in die ersten großen ethnographischen Erzählungen der Filmgeschichte ein, ist aber auch als Projekt mit einer klaren Agenda zu verstehen. Der Ton kommt vom Anthropologen Diogo Goltara. Im Stab finden sich viele Namen der Krahô, die beim Drehbuch mitwirkten und vor Ort die Produktion übernommen haben. Der Centro Cultural Kajré dos Krahô wiederum hat für die historische Ausstattung gesorgt.
Trotz seiner deutlichen politischen Agenda, Restitution für die Krahô zu sein, ist der Film stets mehr als ein ethnographisches oder gar ethnoaktivistisches Projekt. Renée Mader Messora hat die Kamera geführt, sie dreht auf Kodak-Material. Die körnigen 16mm-Aufnahmen verleihen den Dschungel-Bildern Tiefe und Sorgfalt, als würden sie die Menschen umarmen, nicht einfach abbilden oder gar ihr Bild rauben – was auch im starken Sinne kultureller Film-Appropriation vieler von außen kommender Ethnographen gemeint ist. Satte Farben, ein leuchtender Sternenhimmel in der dunklen Nacht, rot leuchtende Bemalungen der Krahô verleihen ihrer Existenz eine sublime Schönheit und Dignität.
Der Genozid, der im chilenischen Feuerland an den Ureinwohnern stattfand, ist das Thema des ungleich poppiger daherkommenden Los colonos des Chilenen Felipe Gálvez, der 2018 mit dem Kurzfilm Rapaz in der „Semaine de la Critique“ sein Cannes-Debüt hatte. Sein erster Langfilm ist jetzt in »Un certain regard« zu sehen. Los colonos – internationaler Titel: The Settlers – ist ein Western, fast schon klassisch, in dem es um die Besetzung des fruchtbaren Landes geht, das der aristokratische Großkolonialist José Menéndez, selbsternannter »König von Patagonien« braucht, um einen Zugang zum Atlantik zu haben. Er wollte die Isla Grande von den Selk’nam (oder Ona, wie sie im Film heißen) »reinigen«, die ihn empfindlich daran störten, das Land einzunehmen. Ein ausgesandtes Menéndez-Dreier-Trüppchen soll den Genozid vorbereiten, unter ihnen auch der Indio Segundo, eine in beide Richtungen oszillierende Verräter-Figur: Verrat an dem eigenen Volk auf der einen Seite, auf der anderen dann Verrat an seinen Auftraggebern. Zum Militär gesellt sich ein Wissenschaftler, der vergeblich dafür plädoyiert, die Indigenen nicht zu töten, sondern ihnen Bildung zukommen zu lassen, auf Universitäten zu schicken, sie zu Ingenieuren zu machen und von ihrer Intelligenz zu profitieren.
Die Geschichte ist bekannt, 1887 kam es zu einem Genozid an den Selk’nam, innerhalb weniger Jahrzehnte waren sie nahezu verschwunden, die Kultur kam Anfang des 20. Jahrhunderts völlig zum Erliegen. Von Beginn des Films an ist alles hoffnungslos.
Felipe Gálvez’ Los colonos will mit seinem Film keine alternativen Fakten oder eine imaginäre Geschichtsumschreibung schaffen. Sein Interesse liegt woanders: in Gestalt eines Westerns von dem Genozid erzählen, der immer noch nicht im Bewusstsein der Chilenos gegenwärtig ist. Er hat im 4:3-Format, ebenfalls auf Filmmaterial, gedreht, fängt die weite Landschaft in ihrer historischen Beengtheit ein, die hohen Anden, die grünen Weiden, die Schafsherden, geht aber auch ganz dicht ran, in das Fell der Pferde, die die Männer striegeln. Auch die Gewalt wird gezeigt. Die Weißen schneiden den getöteten Indios ein Ohr ab, als Trophäe, vielleicht auch als Beweis ihres Tötens. Segundo soll auf Befehl eine gefangene Indigene vergewaltigen, auch das eine harte Szene, wenn er sie stattdessen lieber tötet und damit dem Zugriff der Colonos entreißt.
Die Film ist in vier Kapitel unterteilt, die gewaltvolle Szene findet sich im Kapitel „El mestizo“. Der Titel hebt sich auf die Leinwand, bildfüllend, plakativ, rot, schreiend. Der Kontrast zwischen diesen großen Gesten des Ausrufezeichens, der rohen Gewalt und der Poetik der Aufnahmen bringt eine elegische Spannung in diesen nicht groß gewollten Film. Schließlich gelangt der Trupp ans „Fin del mundo“, ans Ende der Welt und mit ihm vollzieht sich die Ankunft der Siedler mit allen Begleiterscheinungen: Großbürgerlichkeit, Aristokratie, plötzliche Umarmung der Unterdrückten, die als Bedienstete arbeiten dürfen. Als Segundo gefragt wird, ob er als Kronzeuge des Völkermords auftreten kann, wird ihm und seiner indigenen Frau, die er während der Mission retten konnte, eine Tasse Tee vorgesetzt. Während sie Tee trinken, sollen sie berichten, wie alles war. Die Enttarnung des „rey del oro blanco“ als schlachtendes Schwein wird das letzte Kapitel sein.