22.06.2023
40. Filmfest München 2023

»So vielfältig wie nie.«

Boutique | Niko B. Urger
»Das Filmfest ist ein Boutique-Festival.«
(Foto: Cartoon: Niko B. Urger)

Ein eingehender Blick in die Schaufensterauslage des 40. Filmfest München

Von Dunja Bialas

»Selbst­be­wusst und uner­schro­cken«, so findet es zumindest das Festival, präsen­tiert sich das Team des Filmfests rund um die ganz in Kobalt­blau geklei­dete Chefin Diana Iljine vor wenigen Tagen der Presse. Es wird die letzte Ausgabe der schei­denden Geschäfts­füh­rerin sein; wie schon Mitte Mai angekün­digt, wird den Posten für die nächsten zwei Ausgaben der derzei­tige künst­le­ri­sche Leiter Christoph Gröner über­nehmen. Als Zwischen­nut­zung seiner Person sozusagen, was gut passt für eine Stadt, die sich gerade im Provi­so­rium einrichtet. Stichwort: Zwischen­nut­zung des leer­geräumten Gasteig als »Fat Cat«, für den wiederum die Zwischen­nut­zungs­im­mo­bilie HP8 bezogen wurde.

Anders aber als in den beiden schwie­rigen Corona-Jahren (und auch letztes Jahr gab es noch eine beacht­liche Anste­ckungs­welle) hat sich das Filmfest dieses Jahr von seinen alter­na­tiven Spiel­orten Sugar Mountain und Bahn­wärter Thiel verab­schiedet und kehrt in die Kinos zurück. Frei­licht­kino gibt es noch beim profes­sio­nellen Open Air »Kino Mond und Sterne« zu sehen, wo gut Licht und Ton garan­tiert sind, anders als bei den schep­pernden und von den Schau­fens­tern ange­leuch­teten Vorfüh­rungen zwischen den Boutiquen der exklu­siven Fünf-Höfe-Shopping-Mall vor zwei Jahren.

Cartoon: Boutique von Niko B. Urger
Zum Vergrößern hier klicken. (Foto: Cartoon: Niko B. Urger)

Das Boutique-Festival

Nicht­de­sto­trotz: Das Filmfest versteht sich als Boutique-Festival. Dies zumindest findet Gröner. Was das ist? Ein Festival, das ausge­wählte Filme bereit hält, schöne Stücke sozusagen, so seine Defi­ni­tion, und ein Festival, das Filme »kontex­tua­li­siert«. Also ihnen einen Rahmen gebe, mit Werk­schauen oder Ausstel­lungen. Viel­leicht meint er einen Concept-Store? Auf keinen Fall eine Restrampe oder einen Discounter! Gröner geht es hier um die Welt­pre­mieren. Sechs Stück hätten sie im inter­na­tio­nalen Programm, neben den Filmen in den deutsche Sektionen. Nach dem Erfolg im letzten Jahr haben sie zahl­reiche Welt­pre­mieren angeboten bekommen, erzählt Gröner, sich aber für nur wenige hand­ver­le­sene (inter­na­tio­nale) Filme entschieden. Das kommt dann in die Boutique. Ein Boutique-Festival aber, so wissen es die Musik­fes­ti­vals, wo der Begriff geläufig ist, sind »festivals on a small and intimate scale«. Und das hat der desi­gnierte Interims-Chef Gröner wohl kaum gemeint, auch wenn es bei der Beer­garden-Conven­tion (»the Munich way the industry works«) wieder gemütlich werden soll.

Über­ra­schend intim und on a small scale mutet aber – teilweise zumindest – die Auswahl in der Sektion Neues Deutsches Kino an. So findet man mit Das Kombinat den alten Bekannten Moritz Springer aus Starnberg im Programm, mit einem Doku­men­tar­film, in dem er über neun Jahre lang das unter den Münchnern äußerst beliebte Mitmach-Kartof­fel­kom­binat begleitet hat. 2015 lief beim Filmfest schon sein Film Projekt A, der mit dem Publi­kums­preis ausge­zeichnet wurde. Auch einen Münchner HFF-Abschluss­film findet man unter den Welt­pre­mieren, den sehr spannend klin­genden Boyz des Starter-Film­preis­trä­gers Sylvain Cruiziat. Er zeigt den Abschied von einem mehr oder minder unbe­schwerten Leben in München und erzählt von der Empfind­sam­keit, wie sie in der jüngeren Gene­ra­tion auch unter den Männern entstanden ist: das ist gefühl­volle Richard-Linklater-Boyhood und Beispiel für die narrative Kraft, die ein Doku­men­tar­film zu entfalten weiß.

Auch Anna Roller ist eine HFF-Bekannte und Star­ter­film­preis­trä­gerin, die junges Erzähl­kino beherrscht. Ihr neuer Film Dead Girls Dancing wird in geteilter Welt­pre­miere mit Tribeca gezeigt, so die erfreu­liche Randnotiz im Programm­heft. Denn was nicht passieren sollte: Dass das Filmfest München die regio­nalen Film­schaf­fenden an sich bindet und ihnen – und das lehrt wiederum der Blick in die Münchner Musik- und Tanzszene – den Weg in die sprich­wört­liche weite große Welt verstellt.

Besonders freuen sollte man sich auf Die Tage­bücher von Adam und Eva von Franz Müller, Mither­aus­geber der Film­zeit­schrift »Revolver«. Zwar ist er ebenfalls ein alter Bekannter des Filmfests, aber eben auch ein sehr guter Bekannter, den man gerne wieder­sieht – ihn und seine Filme. Müller darf als Moralist der Liebe gelten (u.a. Die Liebe der Kinder, Worst Case Scenario, Happy Hour) und geht in seinem neuen Film dem Phänomen des »Sich anein­ander Gewöhnens« in Bezie­hungen nach. Oder: Wie aus Fremden Freunde und Geliebte werden. Zu erwarten ist höchst fein­sin­nige und kluge Unter­hal­tung.

Anspruchs­volle Luxus-Marken

Den Filmfest-Jubel über die Welt­pre­mieren der inter­na­tio­nalen Filme kann man leider nur nach­voll­ziehen, wenn man auf der Pres­se­kon­fe­renz mitge­schrieben hat. Im Programm­heft sucht man vergeb­lich nach der Auswei­sung der Welt­pre­mieren. Ausnahmen sind Uki der Taiwa­ne­si­schen Multi­media-Künst­lerin Shu Lea Cheang (kontex­tua­li­siert durch eine Hommage) und Sweet Sue des Briten und Mike-Leigh-Sohns (das ist der Kontext) Leo Leigh.

Auch ist im gedruckten Heft natürlich kein Platz für Biogra­phien, die lassen sich aber auf der Website nachlesen. Im Heft, das zur schnellen Orien­tie­rung dient, finden sich aber Hinweise auf Filme aus Cannes – die vor wenigen Wochen in Windes­eile noch schnell »geshoppt« wurden, um im Boutique-Bild zu bleiben. Die Namen lesen sich wie eine Ballung anspruchs­voller Luxus-Marken: Da ist der neue Belloc­chio (Rapito), der neue Hirokazu (Monster), der neue Kauris­mäki (Fallen Leaves), der neue Escalante (Perdidos en la noche). Der neue Jessica Hausner Club Zero, der ebenfalls in Cannes urauf­ge­führt wurde, wird in der Boutique mit einer Retro­spek­tive kontex­tua­li­siert. Was aber schon vor Cannes beschlos­sene Sache war.

Vielfalt erfor­schen

Unbe­kann­tere Film­schaf­fende und gar Debüt­filmer*innen aus Cannes sind ebenfalls vertreten und dürfen trotz aller Cannes-Welt­pre­mieren immer noch als echte Geheim­tipps gelten. Rarmata-Toulaye Sy aus Senegal zeigt mit Banel e Adama eine phan­tas­ti­sche Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schichte (hier unsere Bespre­chung). Crowrã der Portu­giesen João Salaviza und Renée Nader ist ein kollek­tiver Film, auf 16mm mit dem bedrohten Volk der Krahô im brasi­lia­ni­schen Dschungel gedreht, und Los Colonos des Chilenen Felipe Gálvez ist ein seltener Fall eines »Männer­films«, wie ein Bekannter abfällig befand – den fast schon klas­si­schen Western mit atem­be­rau­bender, auf 35mm foto­gra­fierter Land­schaft, mit kurzen Gewalt­ein­brüchen, kann man aber wirklich sehr gut ansehen (hier unsere Bespre­chung) – und er wurde mit dem Preis der inter­na­tio­nalen Film­kritik bedacht.

Das Filmfest zeigt sich laut Gröner dieses Jahr »so viel­fältig wie nie«. Und in der Tat ziehen Neben­reihen wie die Hommage an die queere Multi­me­diakünst­lerin Shu Lea Cheang und die Reihe »Uranians« die Aufmerk­sam­keit auf sich. In letzterer präsen­tiert die in der Szene bekannte New Yorker Multi­me­diakünst­lerin A.L. Steiner ein Film- und Video­pro­gramm, das queere und »weiblich gelesene« Sexua­lität zeigt. Unter anderem mit den gefei­erten Filmen von Bruce LaBruce (Hustler Wife) und Paul B. Preciado (Orlando, meine poltische Biografie). Schade aber eigent­lich, dass es mit dem Femi­nismus anschei­nend vorbei ist. Hoffent­lich hat das Panel mit Steiner, Shu und LaBruce genug Spreng­kraft. Mit dem queeren Diversity-Schwer­punkt aber ist das Filmfest natürlich auch Zeitgeist.

Sonnen­brand im Kino

Auch die CI (Corporate Identity) schlägt neu auf. Vorbei ist die Zeit der mondänen Sonnen­brillen, für die die Glamour-Festi­val­chefin Iljine immer stand, vorbei die Zeit der phan­ta­sie­vollen Trailer mit Magic Mushrooms. Key Visual ist jetzt ein vom Klima­wandel heim­ge­suchtes, von deut­li­chen Brand­blasen gezeich­netes, sonnen­ver­branntes, weiblich-asiatisch lesbares Gesicht. Der Trailer beschränkt sich auf betörende Claims: »am Puls der Zeit – summer in the city – best films / movies / guests in town / on screen – fresh ideas for you – cinema lovers most welcome«, ja, das schmeißt sich schon ganz schön ran. Und während man noch darauf wartet, dass er richtig losgeht, stellt man fest: Das war schon der Trailer.

Dann lieber auf den Filmfest-Beginn warten. Fest­zu­stellen ist, dass sich im Team wie schon letztes Jahr Gelas­sen­heit breit macht, die sich sicher­lich auch wieder in den Garten des America-Hauses, dem neuen Festi­val­zen­trum samt BeerCon, über­tragen wird. Die Anspan­nung hat wohl seit dem Corona-Trauma nach­ge­lassen, auch der Druck, inter­na­tio­nale A-Stars nach München bringen zu müssen, scheint seit dem Zerplatzen der Söder-Millionen-Seifen­blase vorbei. Zumindest »wordet« man nicht mehr in dieser Richtung herum. Statt dessen will man feiern: nämlich ein Filmfest. Mit alten und neuen Freunden und Bekannten. Entspannt. Boutique hin oder her.