23.06.2023
40. Filmfest München 2023

40. Filmfest München: Kurzkritiken

40. Filmfest München

Kurz und schnell: Die »artechock«-Hotspots für Filme aus allen Sektionen

Von Redaktion

Samstag, 1. Juli 2023

Une affaire d’honneur (Frank­reich 2023 · R: Vincent Perez · Spotlight)
Was ist Ehre? Ein Konzept, das heute etwas anti­quiert und schwammig erscheint. Im Frank­reich des späten 19. Jahr­hun­dert war es jedoch ganz klar, was Ehre ist und was getan werden muss, sollte sie ange­griffen werden: Man muss sich duel­lieren. Vincent Perez’ Une affaire d’honneur dreht sich genau darum – um Duelle, die Ehre und wo diese aufhört. Im Zentrum steht Fecht­meister Clément Lacaze, der sich aufgrund des Ehrver­s­tänd­nisses in einem Teufels­kreis von Zwei­kämpfen wieder­findet. Er verbündet sich mit der glühenden Femi­nistin Marie-Rose Astié, die neben einigem anderen auch Frauen das Recht zum Duell erkämpfen möchte. Marie-Rose basiert lose auf einer histo­ri­schen Figur, was der Film leider erst zum Schluss preisgibt und was die Figur etwas zwie­spältig macht. Wer aller­dings gern gut insze­nierte Fecht­kämpfe mag, ist hier absolut richtig. – Paula Ruppert / LMU München

Die Tage­bücher von Adam und Eva (DEU 2023 · R: Franz Müller · Neues Deutsches Kino)
So könnte das Paradies aussehen: Eine male­ri­sche Fels­land­schaft mit impo­santen Kakteen und Tieren wie dem mythi­schen Dodo oder einem 28 Meter langen und sieben Meter hohen Dino­sau­rier. Als utili­ta­ris­tisch geprägter Ameri­kaner sah Mark Twain in „Die Tage­bücher von Adam und Eva“ für das sperrige Tier eine Aufgabe vor, also versucht Eva ihn zu melken, wenn sie nicht gerade dem schläf­rigen Adam nach­stellt. Mit der Verfil­mung seines Lieb­lings­buchs in einem argen­ti­ni­schen Natio­nal­park ist Müller (Worst Case Scenario) erneut ein Triumph der Phantasie gelungen, unter­s­tützt durch Chiara Minchios sagen­hafte Kostüme. Adams und Evas Treiben unter ausla­denden Woll­perü­cken und in haut­far­benen Dessous kontras­tiert Müller mit einer Berliner Gegen­warts­ebene: Gewöhnung festigt die Liebe, lautet die These dieser hinreißenden Lite­ra­tur­ver­fil­mung. (Katrin Hill­gruber)

More than Strangers (Deutsch­land, Grie­chen­land 2023 · R: Sylvie Michel · Neues Deutsches Kino)
Never seen a black man driving a nice car. Fünf unbe­kannte Menschen verschie­dener Natio­na­li­täten befinden sich in einem Car-Sharing-Auto auf dem Weg nach Paris. Jeder der Mitfah­renden hat sein eigenes Päckchen zu tragen, wobei die fehlende Intimität privater Tragödien während der Fahrt eine gewisse Trans­pa­renz hervor­bringt. Nach ihrem Spiel­film­debüt Die feinen Unter­schiede auf dem Filmfest München im Jahr 2012, präsen­tiert Sylvie Michels nun ihre exzel­lente Tragi­komödie More than Strangers. Eine ausdrucks­starke Insze­nie­rung mit humor­vollem Detail kreiert einen Einblick in die viru­lenten Thema­tiken der heutigen Zeit. (Virginia-Shannon Harmer / LMU München)

Perdidos en la noche (Mexico 2023 · R:Amat Escalante · Wett­be­werb Cine­mas­ters)

Perdidos en la noche
(Foto: Filmfest München | Amat Escalante)

Philo­so­phien über Leben und Tod treffen Influencer. In einem kleinen Bergbau-Dorf in Mexico sucht der junge Emiliano (Juan Daniel García Treviño) seit drei Jahren seine Mutter, die gemeinsam mit einer Gruppe Akti­visten spurlos verschwand. Als ihn Hinweise zu der wohl­ha­benden Familie Aldama führen und er dort beginnt, für sie zu arbeiten, nimmt seine Suche richtig Fahrt auf. Arm trifft auf Reich, Jung auf Alt, gesunde auf toxische Liebe. In seinem neuen Thriller baut Amat Escalante wieder tiefe packende Obses­sionen ein, die getragen von schönen Schau­spieler*innen, einer inter­es­santen Archi­tektur und einem modernen Sound­track einen packenden Mexi­ka­ni­schen Western bilden. Aller­dings streckt sich der Film teilweise in die Länge – so wie fast jede erbit­terte Suche nach Rache. (Stella Kluge / LMU München)

Fallende Blätter (Finnland 2023 · R: Aki Kauris­mäki · Wett­be­werb CineMas­ters)
Die Kraft der Blicke war selten gewal­tiger. Verstoh­lene, beob­ach­tende, eindeu­tige, gebannte Blicke. Und so wie sie sich kreuzen können, so können sie sich auch wieder verlieren. Nachdem sich die Blicke von Ansa und Holappa ein erstes Mal getroffen haben, fällt es ihnen schwer, sich nicht anzusehen; und doch verlieren sich die Super­markt­an­ge­stellte und der Bauar­beiter wieder aus der Sicht. In der Suche nach­ein­ander zeigt Aki Kauris­mäki genial zwei einfache Leute, deren Charakter so fein ausge­ar­beitet ist, dass man gerne länger als 81 Minuten zusehen möchte, zumal die Kompo­si­tion der Bilder und der Musik absolut meis­ter­haft ist. Ein absolutes Muss für jeden, der ein traumhaft schönes filmi­sches Meis­ter­werk sehen und den Kinosaal mit einem Lächeln auf den Lippen sowie einem Gefühl der Erfüllung verlassen möchte. (Paula Ruppert / LMU München)

Hoch­ak­tuell und könnte doch ein Klassiker aus der Hochzeit des Kinos sein. Charmant ironisch erzählt Aki Kauris­mäkis neuer Film Fallende Blätter über die Wege, die uns das Leben gehen lässt. Ansa ist arm, besitzt nur ein einziges Geschirrset für sich selbst und ist trotz allem deter­mi­niert, dem Leben immer wieder eine Chance zu geben. Holappa ist Alko­ho­liker, singt nicht gerne Karaoke und arbeitet von Baustelle zu Baustelle. Als sich die beiden begegnen, ist klar, dass sie ihre alten Muster ablegen müssen, um gemeinsam einen neuen Weg einschlagen zu können. Ein Film, der zeigt, dass es nicht viel braucht um ein schönes Leben zu haben – und um einen schönen Film zu machen! (Stella Kluge / LMU München)

Ein Film des Films wegen. »Tough man don’t do Karaoke.« Ein Mann in den 50ern singt voller Inbrunst, während sich sein Freund einen Schnaps nach dem anderen hinter die Binde kippt. Wenige Bars weiter: eine alte, blon­dierte Frau mit Locken­wick­lern auf dem Kopf gibt ihre Version von Marilyn Monroe, irgendwo läuft Mambo Italiano, und wenn man will, kann man hören, wie Sekt ins Glas einge­schenkt wird. Fallende Blätter beob­achtet den Alltag zweier Erwach­sener rund um Liebe, den Umgang mit Krieg und Arbeits­lo­sig­keit, Depres­sionen und Alko­ho­lismus. Mit langen Einstel­lungen und wenigen Schnitt zeigt der Film eine Bestands­auf­nahme aus dem Leben und erzählt die Liebes­ge­schichte einer Frau und eines Mannes, deren Wege sich schick­sal­haft immer wieder kreuzen. Dank ruhiger Bild­sprache und trockenem Humor wirkt das Anschauen fast schon meditativ, jedoch genauso unter­haltsam. Ein Film, der sich am besten durch sich selbst mitteilt. (Amélie Engelmann / LMU München)

Mami Wata (Nigeria 2023 · R: C. J. »Fiery« Obasi · Wett­be­werb Ciner­ebels)
Zinwe steht am Feuer, nimmt einen Schluck aus einer Flasche, sie hat geweint. Ihre Schwester Prisca steht während­dessen an einer Bar und beklagt sich beim Barmann über sie. Zusammen mit ihrer Mutter waren sie für die Verehrung der west­afri­ka­ni­schen Meeres­göttin Mami Wata in ihrem Dorf Iyi zuständig. Doch das Span­nungs­feld zwischen Tradition und dem Streben nach Fort­schritt hat das Frau­en­ge­spann zum Bröckeln gebracht. Die Welt, die Regisseur C. J. „Fiery“ Obasi in Mami Wata erschafft, hat etwas Traum­ar­tiges. Das wunder­schöne Spiel mit Licht und Schatten hypno­ti­siert einen fast. Die kunst­vollen Frisuren, das Make-up und die eigens an den Film ange­passte Pidg­in­sprache sind eine Hommage an west­afri­ka­ni­sche Kultur. Ein Film, der viel zu sagen hat, in seinen Worten und Bildern. Vor allem eins: You should fear women. (Maria Krampfl / LMU München)

Notte Fantasma (Italien 2021 · R: Fulvio Risuleo · Spotlight)
Der Albtraum vieler Teenager: Tarek wird von einem Zivil­po­li­zisten mit etwas Gras erwischt und soll auf die Wache mitkommen. Doch während er im Poli­zei­wagen sitzt, weicht die Panik, verhaftet worden zu sein, schnell einer anderen Angst: Denn irgendwas stimmt nicht ganz mit dem Poli­zisten. Im Laufe der Nacht wird er immer mehr zum Mephisto statt zum Geset­zes­hüter. Mit teuflisch funkelnden Augen fordert er Tarek immer wieder zu wenig ordnungs­ge­mäßen Aufgaben heraus – und erklärt ihm nebenbei Gott und die Welt.
Fulvio Risuleo kreuzt in Notte Fantasma irgendwie coming of age mit Taxi Driver und schafft es gleich­zeitig, einfühlsam und witzig Männ­lich­keit und Migration zu thema­ti­sieren. Und auch optisch bietet der Film ein paar schöne Momente, gerade für alle Liebhaber von Nacht­szenen. (Maria Krampfl / LMU München)

Scrapper (Verei­nigtes König­reich 2021 · R: Charlotte Regan · Inter­na­tional Inde­pend­ents)

Scrapper
(Foto: Filmfest München | Charlotte Regan)

Georgie kommt alleine klar. Und das mit zwölf. Ihre Mutter ist vor Kurzem gestorben, seitdem wohnt sie alleine in dem kleinen Reihen­haus irgendwo in England. Erwach­sene braucht sie keine, ihr Geld verdient sie sich durch Fahr­rad­klau mit einem Freund. Georgie, großartig gespielt von Newco­merin Lola Campbell, ist ein – nach außen hin – sehr taffes Mädchen. Als eines Tages aber plötzlich ihr Vater auftaucht, ändert sich alles von jetzt auf gleich. Scrapper zeigt dabei die Sicht eines Kindes, das zu schnell erwachsen geworden ist und doch noch die kindliche Phantasie und Unschuld behalten hat; gleich­zeitig geht es um Trauer, Bewäl­ti­gung, die Liebe zwischen Eltern und Kindern. Und trotz seiner absolut traurigen Thematik schafft es der Film, einfach nur schön und eine Berei­che­rung zu sein. Unbedingt sehens­wert. (Paula Ruppert / LMU München)

»I don’t need you to replace mum, but I need someone.« Zwischen kind­li­cher Wahr­neh­mung und dem plötz­li­chen Erwach­sen­werden findet sich die zwölf­jäh­rige Georgie, als ihre Mutter verstirbt und sie allein zurück­bleibt. Gemeinsam mit ihrem besten Freund Ali verbringt sie die Sommer­fe­rien damit, Fahrräder zu stehlen. Da taucht plötzlich Jason auf und stellt sich als ihr Vater vor. Die beiden finden sich in einem skurrilen Span­nungs­feld wieder und müssen lernen, mitein­ander umzugehen. Keiner der beiden ist so ganz begeis­tert von den neuen Umständen. Das Zusam­men­spiel von der jungen Lola Campbell und Harris Dickinson funk­tio­niert dabei aber auf eine unglaub­lich sympa­thi­sche Art und bringt mit skurrilen Aussagen die Zuschau­erInnen immer wieder zum Schmun­zeln. Charlotte Regan erzählt die Geschichte in einem sehr jungen und mutigen Stil. Aufge­lo­ckert wird die zunächst feind­se­lige Stimmung zwischen Vater und Tochter durch humor­volle Einspieler von kind­li­cher Wahr­neh­mung und absurde Aussagen des besten Freund Ali. Mit viel Surrea­lität und Humor schafft es Scrapper, die Zuschau­erInnen voll in seinen Bann zu ziehen. (Helena Bublak, LMU München)

Boyz (DEU 2023 · R: Sylvain Cruiziat · Kinder­film­fest)
The kids are alright. Sylvain Cruiziats hyper­reales Porträt seines Bruders und seiner Freunde ist fast schon klas­si­sches GenZ-Coming of Age und erinnert in dem puris­ti­schen doku­men­ta­ri­schen Ansatz, Lebens­alltag zu foto­gra­fieren und Gespräche über das erste Mal, Blut- und Fleisch­pe­nisse und Mikro­pe­nisse zu führen, das Saufen und Kotzen und das Labern über Männer­bilder- und Sozia­li­sie­rungen an die (nicht-) doku­men­ta­ri­schen Filme von Larry Clark. Gleich­zeitig könnte der Unter­schied nicht größer sein, sind diese anders als Clarks Kids in Münchner Watte gepackt. Aber all die Ängsgte, Unsi­cher­heiten, Verletz­lich­keiten und Gegen­in­sze­nie­rungen bleiben. Und die Ahnung, dass sie die durch­schnitt­lichsten Leben der Welt leben und am Ende so dastehen werden wie das alte Paar in Weißt du noch? Unbedingt im Double Feature mit Dead Girls Dancing (Neues Deutschs Kino, die Kurz­kritik siehe unten) ansehen. (Axel Timo Purr)

Freitag, 30. Juni 2023

The Dive (DEU 2022 · R: Maxi­mi­lian Erlenwein · Neues Deutsches Kino)
Kata­strophe als Katharsis. Maxi­mi­lans Erlen­weins delikat und souverän insze­nierter Über­le­bens­thriller beginnt wie ein E.E. Cummings-Gedicht: »maggie and milly and molly and may went down to the beach(to play one day). and maggie disco­vered a shell that sang«, doch die doppel­bö­dige und bis zum Ende spannende Genre-Arbeit trans­for­miert schnell zum nackten Über­le­bens­kampf unter und über Wasser, denn es ist nicht nur das Leben, das hier an einem seidenen Faden hängt, sondern auch eine lebens­lange Beziehung. Das prickelnde Score und eine fantas­ti­sche Kamera unter­s­tützen die dezent einge­streuten Leer­stellen und Fami­li­en­trau­mata und die beiden Haupt­dar­stel­le­rinnen trans­por­tieren selbst mit Taucher­maske ihre Ängste und Hoff­nungen so über­zeu­gend, dass bei all dem Dekom­pres­si­ons­horror immer auch der mensch­liche Horror trans­pa­rent bleibt und die Hoffnung auf ein Leben in einer gemein­samen „Blase“ nicht stirbt. (Axel Timo Purr)

Dead Girls Dancing (DEU 2023 · R: Anna Roller · Neues Deutsches Kino)
Dumme Mädchen machen dumme Sachen. Und merken irgend­wann, dass Abi und Schule eine gefähr­liche Blase waren und das Leben andere Regeln hat. Anna Roller insze­niert die Ignoranz der Jugend mit gnaden­loser Präzision und demas­kiert den naiven Wunsch der Mädchen nach „Unver­nunft“ über einen Road-Movie, der es in sich hat, weil er auch deutlich macht, dass hier ein Bildungs­system auf allen Ebenen versagt hat, das häusliche genauso wie das schu­li­sche. Gleich­zeitig ist Rollers Film auch eine empa­thi­sche Intro­spek­tion junger Bezie­hungen und der über­ra­schenden Erkenntnis, dass Bezie­hungen immer auch situa­tiven Charakter und vor allem über­ra­schende Grenzen haben. (Axel Timo Purr)

Clashing Diffe­rences (DEU 2023 · R: Merle Grimme · Neues Deutsches Kino)
Lasst uns doch mal unter­schied­lich sein. Wie schwer das innerhalb der Blase einer inter­sek­tional femi­nis­tisch aufge­stellten Frau­en­gruppe und unter Einbe­zie­hung von Diver­si­täts­de­batten zwischen Empower­ment und Tokenism ist, zeigt Merle Grimme in 75 Minuten dezidiert auf. Bipoc-Akti­vismus eskaliert zu gnaden­losen Hier­ar­chie- und Bezie­hungs­kämpfen, so dass bei all dem Wirbel am Ende die ernüch­ternde Erkenntnis steht, dass weder das sozia­li­sierte noch das ange­bo­rene Geschlecht den Menschen besser macht. Merles ironi­sches Spiel mit rassis­ti­schen und Gender-Stereo­typen ist klug, witzig und immer wieder über­ra­schend, doch das Komö­di­en­kor­sett und die betont leichte Strei­cher­musik hätte es nicht unbedingt gebraucht. (Axel Timo Purr)

Schock – Kein Weg zurück (DEU 2023 · R: Daniel Rakete Siegel, Denis Moschitto · Neues Deutsches Kino)
Bleib in deiner Blase, sonst fällst du aus deinem Leben. Daniel Rakete Siegel und Denis Moschitto (der auch den über­ra­genden gespielten „Helden“ verkör­pert) insze­nieren eine über­ra­schende und soghafte Genre-Arbeit, die in gesell­schaft­liche Bereiche Deutsch­lands vordringt, die man so selten gesehen hat. Ein illegaler Arzt, der Illegale versorgt, der zwischen alten Freunden und der Mafia zerrieben wird, aber dennoch aufrichtig bleibt. Die kargen Dialoge stimmen, die mit skal­pell­ar­tiger Kamera sezierte Alltag deutscher Schat­ten­rea­lität überzeugt und der Rhythmus, den das Genre vorgibt, ist virtuos inter­pre­tiert. (Axel Timo Purr)

Donnerstag, 29. Juni 2023

The Inspec­tion (USA 2022 · R: Elegance Bratton · Cine­vi­sion)
„No!“, brüllt er auf die Frage, ob er je Kommunist, drogen­ab­hängig, homo­se­xuell war. In zwei Punkten lügt Ellis. Als schwarzer Schwuler erfährt er im US-Marines Bootcamp besondere Schikane – doch er sehnt sich nach dessen Ziel: Die Menschen brechen, neu zusam­men­fügen. Er sieht’s als Chance, die Akzeptanz seiner Mutter zu erlangen. Das ist auto­bio­gra­phisch – und Bratton in seiner Sicht sehr unkri­tisch gegen die US-Kriegs­po­litik. Der Film ist mehr Full Metal Jacket als Beau travail. Bricht nur in seltenen schwulen Fantasien und der Musik von Animal Coll­ec­tive mit dem Drill-Genre. Immerhin: Ein Marines-Film, in dem der brutalste Satz einer Mutter vorbe­halten ist. (Thomas Willmann)

Porn­ome­lan­colía (ARG/BRA/F 2022 · R: Manuel Abra­mo­vich · CineRe­bels)
Okay, das Buñuel-Zitat im Zapata-Porno kommt uner­wartet. Und es ist Porn­ome­lan­colía wahrlich kein schlechter Film. Doch wenn man den Titel liest und weiß, dass es eine latein­ame­ri­ka­ni­sche Spiel-Doku ist über einen jungen Mann zwischen „Just for Fans“ (dem Señor Spiel­bergo der Porn­fluencer-Platt­formen) und Porno-Dreh – dann bringt das Anschauen nicht allzuviel Erkenntnis-Mehrwert gegenüber dem, was man sich denken kann. Die Sex-Industrie ist gar kein Vergnü­gungs­park? Pardauz! Anders als Porn­fluencer unlängst, findet der Film nur punktuell einen über­ra­schenden Zugang zu den Figuren und der so beiläu­figen wie funda­men­talen Tristheit ihres Gewerbes. (Thomas Willmann)

Die Haut Des Tinten­fischs (LA PIEL PULPO) (D/ECU/F/GRC/MEX 2022 · R: Ana Cristina Barragán · Inter­na­tional Inde­pend­ents)
Ein Film wie ein Float Tank: Er trägt einen in einen Zustand der Auflösung. Drei Jugend­liche hausen mit ihrer Mutter auf einer Insel in einer Art Ur-Zustand; halb Eden, halb als wären sie noch nicht zur Welt gekommen. Grenzen diffun­dieren zwischen Mensch und Tier, Selbst und Anderen – die Haut nicht als Barriere sondern Membran. Bei Barragán scheint die Kamera ein Instru­ment zur Aufzeich­nung nicht nur von Licht, sondern taktiler Empfin­dung. Als eins der Mädchen am Ende in die Stadt am gegen­ü­ber­lie­genden Ufer geht, scheint die Möglich­keit einer Abnablung auf – schade, dass der groß­ar­tige Film die nicht nutzt. (Thomas Willmann)

The Feeling That the Time For Doing Something Has Passed (USA 2023 · R: Joanna Arnow · CineVi­sion)
Eine Frau Anfang 30 im Spät­ka­pi­ta­lismus. Anker-, ziellos in ihrem Leben. Alles nicht neu für eine ameri­ka­ni­sche Indie-Komödie. Hier aber mal in einer anderen Geschmacks­rich­tung als Vanilla. Ann ist Sub, hat BDSM-Bezie­hungen mit mehreren Meistern. (Inter­es­sante Dynamik, die Regis­seurin des Ganzen vor der Kamera in devoter Rolle zu haben.) Arnow insze­niert das mit genug Vers­tändnis, es nicht zu denun­zieren, kari­kieren. Und genug Distanz, es nicht zu roman­ti­sieren. Sie hat enorm trockenen Humor, einen wachen Blick für die Absur­di­täten des Büro­all­tags, der Besuche bei den Eltern (alten Gewerk­schaft­lern) wie die jeder Sexua­lität. (Thomas Willmann)

Mami Wata (NGA 2023 · R: C.J. „Fiery“ Obasi · CineRe­bels)
„Du solltest die Frauen fürchten!“ Doch nicht etwa, weil Mami Wata die verfüh­re­ri­sche Dämonin west­afri­ka­ni­scher Mytho­logie wäre. Hier ist sie Göttin – die, schon gebrochen scheinend, mit einem gran­diosen Power-Move die gewalt­tä­tigen, bewehrten Männer in ihre Schranken weist. Erzäh­le­risch hätte etwas Straffung nicht geschadet. Aber visuell: Was für ein Film! Obasi hat bewusst einen neuen Blick, neue Bilder gesucht für schwarze Körper, Gesichter auf der Leinwand. Resultat: Eine expres­sive, orna­men­tale Schwarz-weiß-Ästhetik. Nicht das Einzige, was hier an F.W. Murnau erinnert. Bis dann das Ende so glorreich alle Siche­rungen raushaut, dass man nur die Waffen strecken kann. (Thomas Willmann)

Nação valente (AGO/F/PRT 2023 · R: Carlos Conceição · Inter­na­tional Inde­pend­ents)
Soviel sei gespoi­lert: Es gibt hier einen recht sensa­tio­nellen Strip­tease vor Jung­sol­daten zu „Spring Summer Winter and Fall“ von Aphrodite’s Child. Aber was danach geschieht... Das ist ein WTF?!-Moment, der plötzlich alles auf den Kopf stellt. Bis dahin glaubt man’s eher einen Fehler, dass der Film sich auf die Rekruten konzen­triert. Statt den Fokus auf dem ango­la­ni­schen Dorf gegen Ende des Befrei­ungs­kriegs 1974 zu lassen, und der Nonne, die dort einzieht. Aber NAÇÃO VALENTE erzählt auf sehr andere Weise als zunächst vermutet vom Nachhall eines Kolonial-Traumas. Ist Teil eines jungen Welt-Kinos, das Genre produk­tiver findet als Sozi­al­rea­lismus. (Thomas Willmann)

The Lost King (GB, R: Stephan Frears, Spotlight)
Auf histo­ri­schen Pfaden durch die Belang­lo­sig­keit. Es ist das Jahr 2012. Die im Leben oft über­gan­gene Philippa Langley (Sally Hawkins) sieht sich eines Abends ein Thea­ter­s­tück zu König Richard III. an und fühlt sich direkt mit dem König, dessen Leiche nie gefunden wurde, verbunden. Philippa macht sich nahezu besessen auf die Suche nach dem Leichnam. Die auf wahren Bege­ben­heiten beruhende Geschichte schafft es jedoch nicht, den Zuschauer in den Bann zu ziehen. Der Film nimmt sich zu viel Zeit den Charakter von Philipa zu defi­nieren, worunter der wich­ti­gere Teil des Films – nämlich die Grabung nach Richard III. – stark leidet. Am Ende ist ein unaus­ge­wo­gener Film entstanden, der trotz einiger Anflüge trockenem briti­schen Humors sowie einer gewissen Dramatik eine leider sehr zähe Seherfah­rung bietet. (Giovanni Nutsua / LMU München)

Schock – Kein Weg Zurück (DEU, R: Daniel Rakete Siegel & Dennis Moschitto, Neues deutsches Kino)
Ein Arzt ohne Grenzen. Bruno (Denis Moschitto) schlägt sich die Nächte als Arzt um die Ohren. Aller­dings sind seine Patienten Mafiosi, Sexar­bei­te­rinnen und Krimi­nelle. Dennoch ist es Bruno wichtig, zu helfen, so gut es möglich ist. Dies bringt ihn aber später in große Schwie­rig­keiten. Der Film ist deutlich von Nicolas Winding Refns Thrillern wie Pusher oder Drive inspi­riert. Schock ist wortkarg, ruhig, aber auch kompro­misslos und brutal. Das Regie-Duo Siegel & Moschitto hat einen span­nenden und atmo­sphärisch dichten Film insze­niert, der ohne Stereo­type, ohne Kitsch und ohne Pathos auskommt. Dieser Film will im Kino gesehen werden! (Giovanni Nutsua / LMU München)

The Feeling That The Time For Doing Something Has Passed (USA 2023 · R: Joanna Arnow · Wett­be­werb CineVi­sion)

The Feeling That The Time For Doing Something Has Passed
(Foto: Filmfest München | Joanna Arnow)

Die Suche nach der Liebe, dem Glück, Gebor­gen­heit. Oder wonach eigent­lich wirklich? Aber eigent­lich ist das gar nicht mal so wichtig. Denn die Prot­ago­nistin ist nicht unglück­lich, nein, und was sie sucht, weiß sie vermut­lich selbst nicht so ganz. Joanna Arnows Film The Feeling That The Time For Doing Something Has Passed folgt ihr durch verschie­dene BDSM-Bezie­hungen, ihr Arbeits- und Privat­leben, dem Versuch einer richtigen, »normalen« Beziehung. Gespickt mit herrlich trockenem Humor, mit auf ihre Art sehr indi­vi­duell gezeich­nete Figuren und einem langsamen, aber nie schlep­pendem Erzähl­tempo entwi­ckelt der Film eine eigene Dynamik, die sehr angenehm durch ein paar Episoden aus dem Leben der Prot­ago­nistin führt. Ein Film, den man sehr schwer in Worten beschreiben kann – man sollte ihn sich einfach anschauen. (Paula Ruppert / LMU München)

A Cup of Coffee and New Shoes On (Albanien, Grie­chen­land, Kosovo, Portugal 2022 · R: Gentian Koçi · Wett­be­werb CineVi­sion)
Der Kaffee fällt vom Tisch. Keiner zuckt mit der Wimper. Die Zwillinge Gëzim und Agim sind taubstumm. Es merkt zwar erstmal keiner, wenn eine Tasse zu Bruch geht, das ist aber auch nicht weiter schlimm. Die beiden führen ein unab­hän­giges Leben in Tirana – bis sie anfangen, ihre Sehkraft zu verlieren. Gentian Koçis A Cup of Coffee and New Shoes On ist ein leise-kraft­voller Film, der auf jede aufge­setzte Tragik verzichtet. Die Kamera ist statisch, die Musik entspringt immer den Szenen. Seine ungeheure emotio­nale Schlag­kraft zieht der Film aus dem ausdrucks­starken Spiel der Haupt­dar­steller Edgar und Rafael Morais, die die alba­ni­sche Gebär­den­sprache eigens für den Film gelernt haben. Ohne Worte kreieren sie eine komplexe Beziehung zwischen den Zwil­lingen, die von der ersten Sekunde in den Bann schlägt. (Maria Krampfl / LMU München)

Can Crea­ti­vity Save the World? (D 2023 · R: Hermann Vaske · Spotlight)
Dialektik der Krea­ti­vität: Nach Why Are We Creative? (2018) und Why Are We (Not) Creative? (2018-2021) präsen­tiert Regisseur Hermann Vaske mit Can Crea­ti­vity Save the World den vorerst letzten Teil seiner Trilogie. Können exis­ten­ti­elle Krisen der Welt mit kreativen Ideen über­wunden werden? Können Künste und Wissen­schaft diesem Anspruch genügen? Er befragt 46 berühmte Persön­lich­keiten, darunter Cate Blan­chette, Marina Abramović, Umberto Eco, Salman Rusdie, Isabella Rosellini, Nelson Mandela, Wolf Singer, David Bowie und Campino. Mit der Viel­stim­mig­keit möchte Vaske, der sich seit über 30 Jahren mit dem schöp­fe­ri­schen Denken beschäf­tigt, die verschie­denen Ansichten auf den Grund gehen. Die State­ments zeigen die positiven und negativen Facetten der Krea­ti­vität eindrucks­voll auf, bleiben aber isoliert neben­ein­ander stehen. Beglei­tend zum Film: Eine Ausstel­lung im Lite­ra­tur­haus und sein 2022 erschie­nenes Werk Why are you creative? (Ursula Witten­zellner / LMU München)

Monster (Japan 2023 · R: Hirokazu Kore-edas · Wett­be­werb Cine­mas­ters)

Monster
(Foto: Filmfest München | Hirokazu Kore-eda)

Stell dir vor, man müsste vor dem »Monster« gar keine Angst haben. Nehmen wir mal an, man sähe die Prot­ago­nisten mit einem gewal­tigen, uner­klär­li­chen Konflikt konfron­tiert. Ein Perspek­tiv­wechsel jedoch zeigt, dass der nur durch ein Miss­ver­s­tändnis erzeugt wurde. In Hirokazu Kore-edas neuem Film Monster geht es um die Aufklärung genau dieses Miss­ver­s­tänd­nisses und darum, was eigent­lich ein »Monster« sein soll. Für die Lehrer sind es die herum­tol­lenden Schüler, für die Schüler die Lehrer, für die Lehrer die allein­er­zie­henden Eltern. Für die Eltern, ihre Kinder, die anders sein könnten, andere Dinge wollen könnten, sich nicht anpassen möchten. Wir verstehen, dass manches viel­leicht gar nicht so schlimm ist wie auf den ersten Blick. Mit dem wunder­schönen Sound­track von Ryuichi Sakamoto verwan­delt sich dieser erst düster erschei­nende Film in eine rührende Geschichte um Selbst­ver­wirk­li­chung. (Stella Kluge / LMU München)

Siccità (Italien 2022 • R: Paolo Virzì • Spotlight)
Drei Jahre lang hat es nicht geregnet, keinen einzigen Tropfen. Das Wasser ist dementspre­chend knapp. Dieses Szenario liegt Siccità von Paolo Virzì zugrunde, der seine Handlung in Rom vermut­lich in nicht allz­uf­erner Zukunft ansiedelt. Der Tiber windet sich beein­dru­ckend wie eine sandige Schlucht durch die Stadt und auch die sozialen Gräben werden bei der Vertei­lung des Trink­was­sers offen­sicht­lich. Das endet oft in teils herr­li­chen Grotesken, die den Ernst der Thematik aber nicht klein­reden. Aller­dings will der Film zu viel. Es gibt so viele Hand­lungs­stränge und Figuren, die alle mitein­ander verbunden sind, aller­dings kaum in die Tiefe gehen und die einfach in der Luft hängen bleiben, was den Film schlicht zu lang macht. (Paula Ruppert / LMU München)

The Happiest Man In The World (Belgien, Nord­ma­ze­do­nien, Slowenien 2022 · R: Teona Strugar Mitevska · Inter­na­tional Inde­pend­ents)

The Happiest Man in the World
(Foto: Filmfest München | Teona Strugar Mitevska)

Speed­da­ting in Sarajevo. Die 45-jährige Asja soll sagen, mit wem sie am liebsten Abend­essen würde. Sie gibt sich Mühe, kommt aber nur auf Jesus. Zoran wählt Kurt Cobain. Sie bezeichnet sich als einfache Person, er ist abge­ma­gert und zittrig. Es bahnt sich eine schlimme Vorahnung an, dass die beiden sich schon einmal begegnet sind. Regis­seurin Teona Strugar Mitevska nutzt das soziale Labor eines über­am­bi­tio­nierten Dating-Events, um in den Teil­neh­menden den Nachhall des Bosni­en­kriegs zu thema­ti­sieren. Gerade das ungleiche Ensemble an Neben­fi­guren bringt hier nicht nur viele Perspek­tiven, sondern lockert den Film auch auf, ohne dem Thema Gewicht abzu­spre­chen. The Happiest Man in the World braucht keine Plädoyers und Lösungen. Man lacht, weint, schreit, tanzt, fährt am Ende wieder heim und sieht die Sonne durchs Busfenster. (Maria Krampfl / LMU München)

Mittwoch, 28. Juni 2023

Es brennt (DEU 2022 · R: Erol Afşin · Neues Deutsches Kino)
Rechts­staat oder doch besser Selbst­justiz? Wie Kida Kodr Ramadan in seinem düsteren Rassis­mus­drama Égalité hinter­fragt auch Erol Afşin den deutschen Rechts­staat. Mit einem betont hilflos agie­renden Kida Kodr Ramadan und einer beklem­mend groß­ar­tigen Halima Ilter in den Haupt­rollen und hervor­ra­gend besetzten Neben­rollen erzählt Afşin eine wahre Geschichte, die am Ende so erschüt­ternd ist, dass man diesen Film kein zweites Mal sehen will. Auch, weil er kris­tall­klar und mit großer ethno­gra­fi­scher Genau­ig­keit von geglückter Assi­mi­lie­rung erzählt. Umso bitterer ist die Erkenntnis, dass auch das nur eine der vielen Blasen ist, die schnell zerplatzen kann, nimmt sie erst einmal Reibung an der »falschen« Stelle auf. Deutlich wird auch, wie fragil letzt­end­lich die eigene Identität, das sozia­li­sierte Deutsch­sein ist, weil die Angst am Ende dann doch die Seele aufisst. Und nicht nur die Angst, sondern mehr noch die soziale Realität. Ein Film, der unbedingt an jeder deutschen Schule ab der 8. Klasse gezeigt werden sollte, nein: gezeigt werden muss. (Axel Timo Purr)

Fossil (DEU 2023 · R: Henning Beckhoff · Neues Deutsches Kino)
Du kannst den Leuten nicht in den Kopf gucken. Und den Wandel einer Gesell­schaft nicht begreifen. Ein Wandel, der inzwi­schen Familien zerreißt und eine wichtige Erklärung dafür ist, warumin Deutsch­land die AFD so floriert und Trump immer noch im Spiel ist. Henning Beckhoff lässt diese Asso­zia­tionen unwei­ger­lich zu, denn in seinem starken, wuchtigen und immer wieder auch zärt­li­chen Porträt eines Bagger­füh­rers auf dem Tagebau, fließen unsere eigenen filmi­schen Erin­ne­rungen unwei­ger­lich mit ein, an Gunder­mann oder an das groß­ar­tige Porträt der Bagger­band-Arbei­terin Martha (1978), die zeigten, dass Arbeit immer auch Seele ist und wird die genommen, der Mensch nichts mehr ist. Auch in Fossil implo­diert ein Leben, eine Familie, eine ganze Gesell­schaft. Die Bilder der Einsam­keit und der sich nicht mehr berüh­renden gesell­schaft­li­chen Blasen sind so grausam wie der verein­zelte Sex und die bittere Erkenntnis des totalen Kontroll­ver­lusts und am Ende immer der Blöde zu sein. (Axel Timo Purr)

Dienstag, 27. Juni 2023

Die Unschär­fe­re­la­tion der Liebe (DEU 2022 · R: Lars Kraume · Spotlight)
Logorrhö in Berlin (und New York). Lars Kraume bewegt sich zumindest im Titel nah an Simon Stephens Schau­spiel (die aller­dings in London und nicht Berlin spielt). Doch ähnlich wie bei der deutschen Erst­auf­füh­rung 2016 am Düssel­dorfer Schau­spiel­haus unter der Regie von Lore Stefanek mit den gleichen Haupt­dar­stel­lern wie in Kraumes filmi­scher Adaption, werden zwar Liebes­kli­schees immer wieder über­ra­chend ausge­he­belt, legt aber auch Kraume den Fokus auf die boule­var­desken Elemente von Stephens Stück: Laue, ins Zentrum gestellte Gags (250 Gramm Hack ohne Fleisch), explizit betonte Wort­un­ge­tüme (Haupt­lieb­lings­son­der­be­schäf­ti­gung) und Monologe und Dialoge, die so aufge­setzt, thea­tra­lisch und lebens­fern wirken, dass es immer wieder weh tut. Das ist schade. Denn Kraume kann ernstere, bessere, wich­ti­gere Filme machen, das zeigte er erst vor kurzem mit Der vermes­sene Mensch. (Axel Timo Purr)

Südsee (DEU 2023 · R: Henrika Kull · Neues Deutsches Kino)
Aktuelle poli­ti­sche Para­digmen gegen den Strich gebürstet. In Henrika Kulls inten­sivem Kammer­spiel in einem Haus in Israel während konti­nu­ier­li­cher Rake­ten­an­griffe der Hisbollah treffen ein Deutsch­land und Wagner liebender Israeli und eine Israel liebende deutsche Regis­seurin aufein­ander. Dass das sogar (fast) ohne Erotik geht, ist erstaun­lich. Dafür wird umso mehr über die Verzweif­lung bei Fass­binder, Wagner und vor allem Martin Bubers Ich und Du und das echte Gespräch sinniert, erzeugt das israe­li­sche Flub­ab­wehr­system Iron Dome ein fast schon kunst­volles Feuerwerk und lässt alten Liebes­schmerz zunehmend verblassen, geht es dann aber doch auch knallhart realis­tisch zu: Warum seid ihr Deutschen nur alle so schreck­lich pazi­fis­tisch? Diese und andere Fragen werden diffe­ren­ziert und immer wieder über­ra­schend beant­wortet, so wie dieser stille, kluge Film dann auch selbst eine Über­ra­schung ist. (Axel Timo Purr)

Il primo giorno della mia vita (ITA 2023 · R: Paolo Genovese · Spotlight)
Rom darf hier auf keinen Fall schön aussehen. Paolo Genovese bemüht sich in Il primo giorno della mia vita krampf­haft darum, die Ewige Stadt zu einem unbe­hag­li­chen Ort zu machen. Der Film handelt von vier Lebens­müden: einer Poli­zistin und verwaisten Mutter, einer Ex-Leis­tungs­sport­lerin im Rollstuhl, einem zynischen Moti­va­ti­ons­trainer und einem dick­li­chen Jungen. Dessen Vater will ihn zum Youtube-Star machen, indem er den Diabe­tiker beim Essen von 40 Donuts filmt. Sie alle wollen in einer Regen­nacht aus dem Leben scheiden, doch da greift ein guter Mensch (Toni Servillo) – oder Gott in Menschen­ge­stalt? – ein. Der Hotelier schenkt dem Quartett nach bibli­schem Vorbild sieben Tage Bedenk­zeit. Nun können die Vier schweben, aber keinen Espresso mehr trinken: Ist das noch ein Leben, zumal in Italien? Statt sich ernsthaft mit dem Thema Depres­sion ausein­an­der­zu­setzen, wogt empha­ti­scher Hochglanz-Kitsch. (Katrin Hill­gruber)

Montag, 26. Juni 2023

Black Box (Belgien, Deutsch­land 2023 · R: Aslı Özge · Neues Deutsches Kino)
»Wir sollten langsam mal ernst machen.« In voller Montur, Fahr­rad­helme und Soft­s­hell­jacke, wollen zwei Männer im Berliner Mittel­klasse-Häuser­block für Ordnung sorgen. Aslı Özges Black Box spielt sich ab im einge­mau­erten Kosmos des Innenhofs. Span­nungen, die in keiner bürger­li­chen deutschen Wohn­ein­heit fehlen dürfen, wie ein Müll­pro­blem und Streit mit der Haus­ver­wal­tung, steigen gefähr­lich an, als ein Poli­zei­ein­satz die Einheit für einen Tag abriegelt. Wer seine Termine nicht mehr wahr­nehmen kann, dem bleibt ja auch nichts übrig, als die Nachbarn zu bespit­zeln und zu denun­zieren. Das geht natürlich zual­ler­erst auf Kosten von Minder­heiten. Black Box zeigt faschis­toide Tendenzen der deutschen Mittel­schicht gekonnt auf, ist aber etwas verwir­rend im Ton: Durch die Über­spit­zung fällt es teils schwer, den Film ernst zu nehmen, das Thema ist aber in keiner Weise lustig. (Maria Krampfl / LMU München)

Edge of Ever­y­thing (USA 2023 · R: Sophia Sabella, Pablo Feldman · Inter­na­tional Inde­pend­ents)
Schnaps aus Plas­tik­fla­schen, Ziga­retten, Joints und mehr: Die fünf­zehn­jäh­rige Abby hat ihre brave Freun­des­gruppe mit Wild Child Caroline ersetzt. Auch ihre Fami­li­en­si­tua­tion bewegt sich mit einer toten Mutter, bösen Stief­mutter und ahnungs­losem Vater ganz im Rahmen der Coming-of-Age-Clichés. Strände, Berge und nächt­liche Stadt­szenen sind untermalt von einer Geräusch­ku­lisse aus Gehuste, Gekicher und Indie­musik. Pablo Feldman und Sophia Sabellas Spiel­film­debüt Edge of Ever­y­thing über­rascht nicht, es erzählt vorher­sehbar die Geschichte einer geschei­terten Teenage-Rebellion im Ameri­ka­ni­schen Vorstadt­mi­lieu. Aber wie auf einer Achter­bahn­fahrt macht es durchaus Spaß, Abby und ihren Freun­dinnen beim Abstürzen und Weiter­ma­chen zuzu­schauen. (Maria Krampfl / LMU München)

God’s Creatures (Irland, Verei­nigtes König­reich 2022 · R: Saela Davis, Anna Rose Holmer · Wett­be­werb CineMas­ters)
Was ist zerstö­render, schweigen oder lügen? Wen oder was zerstören Schweigen und Lügen? Ist es vertretbar, für den eigenen Sohn zu lügen, auch wenn man dadurch Unrecht geschehen lässt? Mit diesen Fragen beschäf­tigt sich God’s Creatures, ein dunkler, beklem­mender Film, dessen Handlung in einem abge­le­genen irischen Fischer­dorf ange­sie­delt ist. Im Zentrum steht das Verhältnis der Prot­ago­nistin Aileen zu ihrem Sohn, der uner­wartet aus dem Ausland zurück­kehrt. Aileen will nur das Beste, doch zunehmend beginnt ihr alles zu entgleisen und ihr Leben aus allen Fugen zu geraten; dabei untermalt die Musik mit Fort­schreiten des Films diesen wie einen Horror­film. Und auch wenn das Ende von God’s Creatures großteils schon recht früh erkennbar ist, so ist der Weg dahin jedoch sehens­wert. (Paula Ruppert / LMU München)

Avant l’effond­re­ment (F 2022 · R: Alice Zeniter, Benoit Seguin · Spotlight)

Avant l’effondrement
(Foto: Filmfest München | Avant l’effond­re­ment)

Drohender Zusam­men­bruch: Tristan (Niels Schneider), dessen Name das Regieduo Alice Zeniter/Benoit Seguin bewusst in Anspie­lung an Tristan und Isolde gewählt hat, kämpft im Wahl­kampf­büro für eine bessere Welt, in seinem Privat­leben lässt er sich treiben. Ein anonym zuge­sandter Schwan­ger­schafts­test bringt ihn aus dem Gleich­ge­wicht. Auf der Suche nach der möglichen Mutter verfängt er sich immer mehr in seinen Ängsten. Eine poten­tiell vorhan­dene Erbkrank­heit und Sorge um die fatale Möglich­keit der Vererbung lassen ihn erstarren. Er weiß nicht mehr, was tun. Während­dessen werden privat und im Wahlkampf poli­ti­sche Über­le­gungen zur Abwendung der Klima­ka­ta­strophe und zur Zukunft vorge­bracht, schwit­zend die Linken, schweißlos die Rechten. Bravourös der Schlag­ab­tausch von Fanny (Ariane Labed) und Pablo (Souheila Yacoub) am Esstisch über linke Posi­tionen, intel­lek­tu­eller Diskurs versus utopi­sches Leben auf dem Land. (Ursula Witten­zellner /LMU München)

Grand Expec­ta­tions (F 2023 · R: Sylvain Desclous · Spotlight)
Provo­ka­tion mit fatalen Konse­quenzen. Die Hoff­nungs­träger Madeleine (Rebecca Marder) und Antoine (Benjamin Lavernhe) studieren an der ENA, um später die Welt entspre­chend ihren linken poli­ti­schen Über­zeu­gungen zu verändern: »Ein Hijacker besteigt auch ein Flugzeug, wenn er es entführen möchte.« Beim Urlaub in Korsika verändert eine Tragödie ihre Beziehung für immer. Der Trau­ma­ti­sie­rung folgt Entfrem­dung. Madeleine stürzt sich in die Arbeit bei einer linken Abge­ord­neten, Antoine zieht sich zurück, ist später für den rechten Arbeits­mi­nister tätig. Im poli­ti­schen Milieu Frank­reichs zieht sich das Netz um sie immer mehr zusammen. Ein span­nungs­rei­cher, psycho­lo­gi­scher Thriller um Täter und Opfer, Schuld und Verstri­ckung, Verdrän­gung und Wahrheit. (Ursula Witten­zellner / LMU München)

Club Zero (Dänemark, Deutsch­land, Frank­reich, Katar, Öster­reich, Verei­nigtes König­reich 2023, R: Jessica Hausner, Wett­be­werb CineMas­ters)

Club Zero
(Foto: Filmfest München | Club Zero)

Man muss gar nicht essen. Essen: nur ein weit verbrei­teter Irrglaube. Zumindest erklärt das Ernäh­rungs­leh­rerin Miss Novak ihren Schütz­lingen im Elite-Internat so. Außerdem ist es besser für die Umwelt, für die Leis­tungen in Sport und Schule und sowieso für alles. Bis zum Kragen zuge­knöpfte Polo­hemden mit weiten Leinen­hosen und Röcken lassen die Haupt­dar­stel­lerin Mia Wasi­kowska auch ausrei­chend wahn­sinnig aussehen. Die öster­rei­chi­sche Regis­seurin Jessica Hauser hat angegeben, sich für ihren Film vom Märchen »Der Ratten­fänger von Hameln« Inspi­ra­tion gesucht zu haben. Immer mehr lullt die Lehrerin die Teenager mit New Age und Self Impro­ve­ment ein, bis sie ihr ins Verderben folgen. Leider ist der Film aber kein Märchen, sondern steckt im Limbo zwischen Psycho­drama und tief­schwarzer Komödie fest. Zwar inter­es­sant, zum Weinen aber nicht traurig und zum Lachen nicht lustig genug. (Maria Krampfl / LMU München)

Für die Rettung der Welt selbst zugrunde gehen? Ein pessi­mis­ti­sches Bild, das Jessica Hausner konstru­iert, indem sie Schüler:innen eines Elite­inter­nats einer neuen Lehrerin entge­gen­stellt, deren vermeint­li­ches Geheim­re­zept gegen Klima­wandel und Konsum­wahn »Conscious Eating« heißt. Die Jugend­li­chen werden der falschen Prophetin zum Opfer fallen ‒ das ist spätes­tens nach der längeren Einge­wöh­nungs­zeit in den Film klar. Doch noch während man sich an der unkom­pli­zierten Machart zu stören beginnt, lässt ausge­rechnet diese die scho­nungs­lose Intimität von Club Zero zu. Und richtet damit den Fokus auf Themen, an denen man sich gerne stört: Unser obses­sives Essver­halten und die Erder­wär­mung, vor allem aber die Frage nach Macht und Verant­wor­tung in Erzie­hungs­sys­temen. (Anne Krones / LMU München)

Birdland (Frank­reich 2022, R: Leïla Kilani, Inter­na­tional Inde­pend­ents)
Sind wir alle hier verrückt? Lina schreibt den Satz mit einem schwarzen Marker auf ihren Arm, weil sie so mit ihrem Vater kommu­ni­ziert. Seit einem schweren Auto­un­fall spricht sie nicht mehr, statt­dessen hat das Mädchen einen Blog im Internet, der sich zuerst komplett den Vögeln widmet, die sie auf dem verfal­lenden Fami­li­en­an­wesen in Tanger filmt. Ihr Vater ist das einzige Mitglied der Familie, das ihre Leiden­schaft teilt, die anderen wollen das Land möglichst gut verkaufen. Leïla Kilani flicht verschie­dene Welten wie Natur, Internet-Commu­ni­ties und dysfunk­tio­nale Groß­fa­mi­lien zu einer manchmal verwir­renden aber faszi­nie­renden Welt zusammen. Birdland ist ein bisschen von vielem, Coming-of-Age, Fami­li­en­drama, ein Plädoyer für soziale Gerech­tig­keit und Umwelt­schutz. Zwischen Einstel­lungen von bren­nenden Bergen und einge­blen­deten Blogposts funk­tio­niert der Spagat aber. (Maria Krampfl / LMU München)

Smoke Sauna Sister­hood (Estland, Frank­reich, Island 2023 · R: Anna Hints · Wett­be­werb CineRe­bels)
Nichts als die nackte Wahrheit, wenn Frauen in die Sauna gehen. Denn hier sind sie unter sich, in einem Kreis, in dem sie sich sicher fühlen können. Der Doku­men­tar­film Smoke Sauna Sister­hood der estni­schen Regis­seurin Anna Hints zeigt die Wirkung der tradi­tio­nellen Rauch­sauna im südöst­li­chen Estland: die Reinigung des Körpers und vor allem der Seele. Im schüt­zenden Dunkel der Sauna erzählen die Frauen alles, was sie bewegt – Krebs­er­kran­kung, gewalt­tä­tige Eltern, die eigene Sexua­lität, Fehl­ge­burt, Verge­wal­ti­gung, aber auch Lustiges. Dabei geling es dem Film, nichts sensa­ti­ons­hei­schend auszu­schlachten oder seine Prot­ago­nis­tinnen etwa als Opfer darzu­stellen; vielmehr zeigt er in seiner ange­nehmen ruhigen und teils etwas mysti­schen Art die Kraft einer Gemein­schaft, in der jede für die anderen da ist. (Paula Ruppert / LMU München)

Zur Rauch­sauna geht’s in eine abge­schie­dene Holzhütte. Hier treffen sich Frauen im Wechsel der Jahres­zeiten, und die Estin Anna Hints bringt das perfekt auf den Punkt. Die Kamera streift die nassen nackten Körper auf und ab, während Dampf und Rauch wie Wellen zwischen ihnen hin und her schwappen. Aus der Perspek­tive einer stillen Beob­ach­terin sieht man, wie sie sich gegen­seitig waschen, man hört ihren Gesang und ihre Gespräche. Dabei kreisen sie oft um die dunklen Seiten von Frau­en­leben wie häusliche oder sexuelle Gewalt oder uner­reich­bare Schön­heits­ideale. Im dunklen Kinosaal wirkt die Sauna sehr immersiv: Als die Frauen beschwören, all ihren Schmerz heraus­zu­schwitzen steckt die Katharsis an. (Maria Krampfl / LMU München)

Sonntag, 25. Juni 2023

Club Zero (AUT/ GBR/GER u.a. 2023 · R: Jessica Hausner · Cine­mas­ters)
Die sanfte Gewalt der Zooms zieht uns langsam aber zwingend in die perfek­tio­nis­tisch insze­nierte Welt eines engli­schen Colleges hinein. Und damit in den Bann der gewinnend auftre­tenden Lehrerin Frau Novak (Mia Wasi­kowska), die ihre Schüler*innen in die hohe Kunst der »nutrition skills« und des »conscious eating« einweist. Es ist spannend, wie aus der auf Selbst­op­ti­mie­rung und Nach­hal­tig­keit ausge­rich­teten Lehre, immer weniger zu essen, allmäh­lich ein endzeit­li­cher Erlö­sungs­glaube wird. Subtil zwischen Satire und Parabel chan­gie­rend, und mit der klini­schen Präzision eines Labor­ver­suchs, zeichnet Jessica Hausner das brillante und beklem­mende Bild einer letzten Gene­ra­tion. Dazu ein obses­siver Score von Attwenger-Musiker Markus Binder. (Wolfgang Lasinger)

More Than Strangers (DEU/GRZ 2023 · R: Sylvie Michel · Neues Deutsches Kino)
Wir sitzen alle im gleichen Boot. Oder halt im gleichen Auto. Slyvie Michel findet über den Mikro­kosmos Auto starke Bilder und Dialoge für die Blasen unserer Gesell­schaft, die erst in einer Krisen­si­tua­tion zum Tragen und Implo­dieren kommen. Ihr Film ist ein Zerr­spiegel deutscher oder besser: europäi­scher Gesell­schaft und zeigt vor allem, wie unmöglich es ist, nicht zu handeln, verlässt man erst einmal seine eigene Blase. Ein extremer Road Movie, in dem endlich einmal nicht der Weg das Ziel ist, sondern das Ziel der Weg ist. Ein dichtes Kammer­spiel, das relevante Themen wie Migration, Arbeits- und Liebes­alltag leicht­händig hinter­fragt, Pflicht oder Wahrheit für junge Erwach­sene und dazu noch ein geiler Sound­track. (Axel Timo Purr)

Black Box (BEL/DEU 2023 · R: Aslı Özge · Neues Deutsches Kino)
Gnaden­lose Flug­schrei­ber­aus­wer­tung einer Gesell­schaft nach dem Absturz. So wie İlker Çatak in seinem Lehrer­zimmer seziert auch Aslı Özge die deutsche Gesell­schaft über einen Mikro­kosmos. Statt ein Lehrer­zimmer ist es hier ein Berliner Mietshaus. Aber die Konstanten und auch das Ergebnis sind ähnlich. Jeder will sein Recht und vergisst dabei mehr und mehr die Regeln des Rechts­staats. Konkur­renz­kampf und Neoli­be­ra­lismus als Krebs­ge­schwür, ausgelöst durch die Gier nach einer eigenen Immobilie und die Angst um den Verlust alter Miet­ver­hält­nisse. Das ist wunderbar gesell­schafts­kri­tisch, univer­sell anwendbar und geschickt multi­ch­arak­te­ris­tisch aufge­fächert, krankt aber hin und wieder an allzu erklä­renden, hölzernen Dialogen und ein paar schmerz­haften Stereo­typen, etwa bei der Darstel­lung des die alte Divide-and-Rule-Methode so geschickt ausspie­lenden Haus­ver­wal­ters, der plötzlich Russisch kann und holter­die­polter als altes DDR-Relikt inter­pre­tiert werden könnte. (Axel Timo Purr)

Samstag, 24. Juni 2023

Alma & Oskar (Ö 2022 · R: Dieter Berner · Spotlight)
Erstaun­lich gleich­be­rech­tigtes Porträt zweier Künstler und Menschen, Alma Mahler und Oskar Kokoschka, über die nicht nur ihre histo­risch belegte Amour Fou erzählt, sondern auch ein Zeitalter im Umbruch gezeigt wird. Aber nicht nur der Erste Weltkrieg bahnt sich an, auch der Krieg zwischen den Geschlech­tern, das Aufbe­gehren der Frauen gegen über­kom­mene Hier­ar­chien. Das ist zwar etwas konven­tio­nell insze­niert und wird den extra­va­ganten Prot­ago­nisten nicht gerecht, ist aber schau­spie­le­risch über­ra­gend gespielt und auch mutig, denn Dieter Berner zeigt Alma & Oskar nicht nur auf ihrer Helden­reise, sondern auch als schwer neuro­ti­sche Persön­lich­keiten. (Axel Timo Purr)

Weißt du noch? (D 2023 · R: Rainer Kaufmann · Spotlight)
Was machen mit der Liebe, wenn sie am Ende des Lebens nicht mehr da ist? In Rainer Kaufmanns Kammer­spiel nehmen Senta Berger und Günther Maria Halmer einfach ein Pille, um Erin­ne­rungen (und damit die Liebe) zu reak­ti­vieren. Diese Idee bietet den beiden Altschau­spie­lern ein Podium für ernüch­terndste Erkennt­nisse über das Altern, die Liebe und die Durch­schnitt­lich­keit der eigenen Existenz, die bisweilen Thomas-Bernard­sche Qualität haben und immer wieder brillant ausge­spielt werden. Leider ist Kaufmanns Film viel zu bieder und dann auch seicht insze­niert, um wirklich die Spannung zu halten und das Leid des Lebens spürbar zu machen. (Axel Timo Purr)

Freitag, 23. Juni 2023

The Persian Version (USA 2022 · R: Maryam Keshavarz · Spotlight)
Ein Film über die Macht des Schwei­gens und die Erlösung durchs Reden. Dass der Publi­kums­sieger des dies­jäh­rigen Sundance-Festivals das 40. Münchner Filmfest eröffnet, verblüfft dann aber doch, denn Keshavarz auto­bio­gra­fi­sches und tragi­ko­mi­sches Coming-of-Age hat seine Ecken und Kanten, benutzt Brechts gerade wieder sehr in Mode geratene V-Effekte des epischen Theaters ein wenig unbe­holfen und erratisch, ist dafür aber auf ganzer Linie politisch korrekt, ange­messen queer und mit ausrei­chend Feelgood-Momenten bestückt und liegt damit gefühlt gleichauf mit dem Eröff­nungs­film der dies­jäh­rigen Berlinale, She Came To Me. (Axel Timo Purr)