40. Filmfest München 2023
40. Filmfest München: Kurzkritiken |
Von Redaktion
Une affaire d’honneur (Frankreich 2023 · R: Vincent Perez · Spotlight)
Was ist Ehre? Ein Konzept, das heute etwas antiquiert und schwammig erscheint. Im Frankreich des späten 19. Jahrhundert war es jedoch ganz klar, was Ehre ist und was getan werden muss, sollte sie
angegriffen werden: Man muss sich duellieren. Vincent Perez’ Une affaire d’honneur dreht sich genau darum – um Duelle, die Ehre und wo diese aufhört. Im Zentrum steht Fechtmeister Clément Lacaze, der sich aufgrund des Ehrverständnisses in einem Teufelskreis von Zweikämpfen wiederfindet. Er verbündet sich mit der glühenden Feministin Marie-Rose Astié, die neben einigem anderen auch Frauen das Recht zum Duell erkämpfen möchte. Marie-Rose
basiert lose auf einer historischen Figur, was der Film leider erst zum Schluss preisgibt und was die Figur etwas zwiespältig macht. Wer allerdings gern gut inszenierte Fechtkämpfe mag, ist hier absolut richtig. – Paula Ruppert / LMU München
Die Tagebücher von Adam und Eva (DEU 2023 · R: Franz Müller · Neues Deutsches Kino)
So könnte das Paradies aussehen: Eine malerische Felslandschaft mit imposanten Kakteen und Tieren wie dem mythischen Dodo oder einem 28 Meter langen und sieben Meter hohen Dinosaurier. Als utilitaristisch geprägter
Amerikaner sah Mark Twain in „Die Tagebücher von Adam und Eva“ für das sperrige Tier eine Aufgabe vor, also versucht Eva ihn zu melken, wenn sie nicht gerade dem schläfrigen Adam nachstellt. Mit der Verfilmung seines Lieblingsbuchs in einem argentinischen Nationalpark ist Müller (Worst Case Scenario) erneut ein Triumph der Phantasie gelungen, unterstützt durch Chiara Minchios
sagenhafte Kostüme. Adams und Evas Treiben unter ausladenden Wollperücken und in hautfarbenen Dessous kontrastiert Müller mit einer Berliner Gegenwartsebene: Gewöhnung festigt die Liebe, lautet die These dieser hinreißenden Literaturverfilmung. (Katrin Hillgruber)
More than Strangers (Deutschland, Griechenland 2023 · R: Sylvie Michel · Neues Deutsches Kino)
Never seen a black man driving a nice car. Fünf unbekannte Menschen verschiedener Nationalitäten befinden sich in einem Car-Sharing-Auto auf dem Weg nach Paris. Jeder der Mitfahrenden hat sein eigenes Päckchen zu tragen,
wobei die fehlende Intimität privater Tragödien während der Fahrt eine gewisse Transparenz hervorbringt. Nach ihrem Spielfilmdebüt Die feinen Unterschiede auf dem Filmfest München im Jahr 2012, präsentiert Sylvie Michels nun ihre exzellente Tragikomödie More than Strangers. Eine ausdrucksstarke Inszenierung mit humorvollem Detail kreiert einen Einblick in die
virulenten Thematiken der heutigen Zeit. (Virginia-Shannon Harmer / LMU München)
Perdidos en la noche (Mexico 2023 · R:Amat Escalante · Wettbewerb Cinemasters)
Philosophien über Leben und Tod treffen Influencer. In einem kleinen Bergbau-Dorf in Mexico sucht der junge Emiliano (Juan Daniel García Treviño) seit drei Jahren seine Mutter, die gemeinsam mit einer Gruppe Aktivisten spurlos verschwand. Als ihn Hinweise zu der wohlhabenden Familie Aldama führen und er dort beginnt, für sie zu arbeiten, nimmt seine Suche richtig Fahrt auf. Arm trifft auf Reich, Jung auf Alt, gesunde auf toxische Liebe. In seinem neuen Thriller baut Amat Escalante wieder tiefe packende Obsessionen ein, die getragen von schönen Schauspieler*innen, einer interessanten Architektur und einem modernen Soundtrack einen packenden Mexikanischen Western bilden. Allerdings streckt sich der Film teilweise in die Länge – so wie fast jede erbitterte Suche nach Rache. (Stella Kluge / LMU München)
Fallende Blätter (Finnland 2023 · R: Aki Kaurismäki · Wettbewerb CineMasters)
Die Kraft der Blicke war selten gewaltiger. Verstohlene, beobachtende, eindeutige, gebannte Blicke. Und so wie sie sich kreuzen können, so können sie sich auch wieder verlieren. Nachdem sich die Blicke von Ansa und Holappa ein erstes Mal getroffen haben, fällt es ihnen schwer, sich nicht
anzusehen; und doch verlieren sich die Supermarktangestellte und der Bauarbeiter wieder aus der Sicht. In der Suche nacheinander zeigt Aki Kaurismäki genial zwei einfache Leute, deren Charakter so fein ausgearbeitet ist, dass man gerne länger als 81 Minuten zusehen möchte, zumal die Komposition der Bilder und der Musik absolut meisterhaft ist. Ein absolutes Muss für jeden, der ein traumhaft schönes filmisches Meisterwerk sehen und den Kinosaal mit einem Lächeln auf den Lippen
sowie einem Gefühl der Erfüllung verlassen möchte. (Paula Ruppert / LMU München)
Hochaktuell und könnte doch ein Klassiker aus der Hochzeit des Kinos sein. Charmant ironisch erzählt Aki Kaurismäkis neuer Film Fallende Blätter über die Wege, die uns das Leben gehen lässt. Ansa ist arm, besitzt nur ein einziges Geschirrset für sich selbst und ist trotz allem determiniert, dem Leben immer wieder eine Chance zu geben. Holappa ist Alkoholiker, singt nicht gerne Karaoke und arbeitet von Baustelle zu Baustelle. Als sich die beiden begegnen, ist klar, dass sie ihre alten Muster ablegen müssen, um gemeinsam einen neuen Weg einschlagen zu können. Ein Film, der zeigt, dass es nicht viel braucht um ein schönes Leben zu haben – und um einen schönen Film zu machen! (Stella Kluge / LMU München)
Ein Film des Films wegen. »Tough man don’t do Karaoke.« Ein Mann in den 50ern singt voller Inbrunst, während sich sein Freund einen Schnaps nach dem anderen hinter die Binde kippt. Wenige Bars weiter: eine alte, blondierte Frau mit Lockenwicklern auf dem Kopf gibt ihre Version von Marilyn Monroe, irgendwo läuft Mambo Italiano, und wenn man will, kann man hören, wie Sekt ins Glas eingeschenkt wird. Fallende Blätter beobachtet den Alltag zweier Erwachsener rund um Liebe, den Umgang mit Krieg und Arbeitslosigkeit, Depressionen und Alkoholismus. Mit langen Einstellungen und wenigen Schnitt zeigt der Film eine Bestandsaufnahme aus dem Leben und erzählt die Liebesgeschichte einer Frau und eines Mannes, deren Wege sich schicksalhaft immer wieder kreuzen. Dank ruhiger Bildsprache und trockenem Humor wirkt das Anschauen fast schon meditativ, jedoch genauso unterhaltsam. Ein Film, der sich am besten durch sich selbst mitteilt. (Amélie Engelmann / LMU München)
Mami Wata (Nigeria 2023 · R: C. J. »Fiery« Obasi · Wettbewerb Cinerebels)
Zinwe steht am Feuer, nimmt einen Schluck aus einer Flasche, sie hat geweint. Ihre Schwester Prisca steht währenddessen an einer Bar und beklagt sich beim Barmann über sie. Zusammen mit ihrer Mutter waren sie für die Verehrung der westafrikanischen Meeresgöttin
Mami Wata in ihrem Dorf Iyi zuständig. Doch das Spannungsfeld zwischen Tradition und dem Streben nach Fortschritt hat das Frauengespann zum Bröckeln gebracht. Die Welt, die Regisseur C. J. „Fiery“ Obasi in Mami Wata erschafft, hat etwas Traumartiges. Das wunderschöne Spiel mit Licht und Schatten hypnotisiert einen fast. Die kunstvollen Frisuren,
das Make-up und die eigens an den Film angepasste Pidginsprache sind eine Hommage an westafrikanische Kultur. Ein Film, der viel zu sagen hat, in seinen Worten und Bildern. Vor allem eins: You should fear women. (Maria Krampfl / LMU München)
Notte Fantasma (Italien 2021 · R: Fulvio Risuleo · Spotlight)
Der Albtraum vieler Teenager: Tarek wird von einem Zivilpolizisten mit etwas Gras erwischt und soll auf die Wache mitkommen. Doch während er im Polizeiwagen sitzt, weicht die Panik, verhaftet worden zu sein, schnell einer anderen Angst: Denn irgendwas stimmt nicht ganz mit dem Polizisten. Im Laufe der Nacht wird
er immer mehr zum Mephisto statt zum Gesetzeshüter. Mit teuflisch funkelnden Augen fordert er Tarek immer wieder zu wenig ordnungsgemäßen Aufgaben heraus – und erklärt ihm nebenbei Gott und die Welt.
Fulvio Risuleo kreuzt in Notte Fantasma irgendwie coming of age mit Taxi Driver und schafft es
gleichzeitig, einfühlsam und witzig Männlichkeit und Migration zu thematisieren. Und auch optisch bietet der Film ein paar schöne Momente, gerade für alle Liebhaber von Nachtszenen. (Maria Krampfl / LMU München)
Scrapper (Vereinigtes Königreich 2021 · R: Charlotte Regan · International Independents)
Georgie kommt alleine klar. Und das mit zwölf. Ihre Mutter ist vor Kurzem gestorben, seitdem wohnt sie alleine in dem kleinen Reihenhaus irgendwo in England. Erwachsene braucht sie keine, ihr Geld verdient sie sich durch Fahrradklau mit einem Freund. Georgie, großartig gespielt von Newcomerin Lola Campbell, ist ein – nach außen hin – sehr taffes Mädchen. Als eines Tages aber plötzlich ihr Vater auftaucht, ändert sich alles von jetzt auf gleich. Scrapper zeigt dabei die Sicht eines Kindes, das zu schnell erwachsen geworden ist und doch noch die kindliche Phantasie und Unschuld behalten hat; gleichzeitig geht es um Trauer, Bewältigung, die Liebe zwischen Eltern und Kindern. Und trotz seiner absolut traurigen Thematik schafft es der Film, einfach nur schön und eine Bereicherung zu sein. Unbedingt sehenswert. (Paula Ruppert / LMU München)
»I don’t need you to replace mum, but I need someone.« Zwischen kindlicher Wahrnehmung und dem plötzlichen Erwachsenwerden findet sich die zwölfjährige Georgie, als ihre Mutter verstirbt und sie allein zurückbleibt. Gemeinsam mit ihrem besten Freund Ali verbringt sie die Sommerferien damit, Fahrräder zu stehlen. Da taucht plötzlich Jason auf und stellt sich als ihr Vater vor. Die beiden finden sich in einem skurrilen Spannungsfeld wieder und müssen lernen, miteinander umzugehen. Keiner der beiden ist so ganz begeistert von den neuen Umständen. Das Zusammenspiel von der jungen Lola Campbell und Harris Dickinson funktioniert dabei aber auf eine unglaublich sympathische Art und bringt mit skurrilen Aussagen die ZuschauerInnen immer wieder zum Schmunzeln. Charlotte Regan erzählt die Geschichte in einem sehr jungen und mutigen Stil. Aufgelockert wird die zunächst feindselige Stimmung zwischen Vater und Tochter durch humorvolle Einspieler von kindlicher Wahrnehmung und absurde Aussagen des besten Freund Ali. Mit viel Surrealität und Humor schafft es Scrapper, die ZuschauerInnen voll in seinen Bann zu ziehen. (Helena Bublak, LMU München)
Boyz (DEU 2023 · R: Sylvain Cruiziat · Kinderfilmfest)
The kids are alright. Sylvain Cruiziats hyperreales Porträt seines Bruders und seiner Freunde ist fast schon klassisches GenZ-Coming of Age und erinnert in dem puristischen dokumentarischen Ansatz, Lebensalltag zu fotografieren und Gespräche über das erste Mal,
Blut- und Fleischpenisse und Mikropenisse zu führen, das Saufen und Kotzen und das Labern über Männerbilder- und Sozialisierungen an die (nicht-) dokumentarischen Filme von Larry Clark. Gleichzeitig könnte der Unterschied nicht größer sein, sind diese anders als Clarks Kids in Münchner Watte gepackt. Aber all die Ängsgte, Unsicherheiten, Verletzlichkeiten und Gegeninszenierungen
bleiben. Und die Ahnung, dass sie die durchschnittlichsten Leben der Welt leben und am Ende so dastehen werden wie das alte Paar in Weißt du noch? Unbedingt im Double Feature mit Dead Girls Dancing (Neues Deutschs Kino, die
Kurzkritik siehe unten) ansehen. (Axel Timo Purr)
The Dive (DEU 2022 · R: Maximilian Erlenwein · Neues Deutsches Kino)
Katastrophe als Katharsis. Maximilans Erlenweins delikat und souverän inszenierter Überlebensthriller beginnt wie ein E.E. Cummings-Gedicht: »maggie and milly and molly and may went down to the beach(to play one day). and
maggie discovered a shell that sang«, doch die doppelbödige und bis zum Ende spannende Genre-Arbeit transformiert schnell zum nackten Überlebenskampf unter und über Wasser, denn es ist nicht nur das Leben, das hier an einem seidenen Faden hängt, sondern auch eine lebenslange Beziehung. Das prickelnde Score und eine fantastische Kamera unterstützen die dezent eingestreuten Leerstellen und Familientraumata und die beiden Hauptdarstellerinnen transportieren selbst
mit Tauchermaske ihre Ängste und Hoffnungen so überzeugend, dass bei all dem Dekompressionshorror immer auch der menschliche Horror transparent bleibt und die Hoffnung auf ein Leben in einer gemeinsamen „Blase“ nicht stirbt. (Axel Timo Purr)
Dead Girls Dancing (DEU 2023 · R: Anna Roller · Neues Deutsches Kino)
Dumme Mädchen machen dumme Sachen. Und merken irgendwann, dass Abi und Schule eine gefährliche Blase waren und das Leben andere Regeln hat. Anna Roller inszeniert die Ignoranz der Jugend mit gnadenloser Präzision und demaskiert den naiven Wunsch der Mädchen nach „Unvernunft“ über einen Road-Movie, der es in sich hat, weil er auch deutlich macht, dass
hier ein Bildungssystem auf allen Ebenen versagt hat, das häusliche genauso wie das schulische. Gleichzeitig ist Rollers Film auch eine empathische Introspektion junger Beziehungen und der überraschenden Erkenntnis, dass Beziehungen immer auch situativen Charakter und vor allem überraschende Grenzen haben. (Axel Timo Purr)
Clashing Differences (DEU 2023 · R: Merle Grimme · Neues Deutsches Kino)
Lasst uns doch mal unterschiedlich sein. Wie schwer das innerhalb der Blase einer intersektional feministisch aufgestellten Frauengruppe und unter Einbeziehung von Diversitätsdebatten zwischen Empowerment und Tokenism ist,
zeigt Merle Grimme in 75 Minuten dezidiert auf. Bipoc-Aktivismus eskaliert zu gnadenlosen Hierarchie- und Beziehungskämpfen, so dass bei all dem Wirbel am Ende die ernüchternde Erkenntnis steht, dass weder das sozialisierte noch das angeborene Geschlecht den Menschen besser macht. Merles ironisches Spiel mit rassistischen und Gender-Stereotypen ist klug, witzig und immer wieder überraschend, doch das Komödienkorsett und die betont leichte Streichermusik hätte es nicht
unbedingt gebraucht. (Axel Timo Purr)
Schock – Kein Weg zurück (DEU 2023 · R: Daniel Rakete Siegel, Denis Moschitto · Neues Deutsches Kino)
Bleib in deiner Blase, sonst fällst du aus deinem Leben. Daniel Rakete Siegel und Denis Moschitto (der auch den überragenden gespielten „Helden“ verkörpert) inszenieren eine
überraschende und soghafte Genre-Arbeit, die in gesellschaftliche Bereiche Deutschlands vordringt, die man so selten gesehen hat. Ein illegaler Arzt, der Illegale versorgt, der zwischen alten Freunden und der Mafia zerrieben wird, aber dennoch aufrichtig bleibt. Die kargen Dialoge stimmen, die mit skalpellartiger Kamera sezierte Alltag deutscher Schattenrealität überzeugt und der Rhythmus, den das Genre vorgibt, ist virtuos interpretiert. (Axel Timo Purr)
The Inspection (USA 2022 · R: Elegance Bratton · Cinevision)
„No!“, brüllt er auf die Frage, ob er je Kommunist, drogenabhängig, homosexuell war. In zwei Punkten lügt Ellis. Als schwarzer Schwuler erfährt er im US-Marines Bootcamp besondere Schikane – doch er sehnt sich nach dessen Ziel: Die Menschen brechen, neu zusammenfügen. Er
sieht’s als Chance, die Akzeptanz seiner Mutter zu erlangen. Das ist autobiographisch – und Bratton in seiner Sicht sehr unkritisch gegen die US-Kriegspolitik. Der Film ist mehr Full Metal Jacket als Beau travail. Bricht nur in seltenen schwulen Fantasien und der Musik von Animal Collective mit
dem Drill-Genre. Immerhin: Ein Marines-Film, in dem der brutalste Satz einer Mutter vorbehalten ist. (Thomas Willmann)
Pornomelancolía (ARG/BRA/F 2022 · R: Manuel Abramovich · CineRebels)
Okay, das Buñuel-Zitat im Zapata-Porno kommt unerwartet. Und es ist Pornomelancolía wahrlich kein schlechter Film. Doch wenn man den Titel liest und weiß, dass es eine lateinamerikanische Spiel-Doku ist über einen jungen
Mann zwischen „Just for Fans“ (dem Señor Spielbergo der Pornfluencer-Plattformen) und Porno-Dreh – dann bringt das Anschauen nicht allzuviel Erkenntnis-Mehrwert gegenüber dem, was man sich denken kann. Die Sex-Industrie ist gar kein Vergnügungspark? Pardauz! Anders als Pornfluencer unlängst, findet der Film nur punktuell einen überraschenden Zugang zu den Figuren und der so
beiläufigen wie fundamentalen Tristheit ihres Gewerbes. (Thomas Willmann)
Die Haut Des Tintenfischs (LA PIEL PULPO) (D/ECU/F/GRC/MEX 2022 · R: Ana Cristina Barragán · International Independents)
Ein Film wie ein Float Tank: Er trägt einen in einen Zustand der Auflösung. Drei Jugendliche hausen mit ihrer Mutter auf einer Insel in einer Art Ur-Zustand; halb Eden, halb als wären sie noch nicht zur
Welt gekommen. Grenzen diffundieren zwischen Mensch und Tier, Selbst und Anderen – die Haut nicht als Barriere sondern Membran. Bei Barragán scheint die Kamera ein Instrument zur Aufzeichnung nicht nur von Licht, sondern taktiler Empfindung. Als eins der Mädchen am Ende in die Stadt am gegenüberliegenden Ufer geht, scheint die Möglichkeit einer Abnablung auf – schade, dass der großartige Film die nicht nutzt. (Thomas Willmann)
The Feeling That the Time For Doing Something Has Passed (USA 2023 · R: Joanna Arnow · CineVision)
Eine Frau Anfang 30 im Spätkapitalismus. Anker-, ziellos in ihrem Leben. Alles nicht neu für eine amerikanische Indie-Komödie. Hier aber mal in einer anderen Geschmacksrichtung als Vanilla. Ann ist Sub, hat
BDSM-Beziehungen mit mehreren Meistern. (Interessante Dynamik, die Regisseurin des Ganzen vor der Kamera in devoter Rolle zu haben.) Arnow inszeniert das mit genug Verständnis, es nicht zu denunzieren, karikieren. Und genug Distanz, es nicht zu romantisieren. Sie hat enorm trockenen Humor, einen wachen Blick für die Absurditäten des Büroalltags, der Besuche bei den Eltern (alten Gewerkschaftlern) wie die jeder Sexualität. (Thomas Willmann)
Mami Wata (NGA 2023 · R: C.J. „Fiery“ Obasi · CineRebels)
„Du solltest die Frauen fürchten!“ Doch nicht etwa, weil Mami Wata die verführerische Dämonin westafrikanischer Mythologie wäre. Hier ist sie Göttin – die, schon gebrochen scheinend, mit einem grandiosen Power-Move die gewalttätigen,
bewehrten Männer in ihre Schranken weist. Erzählerisch hätte etwas Straffung nicht geschadet. Aber visuell: Was für ein Film! Obasi hat bewusst einen neuen Blick, neue Bilder gesucht für schwarze Körper, Gesichter auf der Leinwand. Resultat: Eine expressive, ornamentale Schwarz-weiß-Ästhetik. Nicht das Einzige, was hier an F.W. Murnau erinnert. Bis dann das Ende so glorreich alle Sicherungen raushaut, dass man nur die Waffen strecken kann. (Thomas Willmann)
Nação valente (AGO/F/PRT 2023 · R: Carlos Conceição · International Independents)
Soviel sei gespoilert: Es gibt hier einen recht sensationellen Striptease vor Jungsoldaten zu „Spring Summer Winter and Fall“ von Aphrodite’s Child. Aber was danach geschieht... Das ist ein WTF?!-Moment, der plötzlich alles auf den Kopf stellt. Bis dahin glaubt man’s eher einen Fehler, dass der Film sich auf die Rekruten konzentriert. Statt
den Fokus auf dem angolanischen Dorf gegen Ende des Befreiungskriegs 1974 zu lassen, und der Nonne, die dort einzieht. Aber NAÇÃO VALENTE erzählt auf sehr andere Weise als zunächst vermutet vom Nachhall eines Kolonial-Traumas. Ist Teil eines jungen Welt-Kinos, das Genre produktiver findet als Sozialrealismus. (Thomas Willmann)
The Lost King (GB, R: Stephan Frears, Spotlight)
Auf historischen Pfaden durch die Belanglosigkeit. Es ist das Jahr 2012. Die im Leben oft übergangene Philippa Langley (Sally Hawkins) sieht sich eines Abends ein Theaterstück zu König Richard III. an und fühlt sich direkt mit dem König, dessen Leiche nie gefunden wurde, verbunden. Philippa macht sich nahezu besessen auf
die Suche nach dem Leichnam. Die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte schafft es jedoch nicht, den Zuschauer in den Bann zu ziehen. Der Film nimmt sich zu viel Zeit den Charakter von Philipa zu definieren, worunter der wichtigere Teil des Films – nämlich die Grabung nach Richard III. – stark leidet. Am Ende ist ein unausgewogener Film entstanden, der trotz einiger Anflüge trockenem britischen Humors sowie einer gewissen Dramatik eine leider sehr zähe Seherfahrung
bietet. (Giovanni Nutsua / LMU München)
Schock – Kein Weg Zurück (DEU, R: Daniel Rakete Siegel & Dennis Moschitto, Neues deutsches Kino)
Ein Arzt ohne Grenzen. Bruno (Denis Moschitto) schlägt sich die Nächte als Arzt um die Ohren. Allerdings sind seine Patienten Mafiosi, Sexarbeiterinnen und Kriminelle. Dennoch ist es Bruno wichtig, zu helfen, so gut
es möglich ist. Dies bringt ihn aber später in große Schwierigkeiten. Der Film ist deutlich von Nicolas Winding Refns Thrillern wie Pusher oder Drive inspiriert. Schock ist wortkarg, ruhig, aber auch kompromisslos und brutal. Das Regie-Duo Siegel & Moschitto hat einen spannenden und atmosphärisch dichten Film inszeniert, der ohne
Stereotype, ohne Kitsch und ohne Pathos auskommt. Dieser Film will im Kino gesehen werden! (Giovanni Nutsua / LMU München)
The Feeling That The Time For Doing Something Has Passed (USA 2023 · R: Joanna Arnow · Wettbewerb CineVision)
Die Suche nach der Liebe, dem Glück, Geborgenheit. Oder wonach eigentlich wirklich? Aber eigentlich ist das gar nicht mal so wichtig. Denn die Protagonistin ist nicht unglücklich, nein, und was sie sucht, weiß sie vermutlich selbst nicht so ganz. Joanna Arnows Film The Feeling That The Time For Doing Something Has Passed folgt ihr durch verschiedene BDSM-Beziehungen, ihr Arbeits- und Privatleben, dem Versuch einer richtigen, »normalen« Beziehung. Gespickt mit herrlich trockenem Humor, mit auf ihre Art sehr individuell gezeichnete Figuren und einem langsamen, aber nie schleppendem Erzähltempo entwickelt der Film eine eigene Dynamik, die sehr angenehm durch ein paar Episoden aus dem Leben der Protagonistin führt. Ein Film, den man sehr schwer in Worten beschreiben kann – man sollte ihn sich einfach anschauen. (Paula Ruppert / LMU München)
A Cup of Coffee and New Shoes On (Albanien, Griechenland, Kosovo, Portugal 2022 · R: Gentian Koçi · Wettbewerb CineVision)
Der Kaffee fällt vom Tisch. Keiner zuckt mit der Wimper. Die Zwillinge Gëzim und Agim sind taubstumm. Es merkt zwar erstmal keiner, wenn eine Tasse zu Bruch geht, das ist aber auch nicht weiter
schlimm. Die beiden führen ein unabhängiges Leben in Tirana – bis sie anfangen, ihre Sehkraft zu verlieren. Gentian Koçis A Cup of Coffee and New Shoes On ist ein leise-kraftvoller Film, der auf jede aufgesetzte Tragik verzichtet. Die Kamera ist statisch, die Musik entspringt immer den Szenen. Seine ungeheure emotionale Schlagkraft zieht der Film aus dem ausdrucksstarken Spiel der Hauptdarsteller Edgar und Rafael Morais, die die albanische
Gebärdensprache eigens für den Film gelernt haben. Ohne Worte kreieren sie eine komplexe Beziehung zwischen den Zwillingen, die von der ersten Sekunde in den Bann schlägt. (Maria Krampfl / LMU München)
Can Creativity Save the World? (D 2023 · R: Hermann Vaske · Spotlight)
Dialektik der Kreativität: Nach Why Are We Creative? (2018) und Why Are We (Not) Creative? (2018-2021) präsentiert Regisseur
Hermann Vaske mit Can Creativity Save the World den vorerst letzten Teil seiner Trilogie. Können existentielle Krisen der Welt mit kreativen Ideen überwunden werden? Können Künste und Wissenschaft diesem Anspruch genügen? Er befragt 46 berühmte Persönlichkeiten, darunter Cate Blanchette, Marina Abramović, Umberto Eco, Salman Rusdie, Isabella Rosellini, Nelson Mandela, Wolf Singer, David Bowie und Campino. Mit der Vielstimmigkeit möchte Vaske, der
sich seit über 30 Jahren mit dem schöpferischen Denken beschäftigt, die verschiedenen Ansichten auf den Grund gehen. Die Statements zeigen die positiven und negativen Facetten der Kreativität eindrucksvoll auf, bleiben aber isoliert nebeneinander stehen. Begleitend zum Film: Eine Ausstellung im Literaturhaus und sein 2022 erschienenes Werk Why are you creative? (Ursula Wittenzellner / LMU München)
Monster (Japan 2023 · R: Hirokazu Kore-edas · Wettbewerb Cinemasters)
Stell dir vor, man müsste vor dem »Monster« gar keine Angst haben. Nehmen wir mal an, man sähe die Protagonisten mit einem gewaltigen, unerklärlichen Konflikt konfrontiert. Ein Perspektivwechsel jedoch zeigt, dass der nur durch ein Missverständnis erzeugt wurde. In Hirokazu Kore-edas neuem Film Monster geht es um die Aufklärung genau dieses Missverständnisses und darum, was eigentlich ein »Monster« sein soll. Für die Lehrer sind es die herumtollenden Schüler, für die Schüler die Lehrer, für die Lehrer die alleinerziehenden Eltern. Für die Eltern, ihre Kinder, die anders sein könnten, andere Dinge wollen könnten, sich nicht anpassen möchten. Wir verstehen, dass manches vielleicht gar nicht so schlimm ist wie auf den ersten Blick. Mit dem wunderschönen Soundtrack von Ryuichi Sakamoto verwandelt sich dieser erst düster erscheinende Film in eine rührende Geschichte um Selbstverwirklichung. (Stella Kluge / LMU München)
Siccità (Italien 2022 • R: Paolo Virzì • Spotlight)
Drei Jahre lang hat es nicht geregnet, keinen einzigen Tropfen. Das Wasser ist dementsprechend knapp. Dieses Szenario liegt Siccità von Paolo Virzì zugrunde, der seine Handlung in Rom vermutlich in nicht allzuferner Zukunft ansiedelt.
Der Tiber windet sich beeindruckend wie eine sandige Schlucht durch die Stadt und auch die sozialen Gräben werden bei der Verteilung des Trinkwassers offensichtlich. Das endet oft in teils herrlichen Grotesken, die den Ernst der Thematik aber nicht kleinreden. Allerdings will der Film zu viel. Es gibt so viele Handlungsstränge und Figuren, die alle miteinander verbunden sind, allerdings kaum in die Tiefe gehen und die einfach in der Luft hängen bleiben, was den Film schlicht zu
lang macht. (Paula Ruppert / LMU München)
The Happiest Man In The World (Belgien, Nordmazedonien, Slowenien 2022 · R: Teona Strugar Mitevska · International Independents)
Speeddating in Sarajevo. Die 45-jährige Asja soll sagen, mit wem sie am liebsten Abendessen würde. Sie gibt sich Mühe, kommt aber nur auf Jesus. Zoran wählt Kurt Cobain. Sie bezeichnet sich als einfache Person, er ist abgemagert und zittrig. Es bahnt sich eine schlimme Vorahnung an, dass die beiden sich schon einmal begegnet sind. Regisseurin Teona Strugar Mitevska nutzt das soziale Labor eines überambitionierten Dating-Events, um in den Teilnehmenden den Nachhall des Bosnienkriegs zu thematisieren. Gerade das ungleiche Ensemble an Nebenfiguren bringt hier nicht nur viele Perspektiven, sondern lockert den Film auch auf, ohne dem Thema Gewicht abzusprechen. The Happiest Man in the World braucht keine Plädoyers und Lösungen. Man lacht, weint, schreit, tanzt, fährt am Ende wieder heim und sieht die Sonne durchs Busfenster. (Maria Krampfl / LMU München)
Es brennt (DEU 2022 · R: Erol Afşin · Neues Deutsches Kino)
Rechtsstaat oder doch besser Selbstjustiz? Wie Kida Kodr Ramadan in seinem düsteren Rassismusdrama Égalité hinterfragt auch Erol Afşin den deutschen Rechtsstaat. Mit einem betont hilflos agierenden Kida Kodr Ramadan und einer beklemmend großartigen Halima Ilter in den
Hauptrollen und hervorragend besetzten Nebenrollen erzählt Afşin eine wahre Geschichte, die am Ende so erschütternd ist, dass man diesen Film kein zweites Mal sehen will. Auch, weil er kristallklar und mit großer ethnografischer Genauigkeit von geglückter Assimilierung erzählt. Umso bitterer ist die Erkenntnis, dass auch das nur eine der vielen Blasen ist, die schnell zerplatzen kann, nimmt sie erst einmal Reibung an der »falschen« Stelle auf. Deutlich wird auch, wie fragil
letztendlich die eigene Identität, das sozialisierte Deutschsein ist, weil die Angst am Ende dann doch die Seele aufisst. Und nicht nur die Angst, sondern mehr noch die soziale Realität. Ein Film, der unbedingt an jeder deutschen Schule ab der 8. Klasse gezeigt werden sollte, nein: gezeigt werden muss. (Axel Timo Purr)
Fossil (DEU 2023 · R: Henning Beckhoff · Neues Deutsches Kino)
Du kannst den Leuten nicht in den Kopf gucken. Und den Wandel einer Gesellschaft nicht begreifen. Ein Wandel, der inzwischen Familien zerreißt und eine wichtige Erklärung dafür ist, warumin Deutschland die AFD so floriert und Trump immer noch im
Spiel ist. Henning Beckhoff lässt diese Assoziationen unweigerlich zu, denn in seinem starken, wuchtigen und immer wieder auch zärtlichen Porträt eines Baggerführers auf dem Tagebau, fließen unsere eigenen filmischen Erinnerungen unweigerlich mit ein, an Gundermann oder an das großartige Porträt der Baggerband-Arbeiterin Martha (1978), die zeigten, dass Arbeit immer auch Seele ist und wird die genommen, der Mensch nichts mehr ist. Auch in Fossil implodiert ein Leben, eine Familie, eine ganze Gesellschaft. Die Bilder der Einsamkeit und der sich nicht mehr berührenden gesellschaftlichen Blasen sind so grausam wie der vereinzelte Sex und die bittere Erkenntnis des totalen Kontrollverlusts und am Ende immer der Blöde
zu sein. (Axel Timo Purr)
Die Unschärferelation der Liebe (DEU 2022 · R: Lars Kraume · Spotlight)
Logorrhö in Berlin (und New York). Lars Kraume bewegt sich zumindest im Titel nah an Simon Stephens Schauspiel (die allerdings in London und nicht Berlin spielt). Doch ähnlich wie bei der deutschen Erstaufführung 2016 am Düsseldorfer Schauspielhaus unter der Regie von Lore Stefanek mit den
gleichen Hauptdarstellern wie in Kraumes filmischer Adaption, werden zwar Liebesklischees immer wieder überrachend ausgehebelt, legt aber auch Kraume den Fokus auf die boulevardesken Elemente von Stephens Stück: Laue, ins Zentrum gestellte Gags (250 Gramm Hack ohne Fleisch), explizit betonte Wortungetüme (Hauptlieblingssonderbeschäftigung) und Monologe und Dialoge, die so aufgesetzt, theatralisch und lebensfern wirken, dass es immer wieder weh tut. Das ist
schade. Denn Kraume kann ernstere, bessere, wichtigere Filme machen, das zeigte er erst vor kurzem mit Der vermessene Mensch. (Axel Timo Purr)
Südsee (DEU 2023 · R: Henrika Kull · Neues Deutsches Kino)
Aktuelle politische Paradigmen gegen den Strich gebürstet. In Henrika Kulls intensivem Kammerspiel in einem Haus in Israel während kontinuierlicher Raketenangriffe der Hisbollah treffen ein Deutschland und Wagner liebender Israeli und eine Israel liebende deutsche Regisseurin aufeinander. Dass das sogar (fast) ohne Erotik geht, ist erstaunlich. Dafür wird umso mehr über
die Verzweiflung bei Fassbinder, Wagner und vor allem Martin Bubers Ich und Du und das echte Gespräch sinniert, erzeugt das israelische Flubabwehrsystem Iron Dome ein fast schon kunstvolles Feuerwerk und lässt alten Liebesschmerz zunehmend verblassen, geht es dann aber doch auch knallhart realistisch zu: Warum seid ihr Deutschen nur alle so schrecklich pazifistisch? Diese und andere Fragen werden differenziert und immer wieder überraschend beantwortet, so wie dieser stille,
kluge Film dann auch selbst eine Überraschung ist. (Axel Timo Purr)
Il primo giorno della mia vita (ITA 2023 · R: Paolo Genovese · Spotlight)
Rom darf hier auf keinen Fall schön aussehen. Paolo Genovese bemüht sich in Il primo giorno della mia vita krampfhaft darum, die Ewige Stadt zu einem unbehaglichen Ort zu machen. Der Film handelt von vier Lebensmüden:
einer Polizistin und verwaisten Mutter, einer Ex-Leistungssportlerin im Rollstuhl, einem zynischen Motivationstrainer und einem dicklichen Jungen. Dessen Vater will ihn zum Youtube-Star machen, indem er den Diabetiker beim Essen von 40 Donuts filmt. Sie alle wollen in einer Regennacht aus dem Leben scheiden, doch da greift ein guter Mensch (Toni Servillo) – oder Gott in Menschengestalt? – ein. Der Hotelier schenkt dem Quartett nach biblischem Vorbild sieben Tage
Bedenkzeit. Nun können die Vier schweben, aber keinen Espresso mehr trinken: Ist das noch ein Leben, zumal in Italien? Statt sich ernsthaft mit dem Thema Depression auseinanderzusetzen, wogt emphatischer Hochglanz-Kitsch. (Katrin Hillgruber)
Black Box (Belgien, Deutschland 2023 · R: Aslı Özge · Neues Deutsches Kino)
»Wir sollten langsam mal ernst machen.« In voller Montur, Fahrradhelme und Softshelljacke, wollen zwei Männer im Berliner Mittelklasse-Häuserblock für Ordnung sorgen. Aslı Özges Black Box spielt sich ab im eingemauerten Kosmos des Innenhofs. Spannungen, die in
keiner bürgerlichen deutschen Wohneinheit fehlen dürfen, wie ein Müllproblem und Streit mit der Hausverwaltung, steigen gefährlich an, als ein Polizeieinsatz die Einheit für einen Tag abriegelt. Wer seine Termine nicht mehr wahrnehmen kann, dem bleibt ja auch nichts übrig, als die Nachbarn zu bespitzeln und zu denunzieren. Das geht natürlich zuallererst auf Kosten von Minderheiten. Black Box zeigt faschistoide Tendenzen der deutschen Mittelschicht
gekonnt auf, ist aber etwas verwirrend im Ton: Durch die Überspitzung fällt es teils schwer, den Film ernst zu nehmen, das Thema ist aber in keiner Weise lustig. (Maria Krampfl / LMU München)
Edge of Everything (USA 2023 · R: Sophia Sabella, Pablo Feldman · International Independents)
Schnaps aus Plastikflaschen, Zigaretten, Joints und mehr: Die fünfzehnjährige Abby hat ihre brave Freundesgruppe mit Wild Child Caroline ersetzt. Auch ihre Familiensituation bewegt sich mit einer toten Mutter,
bösen Stiefmutter und ahnungslosem Vater ganz im Rahmen der Coming-of-Age-Clichés. Strände, Berge und nächtliche Stadtszenen sind untermalt von einer Geräuschkulisse aus Gehuste, Gekicher und Indiemusik. Pablo Feldman und Sophia Sabellas Spielfilmdebüt Edge of Everything überrascht nicht, es erzählt vorhersehbar die Geschichte einer gescheiterten Teenage-Rebellion im Amerikanischen Vorstadtmilieu. Aber wie auf einer Achterbahnfahrt macht es durchaus
Spaß, Abby und ihren Freundinnen beim Abstürzen und Weitermachen zuzuschauen. (Maria Krampfl / LMU München)
God’s Creatures (Irland, Vereinigtes Königreich 2022 · R: Saela Davis, Anna Rose Holmer · Wettbewerb CineMasters)
Was ist zerstörender, schweigen oder lügen? Wen oder was zerstören Schweigen und Lügen? Ist es vertretbar, für den eigenen Sohn zu lügen, auch wenn man dadurch Unrecht geschehen lässt? Mit diesen
Fragen beschäftigt sich God’s Creatures, ein dunkler, beklemmender Film, dessen Handlung in einem abgelegenen irischen Fischerdorf angesiedelt ist. Im Zentrum steht das Verhältnis der Protagonistin Aileen zu ihrem Sohn, der unerwartet aus dem Ausland zurückkehrt. Aileen will nur das Beste, doch zunehmend beginnt ihr alles zu entgleisen und ihr Leben aus allen Fugen zu geraten; dabei untermalt die Musik mit Fortschreiten des Films diesen wie einen
Horrorfilm. Und auch wenn das Ende von God’s Creatures großteils schon recht früh erkennbar ist, so ist der Weg dahin jedoch sehenswert. (Paula Ruppert / LMU München)
Avant l’effondrement (F 2022 · R: Alice Zeniter, Benoit Seguin · Spotlight)
Drohender Zusammenbruch: Tristan (Niels Schneider), dessen Name das Regieduo Alice Zeniter/Benoit Seguin bewusst in Anspielung an Tristan und Isolde gewählt hat, kämpft im Wahlkampfbüro für eine bessere Welt, in seinem Privatleben lässt er sich treiben. Ein anonym zugesandter Schwangerschaftstest bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Auf der Suche nach der möglichen Mutter verfängt er sich immer mehr in seinen Ängsten. Eine potentiell vorhandene Erbkrankheit und Sorge um die fatale Möglichkeit der Vererbung lassen ihn erstarren. Er weiß nicht mehr, was tun. Währenddessen werden privat und im Wahlkampf politische Überlegungen zur Abwendung der Klimakatastrophe und zur Zukunft vorgebracht, schwitzend die Linken, schweißlos die Rechten. Bravourös der Schlagabtausch von Fanny (Ariane Labed) und Pablo (Souheila Yacoub) am Esstisch über linke Positionen, intellektueller Diskurs versus utopisches Leben auf dem Land. (Ursula Wittenzellner /LMU München)
Grand Expectations (F 2023 · R: Sylvain Desclous · Spotlight)
Provokation mit fatalen Konsequenzen. Die Hoffnungsträger Madeleine (Rebecca Marder) und Antoine (Benjamin Lavernhe) studieren an der ENA, um später die Welt entsprechend ihren linken politischen Überzeugungen zu verändern: »Ein Hijacker besteigt auch
ein Flugzeug, wenn er es entführen möchte.« Beim Urlaub in Korsika verändert eine Tragödie ihre Beziehung für immer. Der Traumatisierung folgt Entfremdung. Madeleine stürzt sich in die Arbeit bei einer linken Abgeordneten, Antoine zieht sich zurück, ist später für den rechten Arbeitsminister tätig. Im politischen Milieu Frankreichs zieht sich das Netz um sie immer mehr zusammen. Ein spannungsreicher, psychologischer Thriller um Täter und Opfer, Schuld und Verstrickung,
Verdrängung und Wahrheit. (Ursula Wittenzellner / LMU München)
Club Zero (Dänemark, Deutschland, Frankreich, Katar, Österreich, Vereinigtes Königreich 2023, R: Jessica Hausner, Wettbewerb CineMasters)
Man muss gar nicht essen. Essen: nur ein weit verbreiteter Irrglaube. Zumindest erklärt das Ernährungslehrerin Miss Novak ihren Schützlingen im Elite-Internat so. Außerdem ist es besser für die Umwelt, für die Leistungen in Sport und Schule und sowieso für alles. Bis zum Kragen zugeknöpfte Polohemden mit weiten Leinenhosen und Röcken lassen die Hauptdarstellerin Mia Wasikowska auch ausreichend wahnsinnig aussehen. Die österreichische Regisseurin Jessica Hauser hat angegeben, sich für ihren Film vom Märchen »Der Rattenfänger von Hameln« Inspiration gesucht zu haben. Immer mehr lullt die Lehrerin die Teenager mit New Age und Self Improvement ein, bis sie ihr ins Verderben folgen. Leider ist der Film aber kein Märchen, sondern steckt im Limbo zwischen Psychodrama und tiefschwarzer Komödie fest. Zwar interessant, zum Weinen aber nicht traurig und zum Lachen nicht lustig genug. (Maria Krampfl / LMU München)
Für die Rettung der Welt selbst zugrunde gehen? Ein pessimistisches Bild, das Jessica Hausner konstruiert, indem sie Schüler:innen eines Eliteinternats einer neuen Lehrerin entgegenstellt, deren vermeintliches Geheimrezept gegen Klimawandel und Konsumwahn »Conscious Eating« heißt. Die Jugendlichen werden der falschen Prophetin zum Opfer fallen ‒ das ist spätestens nach der längeren Eingewöhnungszeit in den Film klar. Doch noch während man sich an der unkomplizierten Machart zu stören beginnt, lässt ausgerechnet diese die schonungslose Intimität von Club Zero zu. Und richtet damit den Fokus auf Themen, an denen man sich gerne stört: Unser obsessives Essverhalten und die Erderwärmung, vor allem aber die Frage nach Macht und Verantwortung in Erziehungssystemen. (Anne Krones / LMU München)
Birdland (Frankreich 2022, R: Leïla Kilani, International Independents)
Sind wir alle hier verrückt? Lina schreibt den Satz mit einem schwarzen Marker auf ihren Arm, weil sie so mit ihrem Vater kommuniziert. Seit einem schweren Autounfall spricht sie nicht mehr, stattdessen hat das Mädchen einen Blog im Internet,
der sich zuerst komplett den Vögeln widmet, die sie auf dem verfallenden Familienanwesen in Tanger filmt. Ihr Vater ist das einzige Mitglied der Familie, das ihre Leidenschaft teilt, die anderen wollen das Land möglichst gut verkaufen. Leïla Kilani flicht verschiedene Welten wie Natur, Internet-Communities und dysfunktionale Großfamilien zu einer manchmal verwirrenden aber faszinierenden Welt zusammen. Birdland ist ein bisschen von vielem, Coming-of-Age,
Familiendrama, ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz. Zwischen Einstellungen von brennenden Bergen und eingeblendeten Blogposts funktioniert der Spagat aber. (Maria Krampfl / LMU München)
Smoke Sauna Sisterhood (Estland, Frankreich, Island 2023 · R: Anna Hints · Wettbewerb CineRebels)
Nichts als die nackte Wahrheit, wenn Frauen in die Sauna gehen. Denn hier sind sie unter sich, in einem Kreis, in dem sie sich sicher fühlen können. Der Dokumentarfilm Smoke Sauna Sisterhood der estnischen Regisseurin Anna Hints zeigt die
Wirkung der traditionellen Rauchsauna im südöstlichen Estland: die Reinigung des Körpers und vor allem der Seele. Im schützenden Dunkel der Sauna erzählen die Frauen alles, was sie bewegt – Krebserkrankung, gewalttätige Eltern, die eigene Sexualität, Fehlgeburt, Vergewaltigung, aber auch Lustiges. Dabei geling es dem Film, nichts sensationsheischend auszuschlachten oder seine Protagonistinnen etwa als Opfer darzustellen; vielmehr zeigt er in seiner angenehmen
ruhigen und teils etwas mystischen Art die Kraft einer Gemeinschaft, in der jede für die anderen da ist. (Paula Ruppert / LMU München)
Zur Rauchsauna geht’s in eine abgeschiedene Holzhütte. Hier treffen sich Frauen im Wechsel der Jahreszeiten, und die Estin Anna Hints bringt das perfekt auf den Punkt. Die Kamera streift die nassen nackten Körper auf und ab, während Dampf und Rauch wie Wellen zwischen ihnen hin und her schwappen. Aus der Perspektive einer stillen Beobachterin sieht man, wie sie sich gegenseitig waschen, man hört ihren Gesang und ihre Gespräche. Dabei kreisen sie oft um die dunklen Seiten von Frauenleben wie häusliche oder sexuelle Gewalt oder unerreichbare Schönheitsideale. Im dunklen Kinosaal wirkt die Sauna sehr immersiv: Als die Frauen beschwören, all ihren Schmerz herauszuschwitzen steckt die Katharsis an. (Maria Krampfl / LMU München)
Club Zero (AUT/ GBR/GER u.a. 2023 · R: Jessica Hausner · Cinemasters)
Die sanfte Gewalt der Zooms zieht uns langsam aber zwingend in die perfektionistisch inszenierte Welt eines englischen Colleges hinein. Und damit in den Bann der gewinnend auftretenden Lehrerin Frau Novak (Mia Wasikowska), die ihre Schüler*innen in die
hohe Kunst der »nutrition skills« und des »conscious eating« einweist. Es ist spannend, wie aus der auf Selbstoptimierung und Nachhaltigkeit ausgerichteten Lehre, immer weniger zu essen, allmählich ein endzeitlicher Erlösungsglaube wird. Subtil zwischen Satire und Parabel changierend, und mit der klinischen Präzision eines Laborversuchs, zeichnet Jessica Hausner das brillante und beklemmende Bild einer letzten Generation. Dazu ein obsessiver Score von Attwenger-Musiker
Markus Binder. (Wolfgang Lasinger)
More Than Strangers (DEU/GRZ 2023 · R: Sylvie Michel · Neues Deutsches Kino)
Wir sitzen alle im gleichen Boot. Oder halt im gleichen Auto. Slyvie Michel findet über den Mikrokosmos Auto starke Bilder und Dialoge für die Blasen unserer Gesellschaft, die erst in einer Krisensituation zum Tragen und Implodieren kommen. Ihr Film ist ein Zerrspiegel deutscher
oder besser: europäischer Gesellschaft und zeigt vor allem, wie unmöglich es ist, nicht zu handeln, verlässt man erst einmal seine eigene Blase. Ein extremer Road Movie, in dem endlich einmal nicht der Weg das Ziel ist, sondern das Ziel der Weg ist. Ein dichtes Kammerspiel, das relevante Themen wie Migration, Arbeits- und Liebesalltag leichthändig hinterfragt, Pflicht oder Wahrheit für junge Erwachsene und dazu noch ein geiler Soundtrack. (Axel Timo Purr)
Black Box (BEL/DEU 2023 · R: Aslı Özge · Neues Deutsches Kino)
Gnadenlose Flugschreiberauswertung einer Gesellschaft nach dem Absturz. So wie İlker Çatak in seinem Lehrerzimmer seziert auch Aslı Özge die deutsche Gesellschaft über einen Mikrokosmos. Statt ein
Lehrerzimmer ist es hier ein Berliner Mietshaus. Aber die Konstanten und auch das Ergebnis sind ähnlich. Jeder will sein Recht und vergisst dabei mehr und mehr die Regeln des Rechtsstaats. Konkurrenzkampf und Neoliberalismus als Krebsgeschwür, ausgelöst durch die Gier nach einer eigenen Immobilie und die Angst um den Verlust alter Mietverhältnisse. Das ist wunderbar gesellschaftskritisch, universell anwendbar und geschickt multicharakteristisch aufgefächert, krankt aber
hin und wieder an allzu erklärenden, hölzernen Dialogen und ein paar schmerzhaften Stereotypen, etwa bei der Darstellung des die alte Divide-and-Rule-Methode so geschickt ausspielenden Hausverwalters, der plötzlich Russisch kann und holterdiepolter als altes DDR-Relikt interpretiert werden könnte. (Axel Timo Purr)
Alma & Oskar (Ö 2022 · R: Dieter Berner · Spotlight)
Erstaunlich gleichberechtigtes Porträt zweier Künstler und Menschen, Alma Mahler und Oskar Kokoschka, über die nicht nur ihre historisch belegte Amour Fou erzählt, sondern auch ein Zeitalter im Umbruch gezeigt wird. Aber nicht nur der Erste Weltkrieg bahnt sich an, auch der Krieg zwischen den Geschlechtern, das Aufbegehren
der Frauen gegen überkommene Hierarchien. Das ist zwar etwas konventionell inszeniert und wird den extravaganten Protagonisten nicht gerecht, ist aber schauspielerisch überragend gespielt und auch mutig, denn Dieter Berner zeigt Alma & Oskar nicht nur auf ihrer Heldenreise, sondern auch als schwer neurotische Persönlichkeiten. (Axel Timo Purr)
Weißt du noch? (D 2023 · R: Rainer Kaufmann · Spotlight)
Was machen mit der Liebe, wenn sie am Ende des Lebens nicht mehr da ist? In Rainer Kaufmanns Kammerspiel nehmen Senta Berger und Günther Maria Halmer einfach ein Pille, um Erinnerungen (und damit die Liebe) zu reaktivieren. Diese Idee bietet den beiden Altschauspielern ein Podium für ernüchterndste
Erkenntnisse über das Altern, die Liebe und die Durchschnittlichkeit der eigenen Existenz, die bisweilen Thomas-Bernardsche Qualität haben und immer wieder brillant ausgespielt werden. Leider ist Kaufmanns Film viel zu bieder und dann auch seicht inszeniert, um wirklich die Spannung zu halten und das Leid des Lebens spürbar zu machen. (Axel Timo Purr)
The Persian Version (USA 2022 · R: Maryam Keshavarz · Spotlight)
Ein Film über die Macht des Schweigens und die Erlösung durchs Reden. Dass der Publikumssieger des diesjährigen Sundance-Festivals das 40. Münchner Filmfest eröffnet, verblüfft dann aber doch, denn Keshavarz autobiografisches und tragikomisches Coming-of-Age hat seine
Ecken und Kanten, benutzt Brechts gerade wieder sehr in Mode geratene V-Effekte des epischen Theaters ein wenig unbeholfen und erratisch, ist dafür aber auf ganzer Linie politisch korrekt, angemessen queer und mit ausreichend Feelgood-Momenten bestückt und liegt damit gefühlt gleichauf mit dem Eröffnungsfilm der diesjährigen Berlinale, She Came To Me. (Axel Timo Purr)