40. Filmfest München 2023
Explosiver Bubble Tea |
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Gruppenbild mit Damen und Preis für das beste Drehbuch (Clashing Differences) | ||
(Foto: 40. Filmfest München) |
Von Axel Timo Purr
Um Deutschland zu verstehen, reicht es eigentlich, einmal im Jahr auf das Filmfest München zu gehen und sich die Filme der so liebevoll wie klug kuratieren Reihe Neues Deutsches Kino anzusehen.
War es im letzten Jahr eine Lehrstunde darüber, wie sehr sich eine Gesellschaft nach Krisen aus allen Himmelsrichtungen auf eine fast schon verzweifelte Suche nach Heim und Heimat begab, scheint diese Option für den jetzigen Jahrgang nicht mehr gültig zu sein bzw. hat sich als trügerisch herausgestellt. Denn jede Heimat ist immer auch ein gesellschaftliches Konvolut, das aus Angst, sich zu verlieren, sich zurückzieht oder schlimmer noch: andere Heimatblasen angreift.
Womit wir bei dem Wort wären, das die meisten Filme dieses Jahres am besten beschreibt: ein Glas explosiven Bubble-Teas, der deshalb so explosiv ist, weil er deutlich macht, dass soziale Blasen bzw. der komplexere Begriff der Filterblase auf Dauer kaum koexistieren können, dass am Ende immer Handeln, Aushandeln oder simple Kriegsführung nötig ist, um – nicht nur moralisch – handlungsfähig zu bleiben. Und Heimat damit tatsächlich als äußerst fragiler und vor allem äußerst kurzlebiger und mitunter lebensgefährlicher Zustand beschrieben wird.
So wie in Erol Afşins ES BRENNT, der radikal austariert, wo der deutsche Rechtsstaat seine Grenzen hat. Mit einem betont hilflos agierenden Kida Kodr Ramadan und einer beklemmend großartigen Halima Ilter in den Hauptrollen und hervorragend besetzten Nebenrollen erzählt Afşin eine wahre Geschichte, die am Ende so erschütternd ist, dass man diesen Film kein zweites Mal sehen will. Auch, weil er kristallklar und mit großer ethnografischer Genauigkeit von geglückter Assimilierung erzählt. Umso bitterer ist die Erkenntnis, dass auch das nur eine der vielen Blasen ist, die schnell zerplatzen kann, nimmt sie erst einmal Reibung an der »falschen« Stelle auf. Deutlich wird auch, wie zerbrechlich letztendlich die eigene Identität (auch wieder so eine Blase), das sozialisierte Deutschsein ist, weil die Angst am Ende dann doch die Seele aufisst. Und nicht nur die Angst, sondern mehr noch die soziale Realität. Ein Film, der unbedingt an jeder deutschen Schule (also auch jeder Schulform) ab der 8. Klasse gezeigt werden sollte, nein: gezeigt werden muss.
Ähnlich existentiell und sozialkritisch verhandelt Aslı Özges wichtiger BLACK BOX dieses Thema, das hier der gnadenlosen Flugschreiberauswertung einer Gesellschaft nach dem Absturz gleichkommt. So wie İlker Çatak in seinem Lehrerzimmer seziert auch Aslı Özge die deutsche Gesellschaft über einen Mikrokosmos. Statt ein Lehrerzimmer sind es hier die sich zunehmend reibenden sozialen Blasen eines Berliner Mietshaus. Aber die Konstanten und auch das Ergebnis sind ähnlich. Jeder will sein Recht und vergisst dabei mehr und mehr die Regeln des Rechtsstaats. Konkurrenzkampf und Neoliberalismus als Krebsgeschwür, ausgelöst durch die Gier nach einer eigenen Immobilie und die Angst um den Verlust alter Mietverhältnisse. Das ist zutiefst gesellschaftskritisch, universell anwendbar und geschickt multicharakteristisch aufgefächert, krankt aber hin und wieder an allzu erklärenden, hölzernen Dialogen und ein paar schmerzhaften Stereotypen.
Auch der zurecht mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichneten FOSSIL von Henning Beckhoff umkreist diesen Topos gnadenlos und macht klar, dass aus seiner eigenen Blase niemand den Leuten in der benachbarten Blase in den Kopf gucken kann und niemand den Wandel einer Gesellschaft wirklich begreift. Ein Wandel, der inzwischen Familien zerreißt und in Parallelwelten (oder halt Blasen) fragmentiert und eine wichtige Erklärung dafür ist, warum in Deutschland die AFD so floriert und Trump immer noch im Spiel ist. Henning Beckhoff lässt diese Assoziationen unweigerlich zu, denn in seinem starken, wuchtigen und immer wieder auch zärtlichen Porträt eines Baggerführers auf dem Tagebau, fließen unsere eigenen filmischen Erinnerungen unweigerlich mit ein, an Gundermann oder an das großartige Porträt der Baggerband-Arbeiterin Martha (1978), die zeigten, dass Arbeit immer auch Seele ist und wird die genommen, der Mensch nichts mehr ist. Auch in Fossil implodiert ein Leben, eine Familie, eine ganze Gesellschaft. Die Bilder der Einsamkeit und der sich nicht mehr berührenden gesellschaftlichen Mikroblasen sind so grausam wie der vereinzelte Sex und die bittere Erkenntnis des totalen Kontrollverlusts und am Ende immer der Blöde zu sein.
Diesen fast schon von allem losgelösten privatistischen Ansatz verfolgt auch eine der wenigen Genre-Arbeiten, der herausragende THE DIVE von Maximilian Erlenwein, in dem die Katastrophe immerhin auch Katharsis sein darf. Dabei beginnt Maximilans Erlenweins delikat und souverän inszenierter Überlebensthriller wie ein E.E. Cummings-Gedicht: maggie and milly and molly and may went down to the beach(to play one day). and maggie discovered a shell that sang, doch der doppelbödige und bis zum Ende spannende Thriller transformiert schnell zum nackten Überlebenskampf unter und über Wasser, denn es ist nicht nur das Leben, das hier an einem seidenen Faden hängt, sondern auch eine lebenslange Beziehung. Das prickelnde Score und eine fantastische Kamera unterstützen die dezent eingestreuten Leerstellen und Familientraumata und die beiden Hauptdarstellerinnen transportieren selbst mit Tauchermaske ihre Ängste und Hoffnungen so überzeugend, dass bei all dem Dekompressionshorror immer auch der menschliche Horror transparent bleibt und die Hoffnung auf ein Leben in einer gemeinsamen „Blase“ nicht stirbt.
Auch in der zweiten Genre-Arbeit geht es um das nackte Überleben, wenn eine der elementarsten Regeln unserer Gegenwart nicht befolgt wird: Bleib in deiner Blase, sonst fällst du aus deinem Leben. Daniel Rakete Siegel und Denis Moschitto (der auch den überragend gespielten „Helden“ verkörpert) inszenieren mit SCHOCK – KEIN WEG ZURÜCK eine so überraschenden wie soghaften Thriller, der in gesellschaftliche Blasen Deutschlands vordringt, die man so selten gesehen hat. Ein illegaler Arzt, der Illegale versorgt, der zwischen alten Freunden und der Mafia zerrieben wird, aber dennoch aufrichtig bleibt. Die kargen Dialoge stimmen, die mit skalpellartiger Kamera sezierte Alltag deutscher Schattenrealität überzeugt und der Rhythmus, den das Genre vorgibt, ist virtuos interpretiert.
Erheblich thetischer interpretiert Merle Grimmes CLASHING DIFFERENCES den hier unterstellten Blasenthemenschwerpunkt, für den sie immerhin den Preis für das beste Drehbuch erhielt. Und tatsächlich ventiliert ihr schrille Tragikomödie so ziemlich alles durch, was dieses Thema zu bieten hat, mehr noch als der dogmatische Leitfaden lautet: Lasst uns doch mal unterschiedlich sein. Wie schwer das innerhalb der Blase einer intersektional feministisch aufgestellten Frauengruppe und unter Einbeziehung von Diversitätsdebatten zwischen Empowerment und Tokenism dann aber wirklich ist, zeigt Grimme in 75 Minuten dezidiert auf. Bipoc-Aktivismus eskaliert zu gnadenlosen Hierarchie- und Beziehungskämpfen, so dass bei all dem Wirbel am Ende die ernüchternde Erkenntnis steht, dass weder das sozialisierte noch das angeborene Geschlecht den Menschen besser macht. Merles ironisches Spiel mit rassistischen und Gender-Stereotypen ist klug, witzig und immer wieder überraschend, doch das Komödienkorsett und die betont leichte Streichermusik hätte es nicht unbedingt gebraucht.
Ein wenig jünger als in CLASHING DIFFERENCES sind die Mädchen in Anna Rollers DEAD GIRLS DANCING, die auf ihrer privaten Abifahrt merken, dass die Blase Schule eine trügerische Blase ist und das wirklich, oder halt – die anderen Leben auch andere Regeln hat. Anna Roller inszeniert die Ignoranz der Jugend mit gnadenloser Präzision und demaskiert den naiven Wunsch der Mädchen nach „Unvernunft“ über einen Road-Movie, der es in sich hat, weil er auch deutlich macht, dass hier ein Bildungssystem auf allen Ebenen versagt hat, das häusliche genauso wie das schulische. Gleichzeitig ist Rollers Film auch eine empathische Introspektion junger Beziehungen mit der ernüchternden Erkenntnis, dass Beziehungen immer auch situativen Charakter und vor allem überraschende Grenzen haben.
Sind es bei Roller die Mädchen, die dumme Dinge tun, sind es in Sylvain Cruiziats hyperrealem Porträt seines Bruders und seiner Freunde die fast gleichaltrigen Jungs. BOYZ ist fast schon klassisches GenZ-Coming of Age und erinnert in dem puristischen dokumentarischen Ansatz, Lebensalltag in einer eng umrissenen sozialen Blase zu fotografieren und Gespräche über das erste Mal, Blut- und Fleischpenisse und Mikropenisse zu führen, das Saufen und Kotzen und das Labern über Männerbilder- und Sozialisierungen an die (nicht-) dokumentarischen Filme von Larry Clark. Gleichzeitig könnte der Unterschied nicht größer sein, sind diese anders als Clarks Kids in Münchner Watte gepackt. Aber all die Ängste, Unsicherheiten, Verletzlichkeiten und Gegeninszenierungen bleiben. Und die Ahnung, dass sie die durchschnittlichsten Leben der Welt leben und am Ende so dastehen werden wie das alte Paar in Rainer Kaufmanns Weißt du noch.
Auch MORE THAN STRANGERS von Sylvie Michel, der mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde, ist das gesellschaftliche Experiment deutlich anzusehen. Hier heißt es jedoch nicht: Lasst uns doch mal unterschiedlich sein oder einfach unvernünftig sein, sondern hier ist sofort klar: wir sind alle unterschiedlich und sitzen alle im gleichen
Boot. Oder halt im gleichen Auto. Wie damit umgehen? Slyvie Michel findet über den Mikrokosmos Auto starke Bilder und Dialoge für die Blasen unserer Gesellschaft, die erst in einer Krisensituation zum Tragen und Implodieren kommen. Ihr Film ist ein Zerrspiegel deutscher oder besser: europäischer Gesellschaft und zeigt vor allem, wie unmöglich es ist, nicht zu handeln, verlässt man erst einmal seine eigene Blase. Ein extremer Road Movie, in dem endlich einmal nicht der Weg das Ziel ist,
sondern das Ziel der Weg ist. Ein dichtes Kammerspiel, das relevante Themen wie Migration, Arbeits- und Liebesalltag leichthändig hinterfragt, Pflicht oder Wahrheit für junge Erwachsene und dazu noch mit einem geilen
Elektro-Soundtrack garniert.
SÜDSEE von Henrika Kull reduziert und erweitert Sylvie Michels Ansatz zugleich. Aktuelle politische Paradigmen werden hier noch konsequenter und subtiler gegen den Strich gebürstet. In einem intensiven Kammerspiel treffen in einem Haus in Israel während kontinuierlicher Raketenangriffe der Hisbollah ein Deutschland und Wagner liebender Israeli und eine Israel liebende deutsche Regisseurin aufeinander. Dass das sogar (fast) ohne Erotik geht, ist erstaunlich. Dafür wird umso mehr über die Verzweiflung bei Fassbinder, Wagner und vor allem Martin Bubers Ich und Du und das echte Gespräch sinniert, erzeugt das israelische Flugabwehrsystem Iron Dome ein fast schon kunstvolles Feuerwerk und lässt alten Liebesschmerz zunehmend verblassen, geht es dann aber doch auch knallhart realistisch zu: Warum seid ihr Deutschen nur alle so schrecklich pazifistisch? Diese und andere Fragen werden differenziert und immer wieder überraschend beantwortet und wer glaubt, dass Filterblasen, Offline-Blasen, also soziale Blasen und Bubble-Tea-Trinken über den sogenannten Echokammer-Effekt zu immer stärkerer, sich von allem „Anderen“ abgrenzender Homophilie führt, der wird hier eines besseren belehrt und darf und kann endlich einmal aufatmen. Dafür gab es immerhin den Preis für die beste schauspielerische Leistung für Dor Aloni, der in seinem hybriden, ambivalenten Spiel dann auch fast so etwas wie eine Brücke zum nächsten Jahrgang baut.
Alles ist offen, alles scheint möglich.