Ach, Berlinale |
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Früher gingen hier mal die Stars auf dem roten Teppich. Heute ist alles eine Baustelle – das sogenannte Sony Center während der sogenannten Berlinale im Februar 2023... | ||
(Foto: Rüdiger Suchsland) |
Eine Pandemie hat nicht gereicht. Ein Krieg hat nicht gereicht. Und gute Argumente waren noch nie genug, um bei der Berlinale etwas zu ändern. Es musste schon die Inflation als Folge von Pandemie, Krieg und Klimakrise hinzukommen, um die Berlinale zu dem zu zwingen, was seit Jahren, eigentlich seit zwei Jahrzehnten dringend nötig war.
Denn die Berlinale wird jetzt gezwungen, das zu tun, was sie schon längst hätte tun müssen: Kürzen, sich gesund schrumpfen, abspecken, konzentrieren, Ballast abwerfen. In ihren eigenen Worten: »Fokussierung und Konzentration für eine zukunftsorientierte Festivalstruktur«.
In einer euphemistisch »Next Move« betitelten Pressemitteilung – soll man lachen oder weinen – behauptet das Festival, nach Evaluierung der Festivalstruktur seien die Entscheidungen gefallen.
Das ist nicht mal die halbe Wahrheit.
Fakt ist: Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat der Berlinale zuletzt mit zusätzlichen 2,2 Millionen 20 Prozent ihres Normaletats von 10,7 Millionen dazugegeben, pandemiebedingt, um die Einschränkungen der Pandemie abzufangen. Jetzt fällt das wieder weg. Die immerhin fast 11 Millionen staatliche Gelder sind nicht wenig Geld. Trotzdem und vielleicht der höheren Kosten wegen, reicht es der Berlinale nicht. Jetzt soll gespart werden.
All das kommt nur für Außenstehende
überraschend, nur für jene, die zahlengläubig sind und sich auf die Tatsache beschränken, dass die vergangene Berlinale im Februar mit über 300.000 Zuschauern als ein großer Besuchererfolg bejubelt wurde. Aber Besuchererfolge sind eben nicht alles.
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Was geschieht jetzt tatsächlich? Die Gesamtzahl der Filme soll von 287 (2023) auf ca. 200 reduziert werden. Die »Perspektive Deutsches Kino« wird aufgelöst. Ebenso »Berlinale Series«. Alle Sektionen mit Ausnahme des Wettbewerbs sollen weniger Filme zeigen.
Das sind gute Nachrichten. Seien wir ehrlich: Niemand braucht die »Perspektive deutsches Kino«, niemand hat sie je gebraucht. Auch wenn dort ohne jede Frage viele gute Filme liefen, gab es immer zwei grundsätzliche Gegenargumente. Erstens: Wenn diese Filme so toll sind, warum laufen sie dann nicht in einer der anderen vielen Berlinale-Sektionen und stellen sich der Konkurrenz mit Filmen aus anderen Ländern? Es gibt ja Nachwuchsfestivals. Und wenn Filme reine Nachwuchsfilme
sind, sind sie dort besser aufgehoben. Wenn sie dagegen richtig gut sind, dann müssen sie nicht in so einem Reservat für deutsche Filme laufen, sondern sollten sich der Konkurrenz mit den Filmen aus aller Welt in den etablierten Sektionen stellen.
Zweitens: Sind sie in einer marginalen Nebenreihe der Berlinale wirklich besser aufgehoben als in Saarbrücken oder München oder Hof?
Zur Ehrlichkeit gehört: »Berlinale Series« hat vor allem dem Serienboom der letzten Jahre Tribut gezollt. Aber die Berlinale ist ein Kino-Festival. Und Streamer sind eigentlich die Feinde des Kinos – wir wissen alle, dass sie beim Festival in Cannes in manchen Sektionen gar nicht laufen dürfen, und natürlich keine eigenständige Sektion erhalten haben. »Berlinale Series« sind keine wichtige Sektion, ihr Wegfall schadet nicht.
Niemand kann in unserem Fall argumentieren, dass wir jetzt, wo es der Berlinale schlecht geht, auch noch drauf hauen – wir haben nämlich hier auf artechock schon vor zehn und vor 15 Jahren genau das Gleiche geschrieben. Damals wollte die Argumente aber keiner hören.
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Es ist schade, dass es immer wieder solche äußeren Zwänge braucht, um das Nötige zu tun, dass es in Deutschland immer so sein muss (auch in fast allen anderen Fragen), dass auf gute Argumente nicht gehört wird, dass alles immer zerredet wird, dass jedem immer egoistische und sachfremde Interessen unterstellt werden. In diesem Fall sind alle Berlinale-Kritiken, alles Infragestellen der immer neuen Jubelmeldungen der Berlinale-Pressestelle öffentlich zwei Jahrzehnte lang niederkartätscht worden, flankiert von einer sogenannten »Hauptstadtpresse«, deren in Medienpartnerschaften zementierte Berlinale-Berichterstattung mit »würdelos« und »unkritisch-kriecherisch« noch höflich umschrieben ist. Wer nicht mitzog, wurde auch öffentlich lächerlich gemacht – das »Geh' doch nach Duisburg« einer Tagesspiegelredakteurin gegen einen Berliner-Schule-Regisseur ist unvergessen –, ausgegrenzt oder es wurde am öffentlichen Ruf herumgefrickelt: Da war die eine eine »notorische Berlinale-Kritikerin«; der zweite ist der Leiter eines anderen Festivals und argumentiert also eigentlich nur für sich selber und gegen die lästige Konkurrenz; der dritte wurde irgendwann mal mit seinem Film von der Berlinale abgelehnt, ist also einfach nur rachsüchtig – mit solchen Argumenten ad personam werden bei uns Sachdebatten zerstört, und vernünftig über Argumente sprechen, kontrovers und mit tatsächlich offenem Ergebnis kann man in Deutschland kaum.
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Ist nun schon das letzte Wort gesprochen? Die Pressemitteilung hat auch taktische Seiten. So wie die Briefe, die gerade zwischen Familienministerin und Finanzministerium öffentlich hin und her geschrieben werden.
»Fokussierung und Konzentration für eine zukunftsorientierte Festivalstruktur« ist so ein Marketing-Sprech. Es ist reine Politik, das merkt man schon an solchen Formulierungen. Ich habe den Eindruck: hier wird auch sehr bewusst darauf gesetzt, dass es Schlagzeilen gibt, dass wir darüber sprechen und darüber schreiben. Man hofft vielleicht in Berlin ein bisschen auf eine Protestwelle aus der Filmbranche – ich glaube aber nicht, dass es sie geben wird. Denn jeder in der
Filmbranche weiß: Es geht insgesamt gerade nicht richtig gut. Erst letzte Woche hat eine alteingesessene etablierte jahrzehntealte Produktionsfirma Insolvenz angemeldet.
Die Berlinale ist wirklich nicht das größte Problem im deutschen Film. Wenn sie etwas weniger Geld hat, dann tut ihnen das nur gut und es nutzt nur dem Kino.
Man muss sich in Berlin tatsächlich auf die Kernaufgaben konzentrieren. Die Berlinale ist gegenwärtig ein aufgeblasenes, viel zu großes Filmfestival. Wenn jetzt ein Drittel gestrichen wird, laufen dort immer noch so viele Filme wie in Cannes und Venedig zusammen. Das aber ist die Konkurrenz, an der die Berlinale sich messen lassen muss und auch gemessen werden will.
Es kann bei der Berlinale auch nicht darum gehen, dass so viele Filme laufen, damit jeder Berliner irgendwie für irgendeine Sektion noch eine Karte bekommt. Ein Filmfestival ist erst einmal ein Ereignis der Branche. Und wenn normale Zuschauer im Kino helfen wollen, dann sollten sie im ganz regulären »Kino an der Ecke« Karten kaufen und am besten auch noch Bier und Chips, dann helfen sie nämlich dem Kino wirklich.
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Berlinale 2023 heißt: ein bisschen zu viel von allem und zu beliebig.
Jetzt deutet einiges darauf hin, dass ein radikaler Umbau und Abbau von der Kulturstaatsministerin erzwungen wird. Die neue Leitung aus der Doppelspitze Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek wurde ja geholt, um den Kurs des langjährigen Berlinale-Leiters Dieter Kosslik an vielen Stellen zu korrigieren.
Das haben sie versäumt. Da ist dem Leitungsteam natürlich auch die Pandemie hineingegrätscht und man darf ihnen deswegen vielleicht nicht zu viele Vorwürfe machen.
Aber in aller Höflichkeit muss man feststellen: »Die Chance, mit einem konzentrierteren Programm die Präsentation und Wahrnehmung der eingeladenen Filme zu optimieren«, hatten Chatrian und Rissenbeek schon seit 2019.
Man muss ehrlicherweise auch feststellen: Das Leitungsduo hatte zu Beginn ihrer Amtszeit eine große Chance. Und diese Chance haben sie komplett ungenutzt gelassen. Sie haben nichts verändert, sie haben einfach ein weiter-so praktiziert und noch nicht einmal signalisiert, dass sie Änderungsbedarf sehen. In der Zeit, in der sie noch Geld hatten, hätten sie sparen müssen, und das Geld behalten mit dem Argument: Das brauchen wir für den Umbau.
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Der künstlerische Leiter, der Italiener Carlo Chatrian, ist in Berlin auch nach vier Jahren immer noch nicht richtig angekommen. Dabei geht es natürlich nicht darum, ob er perfekt Deutsch spricht.
Es geht aber darum: Ist er mit der deutschen Filmbranche wirklich vernetzt?
Ist er auch mit den Politikern so gut bekannt und vernetzt, dass er ihnen einen Kurs, den sie vielleicht nicht wollen, charmant aufnötigen kann, indem er über Interviews clever Themen setzt, Bedarf gut begründet benennt, Druck macht, mit der Öffentlichkeit spielt?
Es geht dann auch darum: Ist Chatrian in den Medien wirklich vernetzt? Ist er in der Lage und willens, Interviews zu geben und Kulturpolitik zu betreiben. Das macht er alles nicht.
Ich glaube, dass Chatrian und Rissenbeek leider nicht die perfekten Berlinale-Leiter sind.
Sie und die Berlinale könnten von Cannes und Venedig viel lernen. Sie könnten von beiden Festivals Konzentration lernen. Sie könnten von ihnen lernen, das Kino öffentlich zu lieben und dafür zu kämpfen. Sie könnten von Ihnen lernen, charmante Gastgeber zu sein.
Wenn Chatrian und Rissenbeek auf der Bühne stehen – sie sind ja nun schon zu zweit, könnten sich also gegenseitig stützen – wirken sie so, dass man merkt, dass sie sich eigentlich offensichtlich nicht
wohlfühlen.
Was die Berlinale derzeit ausstrahlt, ist eine merkwürdige Mischung aus einer übertriebenen Bescheidenheit und dann wieder eine Aufgeblasenheit aus schlechten Gewissen. Dann kommt dazu, dass die ganze Berlinale viel zu inhaltistisch ist, also themenfixiert. Es muss aber bei einem Kunstfestival um die Kunst gehen, also um Form und Ästhetik.
Es geht nicht in erster Linie darum, ob ein Film divers ist. Es ist schön, wenn er das ist. Aber darum geht es nicht in erster Linie.
Die Diversitätsfrage haben wir wie die Themen Klima und Gleichberechtigung und Gerechtigkeit in allen Bereichen der Politik. Die Kunst aber kann und sollte nicht stellvertretend (und oft ersatzweise) das ausbaden, was vielleicht Politik und Gesellschaft versäumt haben. Wir reden gerade sehr viel – für mein Gefühl viel zu viel – über Diversität im Film.
Reden wir doch mal über Diversität bei Volkswagen oder bei der Lufthansa – was ist denn da? Da redet aber
niemand drüber.
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Man muss die Berlinale einmal völlig auf Null stellen und neu starten. Man sollte und man muss aber gar keine Angst haben vor diesen sehr relativen Kürzungen. Die Berlinale ist immer noch sehr groß, selbst wenn alle Kürzungen genau so wie jetzt befürchtet durchgezogen werden. Sie haben immer noch sechs oder sieben Sektionen und eine Retrospektive – das ist viel mehr als etwa Cannes und Venedig haben – und das sind ja die wirklich wichtigen Festivals. Und alle deutschen Filmemacher, die ernstzunehmen sind, wollen auch dahin und nicht zur Berlinale.
Auf Null stellen bedeutet auch: Die Berlinale braucht einen neuen Standort. Auch hier sind ein klarer Schritt und viel Mut nötig.
Wenn die Berlinale sich wirklich neu erfinden will, muss sie das auch formal, ästhetisch, also räumlich signalisieren. Darum sollte sie auf das Messegelände im Westen ziehen! Die Berlinale könnte im leerstehenden ICC eine neue herausragende Heimat finden, die auch einen Neuanfang symbolisiert. Der Berlinale-Markt könnte auf dem vorhandenen
Messegelände beliebig ausgebaut werden. Dieser Standort wäre ein geschlossener Bereich für die professionellen Gäste, er wäre verkehrsmäßig mit S-Bahn, U-Bahn und diversen Buslinien (die man überdies noch ausbauen und durch Shuttles flexibel ergänzen könnte, schon jetzt perfekt angebunden. Und die Kiezkinos für die Nachholvorstellungen fürs Publikum, könnten über ganz Berlin verstreut erhalten bleiben. Eine Win-Win Lösung – die längst im Mittelbau der Berlinale bedacht,
diskutiert, und von vielen für gut befunden wurde. Die Leitung hat dies bisher ignoriert. Sie darf dies nicht länger tun, ebenso wenig wie die Politik.)
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Die Berlinale ist nämlich tatsächlich das wichtigste deutsche Filmfestival. Sie sieht im Augenblick nicht so aus, sie hat im Augenblick auch nicht den internationalen Rang, der ihr gebührt, aber sie könnte dies mit entschlossener und führungsstarker Leitung und dem Verzicht auf stupide Rücksichtnahme auf Empfindlichkeiten sehr schnell wieder bekommen.