13.07.2023

Ach, Berlinale

Berlinale im Februar 2023 - eine Baustelle
Früher gingen hier mal die Stars auf dem roten Teppich. Heute ist alles eine Baustelle – das sogenannte Sony Center während der sogenannten Berlinale im Februar 2023...
(Foto: Rüdiger Suchsland)

Endlich: Weniger Filme, weniger Sektionen – zur neuesten Krise der Berliner Filmfestspiele

Von Rüdiger Suchsland

Eine Pandemie hat nicht gereicht. Ein Krieg hat nicht gereicht. Und gute Argumente waren noch nie genug, um bei der Berlinale etwas zu ändern. Es musste schon die Inflation als Folge von Pandemie, Krieg und Klima­krise hinzu­kommen, um die Berlinale zu dem zu zwingen, was seit Jahren, eigent­lich seit zwei Jahr­zehnten dringend nötig war.

Denn die Berlinale wird jetzt gezwungen, das zu tun, was sie schon längst hätte tun müssen: Kürzen, sich gesund schrumpfen, abspecken, konzen­trieren, Ballast abwerfen. In ihren eigenen Worten: »Fokus­sie­rung und Konzen­tra­tion für eine zukunfts­ori­en­tierte Festi­val­struktur«.

In einer euphe­mis­tisch »Next Move« beti­telten Pres­se­mit­tei­lung – soll man lachen oder weinen – behauptet das Festival, nach Evalu­ie­rung der Festi­val­struktur seien die Entschei­dungen gefallen.
Das ist nicht mal die halbe Wahrheit.

Fakt ist: Kultur­staats­mi­nis­terin Claudia Roth hat der Berlinale zuletzt mit zusätz­li­chen 2,2 Millionen 20 Prozent ihres Normal­etats von 10,7 Millionen dazu­ge­geben, pande­mie­be­dingt, um die Einschrän­kungen der Pandemie abzu­fangen. Jetzt fällt das wieder weg. Die immerhin fast 11 Millionen staat­liche Gelder sind nicht wenig Geld. Trotzdem und viel­leicht der höheren Kosten wegen, reicht es der Berlinale nicht. Jetzt soll gespart werden.
All das kommt nur für Außen­ste­hende über­ra­schend, nur für jene, die zahlen­gläubig sind und sich auf die Tatsache beschränken, dass die vergan­gene Berlinale im Februar mit über 300.000 Zuschauern als ein großer Besu­cher­er­folg bejubelt wurde. Aber Besu­cher­er­folge sind eben nicht alles.

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Was geschieht jetzt tatsäch­lich? Die Gesamt­zahl der Filme soll von 287 (2023) auf ca. 200 reduziert werden. Die »Perspek­tive Deutsches Kino« wird aufgelöst. Ebenso »Berlinale Series«. Alle Sektionen mit Ausnahme des Wett­be­werbs sollen weniger Filme zeigen.

Das sind gute Nach­richten. Seien wir ehrlich: Niemand braucht die »Perspek­tive deutsches Kino«, niemand hat sie je gebraucht. Auch wenn dort ohne jede Frage viele gute Filme liefen, gab es immer zwei grund­sätz­liche Gegen­ar­gu­mente. Erstens: Wenn diese Filme so toll sind, warum laufen sie dann nicht in einer der anderen vielen Berlinale-Sektionen und stellen sich der Konkur­renz mit Filmen aus anderen Ländern? Es gibt ja Nach­wuchs­fes­ti­vals. Und wenn Filme reine Nach­wuchs­filme sind, sind sie dort besser aufge­hoben. Wenn sie dagegen richtig gut sind, dann müssen sie nicht in so einem Reservat für deutsche Filme laufen, sondern sollten sich der Konkur­renz mit den Filmen aus aller Welt in den etablierten Sektionen stellen.
Zweitens: Sind sie in einer margi­nalen Neben­reihe der Berlinale wirklich besser aufge­hoben als in Saar­brü­cken oder München oder Hof?

Zur Ehrlich­keit gehört: »Berlinale Series« hat vor allem dem Seri­en­boom der letzten Jahre Tribut gezollt. Aber die Berlinale ist ein Kino-Festival. Und Streamer sind eigent­lich die Feinde des Kinos – wir wissen alle, dass sie beim Festival in Cannes in manchen Sektionen gar nicht laufen dürfen, und natürlich keine eigen­s­tän­dige Sektion erhalten haben. »Berlinale Series« sind keine wichtige Sektion, ihr Wegfall schadet nicht.

Niemand kann in unserem Fall argu­men­tieren, dass wir jetzt, wo es der Berlinale schlecht geht, auch noch drauf hauen – wir haben nämlich hier auf artechock schon vor zehn und vor 15 Jahren genau das Gleiche geschrieben. Damals wollte die Argumente aber keiner hören.

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Es ist schade, dass es immer wieder solche äußeren Zwänge braucht, um das Nötige zu tun, dass es in Deutsch­land immer so sein muss (auch in fast allen anderen Fragen), dass auf gute Argumente nicht gehört wird, dass alles immer zerredet wird, dass jedem immer egois­ti­sche und sach­fremde Inter­essen unter­stellt werden. In diesem Fall sind alle Berlinale-Kritiken, alles Infra­ge­stellen der immer neuen Jubel­mel­dungen der Berlinale-Pres­se­stelle öffent­lich zwei Jahr­zehnte lang nieder­kar­tätscht worden, flankiert von einer soge­nannten »Haupt­stadt­presse«, deren in Medi­en­part­ner­schaften zemen­tierte Berlinale-Bericht­erstat­tung mit »würdelos« und »unkri­tisch-krie­che­risch« noch höflich umschrieben ist. Wer nicht mitzog, wurde auch öffent­lich lächer­lich gemacht – das »Geh' doch nach Duisburg« einer Tages­spie­gel­re­dak­teurin gegen einen Berliner-Schule-Regisseur ist unver­gessen –, ausge­grenzt oder es wurde am öffent­li­chen Ruf herum­gef­ri­ckelt: Da war die eine eine »noto­ri­sche Berlinale-Kriti­kerin«; der zweite ist der Leiter eines anderen Festivals und argu­men­tiert also eigent­lich nur für sich selber und gegen die lästige Konkur­renz; der dritte wurde irgend­wann mal mit seinem Film von der Berlinale abgelehnt, ist also einfach nur rachsüchtig – mit solchen Argu­menten ad personam werden bei uns Sach­de­batten zerstört, und vernünftig über Argumente sprechen, kontro­vers und mit tatsäch­lich offenem Ergebnis kann man in Deutsch­land kaum.

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Ist nun schon das letzte Wort gespro­chen? Die Pres­se­mit­tei­lung hat auch taktische Seiten. So wie die Briefe, die gerade zwischen Fami­li­en­mi­nis­terin und Finanz­mi­nis­te­rium öffent­lich hin und her geschrieben werden.

»Fokus­sie­rung und Konzen­tra­tion für eine zukunfts­ori­en­tierte Festi­val­struktur« ist so ein Marketing-Sprech. Es ist reine Politik, das merkt man schon an solchen Formu­lie­rungen. Ich habe den Eindruck: hier wird auch sehr bewusst darauf gesetzt, dass es Schlag­zeilen gibt, dass wir darüber sprechen und darüber schreiben. Man hofft viel­leicht in Berlin ein bisschen auf eine Protest­welle aus der Film­branche – ich glaube aber nicht, dass es sie geben wird. Denn jeder in der Film­branche weiß: Es geht insgesamt gerade nicht richtig gut. Erst letzte Woche hat eine altein­ge­ses­sene etablierte jahr­zehn­te­alte Produk­ti­ons­firma Insolvenz ange­meldet.
Die Berlinale ist wirklich nicht das größte Problem im deutschen Film. Wenn sie etwas weniger Geld hat, dann tut ihnen das nur gut und es nutzt nur dem Kino.

Man muss sich in Berlin tatsäch­lich auf die Kern­auf­gaben konzen­trieren. Die Berlinale ist gegen­wärtig ein aufge­bla­senes, viel zu großes Film­fes­tival. Wenn jetzt ein Drittel gestri­chen wird, laufen dort immer noch so viele Filme wie in Cannes und Venedig zusammen. Das aber ist die Konkur­renz, an der die Berlinale sich messen lassen muss und auch gemessen werden will.

Es kann bei der Berlinale auch nicht darum gehen, dass so viele Filme laufen, damit jeder Berliner irgendwie für irgend­eine Sektion noch eine Karte bekommt. Ein Film­fes­tival ist erst einmal ein Ereignis der Branche. Und wenn normale Zuschauer im Kino helfen wollen, dann sollten sie im ganz regulären »Kino an der Ecke« Karten kaufen und am besten auch noch Bier und Chips, dann helfen sie nämlich dem Kino wirklich.

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Berlinale 2023 heißt: ein bisschen zu viel von allem und zu beliebig.

Jetzt deutet einiges darauf hin, dass ein radikaler Umbau und Abbau von der Kultur­staats­mi­nis­terin erzwungen wird. Die neue Leitung aus der Doppel­spitze Carlo Chatrian und Mariette Rissen­beek wurde ja geholt, um den Kurs des lang­jäh­rigen Berlinale-Leiters Dieter Kosslik an vielen Stellen zu korri­gieren.

Das haben sie versäumt. Da ist dem Leitungs­team natürlich auch die Pandemie hinein­ge­grätscht und man darf ihnen deswegen viel­leicht nicht zu viele Vorwürfe machen.

Aber in aller Höflich­keit muss man fest­stellen: »Die Chance, mit einem konzen­trier­teren Programm die Präsen­ta­tion und Wahr­neh­mung der einge­la­denen Filme zu opti­mieren«, hatten Chatrian und Rissen­beek schon seit 2019.

Man muss ehrli­cher­weise auch fest­stellen: Das Leitungsduo hatte zu Beginn ihrer Amtszeit eine große Chance. Und diese Chance haben sie komplett ungenutzt gelassen. Sie haben nichts verändert, sie haben einfach ein weiter-so prak­ti­ziert und noch nicht einmal signa­li­siert, dass sie Ände­rungs­be­darf sehen. In der Zeit, in der sie noch Geld hatten, hätten sie sparen müssen, und das Geld behalten mit dem Argument: Das brauchen wir für den Umbau.

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Der künst­le­ri­sche Leiter, der Italiener Carlo Chatrian, ist in Berlin auch nach vier Jahren immer noch nicht richtig ange­kommen. Dabei geht es natürlich nicht darum, ob er perfekt Deutsch spricht.

Es geht aber darum: Ist er mit der deutschen Film­branche wirklich vernetzt?

Ist er auch mit den Poli­ti­kern so gut bekannt und vernetzt, dass er ihnen einen Kurs, den sie viel­leicht nicht wollen, charmant aufnö­tigen kann, indem er über Inter­views clever Themen setzt, Bedarf gut begründet benennt, Druck macht, mit der Öffent­lich­keit spielt?
Es geht dann auch darum: Ist Chatrian in den Medien wirklich vernetzt? Ist er in der Lage und willens, Inter­views zu geben und Kultur­po­litik zu betreiben. Das macht er alles nicht.

Ich glaube, dass Chatrian und Rissen­beek leider nicht die perfekten Berlinale-Leiter sind.

Sie und die Berlinale könnten von Cannes und Venedig viel lernen. Sie könnten von beiden Festivals Konzen­tra­tion lernen. Sie könnten von ihnen lernen, das Kino öffent­lich zu lieben und dafür zu kämpfen. Sie könnten von Ihnen lernen, charmante Gastgeber zu sein.
Wenn Chatrian und Rissen­beek auf der Bühne stehen – sie sind ja nun schon zu zweit, könnten sich also gegen­seitig stützen – wirken sie so, dass man merkt, dass sie sich eigent­lich offen­sicht­lich nicht wohl­fühlen.

Was die Berlinale derzeit ausstrahlt, ist eine merk­wür­dige Mischung aus einer über­trie­benen Beschei­den­heit und dann wieder eine Aufge­bla­sen­heit aus schlechten Gewissen. Dann kommt dazu, dass die ganze Berlinale viel zu inhal­tis­tisch ist, also themen­fi­xiert. Es muss aber bei einem Kunst­fes­tival um die Kunst gehen, also um Form und Ästhetik.
Es geht nicht in erster Linie darum, ob ein Film divers ist. Es ist schön, wenn er das ist. Aber darum geht es nicht in erster Linie. Die Diver­si­täts­frage haben wir wie die Themen Klima und Gleich­be­rech­ti­gung und Gerech­tig­keit in allen Bereichen der Politik. Die Kunst aber kann und sollte nicht stell­ver­tre­tend (und oft ersatz­weise) das ausbaden, was viel­leicht Politik und Gesell­schaft versäumt haben. Wir reden gerade sehr viel – für mein Gefühl viel zu viel – über Diver­sität im Film.
Reden wir doch mal über Diver­sität bei Volks­wagen oder bei der Lufthansa – was ist denn da? Da redet aber niemand drüber.

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Man muss die Berlinale einmal völlig auf Null stellen und neu starten. Man sollte und man muss aber gar keine Angst haben vor diesen sehr relativen Kürzungen. Die Berlinale ist immer noch sehr groß, selbst wenn alle Kürzungen genau so wie jetzt befürchtet durch­ge­zogen werden. Sie haben immer noch sechs oder sieben Sektionen und eine Retro­spek­tive – das ist viel mehr als etwa Cannes und Venedig haben – und das sind ja die wirklich wichtigen Festivals. Und alle deutschen Filme­ma­cher, die ernst­zu­nehmen sind, wollen auch dahin und nicht zur Berlinale.

Auf Null stellen bedeutet auch: Die Berlinale braucht einen neuen Standort. Auch hier sind ein klarer Schritt und viel Mut nötig.
Wenn die Berlinale sich wirklich neu erfinden will, muss sie das auch formal, ästhe­tisch, also räumlich signa­li­sieren. Darum sollte sie auf das Messe­gelände im Westen ziehen! Die Berlinale könnte im leer­ste­henden ICC eine neue heraus­ra­gende Heimat finden, die auch einen Neuanfang symbo­li­siert. Der Berlinale-Markt könnte auf dem vorhan­denen Messe­gelände beliebig ausgebaut werden. Dieser Standort wäre ein geschlos­sener Bereich für die profes­sio­nellen Gäste, er wäre verkehrs­mäßig mit S-Bahn, U-Bahn und diversen Buslinien (die man überdies noch ausbauen und durch Shuttles flexibel ergänzen könnte, schon jetzt perfekt ange­bunden. Und die Kiezkinos für die Nach­hol­vor­stel­lungen fürs Publikum, könnten über ganz Berlin verstreut erhalten bleiben. Eine Win-Win Lösung – die längst im Mittelbau der Berlinale bedacht, disku­tiert, und von vielen für gut befunden wurde. Die Leitung hat dies bisher ignoriert. Sie darf dies nicht länger tun, ebenso wenig wie die Politik.)

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Die Berlinale ist nämlich tatsäch­lich das wich­tigste deutsche Film­fes­tival. Sie sieht im Augen­blick nicht so aus, sie hat im Augen­blick auch nicht den inter­na­tio­nalen Rang, der ihr gebührt, aber sie könnte dies mit entschlos­sener und führungs­starker Leitung und dem Verzicht auf stupide Rück­sicht­nahme auf Empfind­lich­keiten sehr schnell wieder bekommen.