»Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag …« |
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Piazza Grande: 8000 vor »malerischer Kulisse« | ||
(Foto: Locarno Film Festival) |
»Warum reisen wir? Auch dies, damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, daß sie uns kennen ein für allemal; damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich sei – Es ist ohnehin schon wenig genug.«
Max Frisch, Tagebuch 1946-1949
Wenn es die Schweiz nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Drei Sprachräume, damit auch drei Filmlandschaften und etwas viertes, eine eigene Identität, die nicht mit einer von den dreien deckungsgleich ist. Ein freiheitliches, relaxetes, weltoffenes Land, und eine immer wieder mal auf gelassene Art auch patriotische Gesellschaft.
So geht es mir immer wieder, wenn ich nach Locarno fahre, mit dem Zug durch das ganze Land, auf dieses, bei allem kleinen auch von mir gelegentlich praktizierten Gemäkel, doch sehr relaxte und cinephile Filmfestival.
Und so müsste man eigentlich auch auf Locarno schauen, wenn man sich als Filmkritiker ernst nimmt, wenn man sich als Teil der Filmcommunity, also einer internationalen, auch an Ästhetik und nicht nur an Kommerz interessierten geselligen
Arbeitsgemeinschaft wahrnimmt.
So ist es aber leider nicht, jedenfalls nicht in Deutschland. Die Menge der Festivalberichte aus Locarno ist ziemlich groß, ich würde sagen klar überproportional groß, wenn man es mit einem Filmfestival wie dem von San Sebastian vergleicht. Sie ist das leider nicht aus Wertschätzung für die Filme und das Programm des Filmfestivals, sondern aus der Wertschätzung dieses Urlaubsziels im August. Das Festival wird in der deutschen Festivalberichterstattung
touristifiziert. Stellvertretend dafür für viele deutsche Stimmen, die das natürlich meistens nicht so öffentlich sagen, zitieren wir mal die dpa von heute:
»Cocktails, Badespaß und Kino satt: das 76. Filmfestival Locarno lädt Anfang August ans Ufer des Lago Maggiore«, heißt der Titel.
Und genau: Cocktails, baden und satt werden – das ist der Blick der deutschen Filmkritik auf Locarno. Nur darum wird über dieses Festival so viel berichtet …
Ich mag es ja auch, aber … das hat Locarno nicht verdient!
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Schon wahr: Locarno besitzt die Atmosphäre eines Kurorts für reiche Rentner, und ist geprägt durch seine mittelalterliche Piazza, auf der die Filme vor bis zu 8000 Leuten laufen.
Immer wieder die Frage: Was genau ist Locarno? Das ist natürlich eine große Frage.
Locarno ist eher das kleinste unter den großen Festivals als das größte der kleinen. Es ist ein A-Festival, die Preise im Hauptwettbewerb um den Goldenen Leoparden sind wichtig und begehrt.
Gleichzeitig ist es auch ein Festival, das darunter leidet, dass es immer weiter aufgebläht wurde und sich diesem Wachstumszwang auch zur Zeit der Pandemie nicht entziehen konnte. Es leidet darunter, dass es zwei fast gleichberechtigte Wettbewerbe hat. Ganz lange war Locarno eindeutig ein Nachwuchsfestival. Jetzt aber gibt es einen zweiten Wettbewerb, zwar ohne Leoparden, aber sehr gut, in dem sowieso nur Nachwuchs läuft. Und im Hauptwettbewerb laufen dann einerseits ebenfalls weiterhin Nachwuchsfilmemacher, andererseits auch Regisseure wie Radu Jude, der schon einen Goldenen Bär gewonnen hat, und Lav Diaz, der schon mal in Venedig den Goldenen Löwen gewann und sogar schon mal den Goldenen Leopard von Locarno – muss das sein? Man hat sonst fast nur Studenten, die mit solchen etablierten über 50- oder über 60-Jährigen Leuten um einen de facto Nachwuchspreis kämpfen.
Die Aufspaltung in zwei Wettbewerbe führt auch dazu, dass das Programm aufgesplittert wird. Dass der Nachwuchs in einen zweiten Wettbewerb verbannt wird. In diesem zweiten Wettbewerb hat man dann aber die etwas radikaleren, im guten Sinn unfertigeren Filme – das Kino der Zukunft deutet sich hier schon an. Während das ein bisschen bravere, konventionellere, erwartbarere Kino und das der Alten im Hauptwettbewerb läuft.
Als Besucher muss man sich entscheiden zwischen »schlechter« Perfektion und guter »Imperfektion«. Und macht immer Fehler.
C'est la vie.
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Man kann in diesem Jahr nicht über Locarno schreiben, ohne über das zu schreiben, was vermutlich nicht zu sehen sein wird: US-Amerikanisches.
Der aktuelle Streik in Hollywood zeigt sich schon daran, dass ein paar Amerikaner nicht anreisen. Und dass alle jetzt ein bisschen aufmerksamer für die Probleme sind, die die Hollywoodschauspieler und -Autoren jetzt ansprechen. Das betrifft einerseits die Rolle der Künstlichen Intelligenz – ein Thema, über das wir jetzt in allen Bereichen reden. Was heißt das hier jetzt genau? Es geht darum, welche Rolle KI bei den Filmen spielt. Ob die Computertechnik jetzt bald die
Schauspielkunst ersetzen wird, ob sie längst verstorbene Schauspieler wieder auferstehen lassen wird? Und ob das gut ist oder schlecht?
Und dann gibt es noch die Frage, ob der Computer bald selber Filmdrehbücher schreiben oder gar Filme machen kann?
Auf der anderen Seite geht es auch um Arbeitsbedingungen: Die Frage der fairen Bezahlung, überhaupt der Fairness, der Arbeitszeiten, die manche als zu lang, andere als zu unflexibel empfinden, und verschiedene weitere Varianten von Ausbeutung.
Das ist natürlich auch wieder ein weites Feld, das man meiner Ansicht nach wirklich nicht nur im Bereich des Kinos und der Kunst diskutieren sollte, wo man nicht stellvertretend dem Kino und der Kunst etwas aufbürden sollte, das in der
Gesellschaft ansonsten vollkommen ungelöst bleibt.
Aber ein Filmfestival tangiert der Streik aus diesen Gründen natürlich ganz besonders. Denn das Filmfestival will sich da einerseits selber positionieren, durch Presseerklärungen und Solidaritätsbekundungen. Aber was heißt es genau, sich hier zu positionieren? Selbstverständlich will sich ein Festival »zugunsten der Filmemacher« positionieren. Also den Streik, die Drehbuchautoren und Schauspieler zu unterstützen. So gibt es dann dazu auch entsprechende
Pressemitteilungen, in denen sich Locarno solidarisch erklärt.
Auf der anderen Seite sind Filmemacher ja auch die Produzenten, die in der Streikfrage auf der anderen Seite stehen. Von diesem Produzenten will man bald wieder Filme für das Filmfestival haben, man möchte, dass diese Filme existieren, man möchte auch, dass es den Produzenten gut genug geht und man weiß, dass auch sie ihre Rechte und Interessen haben, die vollkommen legitim sind.
So ist ein Filmfestival auch
zu einer diplomatischen Gratwanderung gezwungen.
Wir gehen vielleicht ein bisschen zu schnell davon aus, dass ein Filmfestival immer »links« ist, immer da steht, wo man politisch, wenn man der Kunstszene angehört, zu stehen hat. So ist es aber doppelt nicht. Zumal man lange darüber streiten kann, was genau »links« heißt. Aber das ist kompliziert, machen wir es uns lieber einfach.
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Hinzu kommt, dass ein Filmfestival auch selber ein Arbeitgeber ist. Also auch natürlich auf einer Seite steht, selber Arbeitsbedingungen zu bieten, die nicht immer fair sind, bei denen Freiwillige manchmal für gar kein Geld arbeiten, oder kaum der Mindestlohn gezahlt wird.
Man kann gut reden über die Arbeitsbedingungen an anderen Orten. Das wird aber schnell zum Problem, wenn man selber die eigenen Mitarbeiter noch viel schlechter behandelt als diejenigen, mit denen man sich per Presseaussendung solidarisch erklärt.
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Die oft miserablen Arbeitsbedingungen sollte man übrigens den Filmfestivals nicht zu nachdrücklich vorwerfen. Denn Filmfestivals sind selber von der öffentlichen Hand überaus knapp gehalten. Und die, die dafür wirklich verantwortlich sind, also die Kulturpolitik, macht es sich manchmal auch viel zu einfach, indem sie irgendwelche Mindeststandards einfordert, die von ihr finanzierten Filmfestivals aber überhaupt nicht entsprechend ausstattet. Wer Mindeststandards will, der muss auch dafür sorgen, dass sie bezahlbar sind.
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Im kleinen und, wie gesagt, oft interessanteren Wettbewerb in Locarno laufen in diesem Jahr übrigens gleich drei Filme, die wirklich aus Deutschland kommen und nicht nur deutsche Fördergelder bekommen haben. Alle drei von jungen Frauen. Einer davon hat den schönen Titel »Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag …« Den werde ich mir schon des Titels wegen ansehen. Ein Film wie ein Gedicht – das kann gar nicht so schlecht sein.