17.08.2023

Pfade zum Ruhm

Premiere Affaire
Mit das Beste dieses Jahrgangs:  Première Affaire von Victoria Musiedlak
(Foto: Filmfestival Locarno)

Autofahrten durch die Großstadt, viel Begehren und noch mehr Mascara, und Gerechtigkeit für alle – eine Bilanz des Filmfestivals von Locarno

Von Rüdiger Suchsland

»The days go on and on... they don’t end. All my life needed was a sense of someplace to go. I don’t believe that one should devote his life to morbid self-attention, I believe that one should become a person like other people. ... You're only as healthy as you feel.«
– Travis Bickle in Taxi Driver

Leoparden küßt man nicht – so hieß mal auf Deutsch eine berühmte Film­komödie von Howard Hawks. In Locarno dagegen, beim kleinsten unter den großen Film­fes­ti­vals des welt­weiten Festival-Zirkus, darf man sehr wohl Leoparden küssen. Jeden­falls wenn man einen gewinnt.

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Critical Zone – so heißt der dies­jäh­rige Sieger des Goldenen Leoparden von Locarno. Ein Film aus dem Iran, der vierte Spielfilm des Regis­seurs Ali Ahmadzadeh, und ein sehr düsteres Werk: im Zentrum steht ein Drogen­dealer, der durch die Nacht fährt, seine Kunden besucht, auch andere Aufträge erledigt. Indem er diese verschie­denen Stationen abklap­pert, entsteht ein abwechs­lungs­rei­ches Mosaik der irani­schen Gesell­schaft, einer Gesell­schaft die bekann­ter­maßen unter der Mullah­di­k­tatur leidet, und in der jeder einzelne für sich eigene Auswege sucht, kleinere und größere Wider­stands­hand­lungen vornimmt, und natürlich viele alltäg­liche Kompro­misse schließt.
Vieles spielt hier im Auto – dazu muss man wissen, dass das Auto im irani­schen Kino in den letzten Jahr­zehnten eine ganz zentrale Rolle einnimmt, einfach deswegen, weil es ein Ort seltener Freiheit ist. Hier können nämlich auch im Iran Menschen zusam­men­sitzen, die das im Café nicht dürfen, und relativ unbe­ob­achtet tun und reden, was sie möchten.
Critical Zone ist ein guter Film und er war ohne Frage einer der politisch kritischsten und aktu­ellsten Filme. insofern ein verdienter und nicht völlig über­ra­schender Sieger.

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Nicht über­ra­schend waren auch die anderen Preise – bei dieser eher künst­le­risch nicht so ausge­wie­senen Jury konnte man schon vorher ahnen, dass es am Ende Filme sein würden, die in ihrer Film­sprache zugäng­lich und nicht über­ra­schend unkon­ven­tio­nell sind, und die politisch plakativ auf „der richtigen Seite“ standen.

Das tut auch die recht gelungene schwarze Komödie Do Not Expect Too Much from the End of the World vom Rumänen Radu Jude, der mit dem Spezi­al­preis der Jury den zweit­wich­tigsten Preis bekam.
Dies ist ein inter­es­santer doppel­bö­diger Film, der dem Haupt­sieger insofern ähnelt, als auch hier die zentrale Figur, eine junge Frau, sich einen Großteil des Films über im Auto durch die Haupt­stadt des Landes bewegt, permanent im Stress ist. In diesem Fall ist sie gestresst vom offi­zi­ellen Kapi­ta­lismus in ihrer Arbeit, die ihr für nichts anderes mehr im Leben Zeit lässt. Kurze Erleich­te­rungen gibt es nur durch die sozialen Netzwerke. Diese Arbeit ist aller­dings die einer west­li­chen Filmcrew, die sich im Billig­film­land Rumänien genau so ausbeu­tend benimmt, wie man das von ihr unter diesen Umständen erwarten muss.
Auf intel­li­gente Weise kommen­tiert der Regisseur damit die gegen­wär­tige inter­na­tio­nale Filmszene, zugleich paral­le­li­siert er dieses Gegen­wart­s­por­trait mit dem Rumänien in der Spätphase der Ceausescu-Ära.

Rund 220 Filme liefen in diesem Jahr in Locarno – die 76. Ausgabe war gut und ökono­misch erfolg­reich; künst­le­risch im Rahmen des Erwart­baren. Luft nach oben bleibt in Locarno aller­dings fast immer.

Den Nach­wuchs­wett­be­werb gewann in diesem Jahr ein Film aus Indo­ne­sien. Zwei weitere Preise gingen aber an den Film Ein schöner Ort von Katharina Huber.
Auch in diesem Wett­be­werb wie auch in den übrigen Neben­reihen konnte man in Locarno in diesem Jahr die über­ra­schen­deren Entde­ckungen machen.

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Man kann nicht alles sehen. Jeden­falls nicht bei einem Festival wie Locarno, auf dem über 200 Filme gezeigt werden, in mehr als einer Handvoll Nebensek­tionen. Man muss sich schon zwischen den beiden Wett­be­werben entscheiden. Man muss also wählen und es gibt Leute, die wählen – aus Maso­chismus? Aus perverser Faszi­na­tion? Aus leidiger Festi­val­er­fah­rung, wer so etwas gewinnt? Aus schlechtem Geschmack! – konse­quent die ganzen depres­siven sozi­al­pä­d­ago­gi­schen Filme aus osteu­ropäi­schen Ländern, die politisch irgendwie wichtig und relevant sind. Ich meine jetzt nicht Radu Jude, aber zum Beispiel den ukrai­ni­schen Regie­preis. (Aufrich­tiger Gedanke dazu, glück­li­cher­weise geteilt mit anderen Gesprächs­part­nern: Immerhin bekommen die Ukrainer jetzt schon nicht mehr die Haupt­preise, sondern nur noch irgend­welche Preise. Noch ein Jahr Krieg, und auch das wird vorbei sein). Und dann entscheiden sich viele für die »großen Namen«, genau gesagt die halb­großen, denn die großen laufen in vier Wochen in Venedig. Andere machen es anders und dazu gehöre ich: Keine Angst vor der Piazza und im Zweifel Franzosen und im Zweifel Genre. Klar also, dass ich einen fran­zö­si­schen Vampir­film anschauen würde...

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In La Morsure von Romain de Saint-Blanquart reißen zwei Kloster-Girls aus dem Kloster aus. Alles spielt 1967. Katho­li­zismus und Sünden­be­wusst­sein verbinden sich mit Esoterik. Die Mädchen tragen viel Begehren und noch mehr Mascara, sie rauchen, hören »ye ye«, lernen Jungs kennen und entdecken die Popkultur.

Die Geschichte, in die sich Vampi­rismus-Motive mischen, ist großer Quatsch. Aber der Film ist ein schönes Style-Statement.
Textur und tech­ni­co­lor­hafte Farb­ge­bung verweisen auf altes Film­ma­te­rial.

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Zwei weitere fran­zö­si­sche Filme waren dann das Beste, was ich im dies­jäh­rigen Programm (Retro ausge­nommen) gesehen habe: Première Affaire von Victoria Musiedlak hieß mal La vie sauvage und ist ein ganz hervor­ra­gendes Debüt. Auch bei diesem Film können sich alle Deutschen wieder mehrere Scheiben abschneiden.
Kamera, Musik, Schau­spieler, Plot, Atmo­sphäre – alles stimmt.

Noée Abita spielt eine junge Anwältin, die nach Arras muss. Aus einem unwich­tigen Fall wird eine Mordan­klage, ihr Mandant ist überaus ekelig, der verhö­rende Polizist umso attrak­tiver. Aber: Es gilt die Unschulds­ver­mu­tung. »I am not kind. I am doing my job.« sagt sie, und dann: »The client’s truth is the truth«.

Daneben parallel ihre Familie: Algerier in Frank­reich, Sehnsucht nach der Heimat, Diaspora, die Macht der Familie. Die Mutter ruft dauernd an.
Dann beginnt die erwart­bare Affäre mit dem Poli­zisten, der von Anders Danielsen Lie gespielt wird. Lako­ni­sche Dialoge, sie ist noch Jungfrau.

Abitas Figur rührt an in ihrer Empathie, einer als Naivität verklei­deten Hart­nä­ckig­keit. Sie ist berührbar, aber gradlinig und stabil.

Alles spitzt sich auf die Frage zu: »Was ist Gerech­tig­keit?« Denn Abitas Mandant entpuppt sich als schul­diger, ekelhaft-brutaler Mörder. Wegen eines Verfah­rens­feh­lers bekommt sie ihn trotzdem, frei – im Wissen darum. Denn Gerech­tig­keit ist das Gegenteil von Willkür und Selbst­justiz.

Im letzten Bild, als sie viel verloren hat, sich selbst aber gewonnen, sitzt Abita im Verhör­raum: Ein neuer Fall, ein pädo­philer Krimi­neller. Sie sagt dem Wild­fremden: »Ich bin für Sie da. Ihre Wahrheit ist meine.«

Und Gerech­tig­keit für alle.

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Erwäh­nens­wert ist schließ­lich unbedingt der Film La Voie Royale. Regisseur Frédéric Mermoud erzählt von einer fran­zö­si­schen Elite­schule und einer Gruppe von Bewerbern. Im Zentrum steht ein junges Mädchen aus unter­pri­vi­le­gierten Verhält­nissen, die es trotz widriger Umstände schaffen möchte.

La Voie Royale bietet ein facet­ten­rei­ches, durch wenig Vorur­teile belas­tetes Porträt von Frank­reich und seinem Elite­aus­bil­dungs­system, das dessen harten Sozi­al­dar­wi­nismus ebenso heraus­ar­beitet, wie seine Chancen und Gerech­tig­keits­vor­stel­lungen. Vor allem besticht der Film aber durch die Auftritte seiner jungen, unver­brauchten Schau­spieler jenseits der Star­schwelle.