Pfade zum Ruhm |
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Mit das Beste dieses Jahrgangs: Première Affaire von Victoria Musiedlak | ||
(Foto: Filmfestival Locarno) |
»The days go on and on... they don’t end. All my life needed was a sense of someplace to go. I don’t believe that one should devote his life to morbid self-attention, I believe that one should become a person like other people. ... You're only as healthy as you feel.«
– Travis Bickle in Taxi Driver
Leoparden küßt man nicht – so hieß mal auf Deutsch eine berühmte Filmkomödie von Howard Hawks. In Locarno dagegen, beim kleinsten unter den großen Filmfestivals des weltweiten Festival-Zirkus, darf man sehr wohl Leoparden küssen. Jedenfalls wenn man einen gewinnt.
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Critical Zone – so heißt der diesjährige Sieger des Goldenen Leoparden von Locarno. Ein Film aus dem Iran, der vierte Spielfilm des Regisseurs Ali Ahmadzadeh, und ein sehr düsteres Werk: im Zentrum steht ein Drogendealer, der durch die Nacht fährt, seine Kunden besucht, auch andere Aufträge erledigt. Indem er diese verschiedenen Stationen abklappert, entsteht ein abwechslungsreiches
Mosaik der iranischen Gesellschaft, einer Gesellschaft die bekanntermaßen unter der Mullahdiktatur leidet, und in der jeder einzelne für sich eigene Auswege sucht, kleinere und größere Widerstandshandlungen vornimmt, und natürlich viele alltägliche Kompromisse schließt.
Vieles spielt hier im Auto – dazu muss man wissen, dass das Auto im iranischen Kino in den letzten Jahrzehnten eine ganz zentrale Rolle einnimmt, einfach deswegen, weil es ein Ort seltener Freiheit ist.
Hier können nämlich auch im Iran Menschen zusammensitzen, die das im Café nicht dürfen, und relativ unbeobachtet tun und reden, was sie möchten.
Critical Zone ist ein guter Film und er war ohne Frage einer der politisch kritischsten und aktuellsten Filme. insofern ein verdienter und nicht völlig überraschender Sieger.
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Nicht überraschend waren auch die anderen Preise – bei dieser eher künstlerisch nicht so ausgewiesenen Jury konnte man schon vorher ahnen, dass es am Ende Filme sein würden, die in ihrer Filmsprache zugänglich und nicht überraschend unkonventionell sind, und die politisch plakativ auf „der richtigen Seite“ standen.
Das tut auch die recht gelungene schwarze Komödie Do Not Expect Too Much from the End of the World vom Rumänen Radu Jude, der mit dem Spezialpreis der Jury den zweitwichtigsten Preis bekam.
Dies ist ein interessanter doppelbödiger Film, der dem Hauptsieger insofern ähnelt, als auch hier die zentrale Figur, eine junge Frau, sich einen Großteil des Films über im Auto durch die Hauptstadt des Landes bewegt, permanent im Stress ist. In diesem Fall ist sie
gestresst vom offiziellen Kapitalismus in ihrer Arbeit, die ihr für nichts anderes mehr im Leben Zeit lässt. Kurze Erleichterungen gibt es nur durch die sozialen Netzwerke. Diese Arbeit ist allerdings die einer westlichen Filmcrew, die sich im Billigfilmland Rumänien genau so ausbeutend benimmt, wie man das von ihr unter diesen Umständen erwarten muss.
Auf intelligente Weise kommentiert der Regisseur damit die gegenwärtige internationale Filmszene, zugleich
parallelisiert er dieses Gegenwartsportrait mit dem Rumänien in der Spätphase der Ceausescu-Ära.
Rund 220 Filme liefen in diesem Jahr in Locarno – die 76. Ausgabe war gut und ökonomisch erfolgreich; künstlerisch im Rahmen des Erwartbaren. Luft nach oben bleibt in Locarno allerdings fast immer.
Den Nachwuchswettbewerb gewann in diesem Jahr ein Film aus Indonesien. Zwei weitere Preise gingen aber an den Film Ein schöner Ort von Katharina Huber.
Auch in diesem Wettbewerb wie auch in den übrigen Nebenreihen konnte man in Locarno in diesem Jahr die überraschenderen Entdeckungen machen.
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Man kann nicht alles sehen. Jedenfalls nicht bei einem Festival wie Locarno, auf dem über 200 Filme gezeigt werden, in mehr als einer Handvoll Nebensektionen. Man muss sich schon zwischen den beiden Wettbewerben entscheiden. Man muss also wählen und es gibt Leute, die wählen – aus Masochismus? Aus perverser Faszination? Aus leidiger Festivalerfahrung, wer so etwas gewinnt? Aus schlechtem Geschmack! – konsequent die ganzen depressiven sozialpädagogischen Filme aus osteuropäischen Ländern, die politisch irgendwie wichtig und relevant sind. Ich meine jetzt nicht Radu Jude, aber zum Beispiel den ukrainischen Regiepreis. (Aufrichtiger Gedanke dazu, glücklicherweise geteilt mit anderen Gesprächspartnern: Immerhin bekommen die Ukrainer jetzt schon nicht mehr die Hauptpreise, sondern nur noch irgendwelche Preise. Noch ein Jahr Krieg, und auch das wird vorbei sein). Und dann entscheiden sich viele für die »großen Namen«, genau gesagt die halbgroßen, denn die großen laufen in vier Wochen in Venedig. Andere machen es anders und dazu gehöre ich: Keine Angst vor der Piazza und im Zweifel Franzosen und im Zweifel Genre. Klar also, dass ich einen französischen Vampirfilm anschauen würde...
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In La Morsure von Romain de Saint-Blanquart reißen zwei Kloster-Girls aus dem Kloster aus. Alles spielt 1967. Katholizismus und Sündenbewusstsein verbinden sich mit Esoterik. Die Mädchen tragen viel Begehren und noch mehr Mascara, sie rauchen, hören »ye ye«, lernen Jungs kennen und entdecken die Popkultur.
Die Geschichte, in die sich Vampirismus-Motive mischen, ist großer Quatsch. Aber der Film ist ein schönes Style-Statement.
Textur und technicolorhafte Farbgebung verweisen auf altes Filmmaterial.
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Zwei weitere französische Filme waren dann das Beste, was ich im diesjährigen Programm (Retro ausgenommen) gesehen habe: Première Affaire von Victoria Musiedlak hieß mal La vie sauvage und ist ein ganz hervorragendes Debüt. Auch bei diesem Film können sich alle Deutschen wieder mehrere Scheiben abschneiden.
Kamera, Musik, Schauspieler, Plot, Atmosphäre – alles stimmt.
Noée Abita spielt eine junge Anwältin, die nach Arras muss. Aus einem unwichtigen Fall wird eine Mordanklage, ihr Mandant ist überaus ekelig, der verhörende Polizist umso attraktiver. Aber: Es gilt die Unschuldsvermutung. »I am not kind. I am doing my job.« sagt sie, und dann: »The client’s truth is the truth«.
Daneben parallel ihre Familie: Algerier in Frankreich, Sehnsucht nach der Heimat, Diaspora, die Macht der Familie. Die Mutter ruft dauernd an.
Dann beginnt die erwartbare Affäre mit dem Polizisten, der von Anders Danielsen Lie gespielt wird. Lakonische Dialoge, sie ist noch Jungfrau.
Abitas Figur rührt an in ihrer Empathie, einer als Naivität verkleideten Hartnäckigkeit. Sie ist berührbar, aber gradlinig und stabil.
Alles spitzt sich auf die Frage zu: »Was ist Gerechtigkeit?« Denn Abitas Mandant entpuppt sich als schuldiger, ekelhaft-brutaler Mörder. Wegen eines Verfahrensfehlers bekommt sie ihn trotzdem, frei – im Wissen darum. Denn Gerechtigkeit ist das Gegenteil von Willkür und Selbstjustiz.
Im letzten Bild, als sie viel verloren hat, sich selbst aber gewonnen, sitzt Abita im Verhörraum: Ein neuer Fall, ein pädophiler Krimineller. Sie sagt dem Wildfremden: »Ich bin für Sie da. Ihre Wahrheit ist meine.«
Und Gerechtigkeit für alle.
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Erwähnenswert ist schließlich unbedingt der Film La Voie Royale. Regisseur Frédéric Mermoud erzählt von einer französischen Eliteschule und einer Gruppe von Bewerbern. Im Zentrum steht ein junges Mädchen aus unterprivilegierten Verhältnissen, die es trotz widriger Umstände schaffen möchte.
La Voie Royale bietet ein facettenreiches, durch wenig Vorurteile belastetes Porträt von Frankreich und seinem Eliteausbildungssystem, das dessen harten Sozialdarwinismus ebenso herausarbeitet, wie seine Chancen und Gerechtigkeitsvorstellungen. Vor allem besticht der Film aber durch die Auftritte seiner jungen, unverbrauchten Schauspieler jenseits der Starschwelle.