Kaleidoskopisches TIFF |
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Dreiteiliger Konflikt über das Wesen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit: Nuri Bilge Ceylans About Dry Grasses | ||
(Foto: TIFF Toronto) |
Von Bidhan Rebeiro
Wenn ich mir die Liste der Filme, die ich gesehen habe, und die übrigen Filme des Festivals ansehe, wird deutlich, dass das TIFF versucht, sich als eine Art bunte Karawane der meistbesprochenen und meistgepriesenen Filme anderer renommierter Festivals zu präsentieren. Unter diesem Gesichtspunkt hat das TIFF einen besonderen Stellenwert. Eine der Hauptkategorien ist zum Beispiel das zeitgenössische Weltkino, auch wenn es dieses Mal in „Centerpiece“ umbenannt
wurde. Diese Sektion ist die Hauptattraktion des Festivals. Ich habe dort neun von 47 Filmen aus 45 Ländern gesehen, darunter den vielleicht stärksten Film, Nuri Bilge Ceylans About Dry Grasses. In diesem Film präsentiert der Regisseur einen dreiteiligen Konflikt über das Wesen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die Notwendigkeit und Unnötigkeit einer Ideologie und das Tabu
einer Lehrer-Schüler-Beziehung. Und wer Ceylans andere Werke gesehen hat, weiß, wie subtil dieser Regisseur die Stimmung in seinen Filmen erzeugt. Wenn ich die Namen von zwei weiteren Filmen der Sektion „Centerpiece“ erwähnen müsste, würde ich The Reeds von Cemil Ağacıkoğlu und The Breaking Ice von Anthony Chen nennen.
Diejenigen, die das Genre des reinen Kunstfilms schätzen, werden diese beiden Filme lieben.
Eine weitere wichtige Sektion des TIFF ist „Discovery“. Die Filme junger Filmemacher, die den Anschein erwecken, dass sie in die Geschichte des Weltkinos eingehen könnten, hat das TIFF in eben diese Kategorie aufgenommen. Ich habe fünf Filme aus der Discovery-Sektion gesehen. Von ihnen hat mir der iranische Film Achilles am besten gefallen. Es ist der Debütfilm
von Farhad Delaram. Es handelt sich um ein hochpolitisches und allegorisches Kunstwerk. Ein weiterer beeindruckender Film ist der erste Film des saudi-arabischen Filmemachers Ali Kalthami, Mandoob, der wie viele andere Filme aus dieser Region, es nach ihren Festivalpräsentationen wohl kaum einmal in die Kinos der weiten Welt schaffen werden. Die Ausnahme sind natürlich Filme aus dem Iran, die dank des iranischen Kulturzentrums sogar in Bangladesch
einen festen Screening-Platz haben. Für den saudi-arabischen Filmvertrieb gilt dies jedoch nicht.
Zusätzlich zu „Centerpiece“ und „Discovery“ habe ich Filme aus den TIFF-Kategorien „Gala“, „Platform“, „Special Presentations“, „Docs and Luminaries“, „Prime Time“, „Wave Length“ und „Premium“ gesehen. Die südkoreanischen Filme waren wieder einmal perfekte Beispiele für das, was ich als „mittlere Kinoschiene“ bezeichnen würde. Die drei besten Filme, die ich in
den oben genannten Kategorien gesehen habe, waren zweifellos Evil Does Not Exist, The World is Family und Nyad gewesen.
Hier kam ich dann auch mit Anand
Patwardhan, dem Regisseur des Dokumentarfilms The World is Family ins Gespräch und konnte dadurch einige Vorurteile abbauen; dabei half mir allerdings auch Anands besonderes Interesse an Bangladesch, das jedoch nicht nur auf diese Region beschränkt ist und ihn allein schon durch seinen universalen Blickwinkel, auch in seinen Filmen, zu einem der bemerkenswertesten politischen Dokumentarfilmer, nicht nur auf dem indischen Subkontinent,
macht.
Abgesehen von Anands Dokumentarfilm haben die anderen indischen Filme kaum Spuren hinterlassen, auch wenn Dear Jassie den Plattformpreis erhalten hat. Der Held des Films, Yugam Sood, erschien zusammen mit dem Regisseur Tarsem Singh Dhandwar zur Preisverleihung für einen Film, der auf einer wahren Begebenheit beruht und das Thema »Ehrenmord« aufgreift. Der Regisseur bat bei der Preisverleihung jedoch darum, dass niemand den Film als Ehrenmord-Film bezeichnet, weil er glaubt, dass mit dieser Begrifflichkeit die involvierte Brutalität verharmlost wird. Ich denke allerdings, dass »Ehrenmord« durchaus funktioniert, um die Art des Mordes aus konzeptioneller Sicht zu beschreiben.
Der Hauptpreis des TIFF, der People’s Choice Award, ging an Cord Jeffersons Film American Fiction. Da ich meine Liste auf das asiatische Kino beschränkt hatte, habe ich diese US-Produktion nicht gesehen, die von der Frustration eines schwarzen Schriftstellers handelt. Robert McCallums Dokumentarfilm Mr. Dressup: The Magic of Make-Believe gewann den People’s Choice Award in der Kategorie Bester Dokumentarfilm. Diese beiden Preise sind die wichtigsten Auszeichnungen des TIFF, die durch eine Publikumsabstimmung bestimmt werden. Das TIFF legt größten Wert auf sein Publikum. So war denn auch der Wettbewerbsjingle, der vor Beginn jeder Vorführung gespielt wurde, eine Dankesbotschaft an das Publikum.
Das TIFF hat eine weitere wichtige Kategorie, die TIFF Classics, die dieses Jahr auch meinen Lieblingsregisseur, Ousmane Sembène und seinen Film Xala zeigten. Ein weiterer senegalesischer Regisseur, Djibril Diop Mambéty und sein Touki Bouki – Die Reise der Hyäne, wurden ebenfalls präsentiert. Außerdem liefen Jacques Rivettes L’Amour fou, Brigitte Bermans Artie Shaw: Time Is All You’ve Got und Chen Kaiges Lebewohl, meine Konkubine.
Kommen die Leute nur zum TIFF, um Filme zu sehen? Natürlich nicht, geht es auch hier darum, Leute zu treffen und Kontakte zu knüpfen und zweifelsohne spielt der Markt eine wichtige Rolle für das Festival. Die großen Verleiher kommen, um neue Filme auf dem TIFF zu sehen, und wenn ihnen ein Film gefällt, kontaktieren sie die Produzenten und besprechen die Veröffentlichung in den Kinos der verschiedenen Länder. Das TIFF hat einen eigenen Zweig für diesen Handel mit Filmen, nämlich, das sogenannte Market Screening.
Abgesehen vom Handel ist die Interaktion zwischen den Filmliebhabern auf dem Festival unübertroffen, vor allem die langen Gespräche vor und nach jedem Film.
Das TIFF-Hauptgebäude, die Lightbox, hat einen Laden im Erdgeschoss, und ich war von der kleinen Auswahl an Büchern sehr angetan. Es gibt Bücher über Filme zu den verschiedensten und nicht nur filmrelevanten Themen und eine umfangreiche Sammlung von Büchern, die auf Interviews mit Filmemachern basieren. Auch ein paar Bücher über Philosophie sind darunter. Allerdings musste ich feststellen, dass die Bücher ein Schattendasein fristen und die Festival-Souvenirabteilungen erheblich besser besucht waren, ohne Zweifel ein globaler Trend.
Zwei weitere Aspekte des TIFF sollten noch erwähnt werden – zum einen gab es während de ersten vier Tage jeden Abend ein Musikkonzert rund um das TIFF und dann ein Straßenfest, bei dem verschiedene kleine Geschäfte zahlreiche Attraktionen und Speisen anboten und von Straßenhändlern flankiert wurden, die Sonderausgaben von Variety, Screen, Hollywood Report und Backstage verteilten.
Das TIFF ist das viertwichtigste Filmfestival der Welt und wie bei bei anderen, vergleichbaren Festivals gibt es auch hier einen roten Teppich mit dem üblichen Starauflauf; trotzdem ist beim TIFF alles ein wenig anders, überzeugt das Festival weniger durch seinen Glamour als seine Aufrichtigkeit und Offenherzigkeit. Denn die Art und Weise, wie hier Journalisten, Filmautoren, Regisseure und Kritiker aus der ganzen Welt empfangen und hofiert werden, ist beeindruckend. Denn erst dadurch entsteht ja die Möglichkeit, die vielen Menschen, Kasten und Hautfarben aus Europa, Afrika und Asien, und jene, die z.T. dauerhaft in Nordamerika leben und am TIFF teilnehmen, wirklich kennenzulernen. Ein Novum, auf das bei anderen Festivals heutzutage leider kaum mehr Wert gelegt wird.
Bidhan Rebeiro ist ein bengalischer Schriftsteller, Filmwissenschaftler, Filmkritiker, Dokumentarfilm-Regisseur und CEO der Konvergenzmedien-Plattform Songbad Prokash. Er lebt und arbeitet in Dhaka, Bangladesch.