Tagebuch eines Kinomachers |
||
Kino achteinhalb in Celle: antigewerblich, 34 Kinosessel, 85 qm... | ||
(Foto: Stefan Eichardt) |
Von Stefan Eichardt
Kino achteinhalb Celle (es gibt ein zweites Kino achteinhalb in Saarbrücken) ist ein sehr kleines, antigewerbliches Kino (Eingangstür, Kasse, Lagerfläche, Theke, Kinotechnik sowie 34 Kinosessel befinden sich alle in einem 85 qm großen Raum). Unser ehrenamtlicher, gemeinnütziger Verein wurde vor 29 Jahren gegründet – ich (Jahrgang 1958) bin eines der Gründungsmitglieder sowie erster Vorsitzender.
Unser Spielbetrieb ist ungefördert; bei Investitionen in
Technik wurden wir bislang zu 50% von der nordmedia gefördert. Wir haben sehr ausführliche Filmseiten auf unserer Webseite – u.a. eine Art Kritikerspiegel von »a« wie artechock bis »s« wie Standard.
Die Frage ist bei uns in der Regel nicht, wie ein Film vom anwesenden Publikum angenommen wurde. Vielmehr sind die Besucher in der Regel zufrieden mit dem jeweiligen Film, so dass die eigentliche Frage eher lauten müsste, was die Menschen antreiben könnte, überhaupt in ausreichender Anzahl ins Kino zu gehen?
Past Lives haben wir vor allem aus programmatischen Gründen gezeigt, ohne die
Erwartung, dass ausreichender Besuch kommt. Gerade Spielfilme mit OmdU oder TmdU wollen kaum Leute sehen – Celle ist ja eine Mittelstadt (70.000 Einwohner) ohne Universität. Es gibt Filme, die zeigen wir, damit die Kasse stimmt und Filme wie z. B. Past Lives, Aftersun, Orphea in Love, Close, Black Box, The Ordinaries oder Verlorene Illusionen, um unseren programmatisch/cineastisch/gesellschaftspolitischen Ansprüchen zu genügen
Der Hinweis auf unseren gesellschaftlichen Anspruch soll dabei nicht hochtrabend klingen und ist auch nicht so gemeint, ihm ist bereits Genüge getan, wenn, wie bei deutschen Spielfilmen leider die Regel, gesellschaftliche Realitäten nicht völlig ausgeblendet werden. Arbeitslose etwa kommen in deutschen Unterhaltungsfilmen so gut wie nicht vor. So haben wir beispielsweise wegen einer marginalen Nebenhandlung den ansonsten relativ belanglosen Film Ein Kuss von Beatrice mit gutem Gewissen gezeigt: Catherine Frot spielt darin eine Hebamme, deren Klinik privatisiert wird. Ihr wird gekündigt und anschließend die gleiche Stelle zu niedrigerem Gehalt angeboten. Sie lehnt das ab und macht sich selbständig. Alles ohne großes Tamtam.
An dieser Stelle möchte ich noch kurz auf die Bedeutung unseres Kinoraums im gesellschaftlichen Kontext eingehen:
Unser Kinoraum ist nicht nur ein Lichtspielhaus, sondern auch ein Raum für Diskursives und Kontroverses. Weil man im gesellschaftlich luftleeren Raum als Kinoverein nicht jahrelang überleben kann und wir institutionell (z. B. Kommunales Kino, VHS) nicht vernetzt sind, haben wir uns durch zahlreiche Kooperationen ein eigenes Netz in der Region
aufgebaut.
Die Philosophin Rahel Jaeggi sagt in dem sehenswerten Film Der lange Sommer der Theorie, dass die Lebensform Stadt beinhalte, dass es öffentliche Orte gibt, an denen man sich trifft, ohne sich zu verabreden und ohne dafür zu zahlen. Daher zeigen wir regelmäßig Dokumentarfilme, die gesellschaftlich Relevantes thematisieren, ohne dafür Eintrittsgeld zu verlangen.
Vor
einiger Zeit bat mich der Kulturausschuss der Stadt Celle, in einer ihrer Sitzungen das Kino achteinhalb vorzustellen. Eingedenk Jaeggis Definition von Stadt erlaubte ich mir dabei das Bonmot: »Kino achteinhalb sei der Ort, wo Celle zur Stadt werde.«
Wir zeigen nur einen Spielfilm die Woche (Freitag/Samstag/Mittwoch) und Donnerstag oft einen Dokumentarfilm.
Die meisten der oben genannten Filme haben kaum Resonanz gezeigt. Bei Verlorene Illusionen, der eigentlich alles mitbringt, was die meisten Zuschauer mögen, liegt das m. E. am Titel. Der Verleih, mit dem ich über den kommerziellen Misserfolg dieses Films gesprochen habe, war der
gleichen Meinung.
Ich schreibe manchmal Titel (wie z. B. bei The Ordinaries) um, weil sie mir ungeeignet scheinen, Interesse zu wecken. Filmtitel und Trailer sind wichtig. Bei Verlorene Illusionen kam eine Frau sehr früh ins Kino, offenbarte dann, dass sie gar nicht den Film sehen, sondern einen Gutschein zum Verschenken erwerben möchte. Ich fragte sie, warum sie den Film nicht sehen wolle. Sie antwortete, sie habe gelesen, dass es sich um ein Drama handele und Dramen hätte sie genug in ihrem Leben. Ich erklärte ihr bei der Gelegenheit, dass Drama ein Oberbegriff für viele Filmgenres sei und dass fast jeder Film ein (Film-) Drama sei. Jedenfalls ordne ich auf unserer Internetseite, wenn es nur irgendwie vertretbar ist, unsere Filme knallhart dem Genre Komödie zu. Tragikomödie ist da fast schon das höchste der Gefühle...
Aftersun und Orphea in Love waren nicht nur schlecht besucht, sondern wurden auch von den wenigstens Leuten, die kamen, verstanden. Was mir bei Aftersun richtig weh tut.
Jedenfalls war Past Lives nicht nur gut besucht, sondern wurde trotz der Untertitel sehr gut aufgenommen. Dabei fiel mir ein, dass ich den wunderschön elegischen 2046 von Wong Kar-Wai noch einmal sehen möchte.
Wir verzichten durchaus auf Filme, die gute Zuschauerzahlen gemacht haben wie z. B. zuletzt Die Unschärferelation der Liebe oder Der Geschmack der kleinen Dinge, wenn wir zu der Auffassung gelangen, dass sie das von uns vertretbare Niveau unterschreiten. (Irrtümer in beide Richtungen der Skala immer wieder
inbegriffen.)
Die damalige Disponentin von Neue Visionen Anne Lakefeld sagte vor Jahren zu mir: »Das Programm des Kino achteinhalb unterscheidet sich von dem anderer Kinos nicht durch die Filme, die ihr zeigt (denn die zeigen Programmkinos mit mehreren Leinwänden zum Großteil auch), sondern durch die Filme, die ihr nicht zeigt.«
Deshalb hätte ich persönlich auf Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste verzichtet, obwohl der sicherlich gut Kasse machen wird. Aber die Mitglieder aus unserem Kinoverein möchten ihn gerne sehen, so dass wir (deswegen gestern ein Gespräch mit der Disponentin von den FilmAgentinnen) ihn natürlich zeigen werden. Bei dem Gespräch sagte mir die Disponentin, dass ihr aktueller
Lieblingsfilm Wild wie das Meer sei. Ich hatte den Film leider verworfen. Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau, warum. Die Geschichte klang mir wohl zu banal und dann die Sexszenen. Gerade mit schönen Sexszenen, sehr gelungenen Sexszenen, wo man gerne mit von der Partie wäre, verhält es sich meiner Erfahrung nach so: Nehmen wir Blau ist eine warme Farbe. Wunderschöner, perfekter Sex. Menschen, die einzeln ins Kino kommen, würdigen das. Die meisten kommen aber als Pärchen und werden dann unweigerlich wie unausgesprochen mit ihrem eigenen Sexleben konfrontiert, was bei einem tristen Sexleben zu allem anderen als einem Knistern führt. Es wäre für die dann kein schöner Kinoabend, sondern eher Stress.
Dass ich Wild wie das Meer bislang, warum auch immer, nicht auf dem Zettel hatte, betrachte ich jetzt als Fehler. Und da wir nur einen Spielfilm die Woche zeigen, weiß ich im Moment nicht, ob ich ihn noch unterbringen kann.
Es ist ja zudem so, dass es Monate gibt, wo man nicht jeden Film zeigen kann, den man zeigen möchte, so wie es Anfang 2023 der Fall war. Danach allerdings gab es eine unglaubliche Flaute, so dass wir Filme zeigen mussten, die wir
sonst nicht gezeigt hätten. (Leider kamen die teilweise sogar gut an, wie z. B. der Kitschfilm Die Insel der Zitronenblüten. Das tut durchaus weh, wenn man gleichzeitig erleben muss, wie Aftersun vollkommen untergeht.)
Es gibt aber auch Filme, die von einer spießigen deutschen Filmkritik niedergemacht und bei uns zum Kult wurden. Ich denke da z. B. an Flitzer, der von der Kritik als peinlich und unter aller Würde dargestellt wurde, der sich aber in keiner Form über seine Protagonisten lustig macht oder sie entblößt.
Es lohnt sich übrigens, einen Film (digitalisiert als Wiederaufnahme) als Verleiher in die
Kinos zu bringen. Wir haben 2006 den Film Der Hals der Giraffe vom Schwarz-Weiss Filmverleih gezeigt.
Der damalige Chef Dieter Hertel riet mir sogar davon ab, prophezeite uns, dass da kaum einer käme. Weit gefehlt: bei uns avancierte Der Hals der Giraffe zum Kultfilm. Eine Filmperle, genau das, was unser
Publikum liebt – und zwar zu Recht!
Wir sind jetzt mit unserem Programm bis Weihnachten eigentlich durch. Diese fünf Spielfilme möchte ich voraussichtlich bis Weihnachen noch leihen: Die einfachen Dinge, The Lost King, Die Theorie von Allem, Anatomie eines Falls und The Quiet Girl.
Living oder Mrs. Harris und ein Kleid von Dior wären zudem schöne
Weihnachtsfilme.
Jetzt muss ich Ingeborg Bachmann zeigen, dann streiche ich vielleicht Die Theorie von Allem, der eher die Tendenz haben wird, dass das Publikum das Kino frustriert verlässt.
Was die idealen Filme für unser Kino sind? Filme, in denen wir 2023 ausverkauft waren, die auch durch Mundpropaganda ihr Publikum fanden, und mit denen die Leute durch die Bank hochzufrieden waren; Filme, die aber auch ihre Qualität behaupteten: Maria träumt – Oder: Die Kunst des Neuanfangs (gibt es nichts dran zu meckern – nur 50.000 Besucher) und Das Leben ein Tanz (Nur 80.000 Besucher).
Das ist genau das »Zeugs«, was die Leute sehen wollen und woran es auch nichts auszusetzen gibt, auch ich habe sie sehr gerne gesehen. Warum die dann nicht mehr Besucher haben? Muss am Verleih und an den Kinos liegen, denke ich.
Ach ja Black Box: Deutsche Kinofilme gehen ja nur bis 1989. Filme, die in der gesellschaftlichen Gegenwart spielen, kann man an einer Hand zählen und liefen alle im achteinhalb. (Der erste Film, an den ich mich erinnere, der in der Gegenwart spielt, war Die Lügen der Sieger.)
Im Grunde sagen die
meisten Besucher (und das ist seit Corona, Ukraine, Inflation noch schlimmer geworden): »Wir wollen nicht belastet aus dem Kino gehen.« Die meisten Zuschauer suchen gehobene Unterhaltung und Ablenkung, sobald das nicht ausdrücklich garantiert ist, sinkt der Zuspruch.
Zu Lebzeiten meines Vaters und in meiner Jugend wurden Filme noch als Angebot wahrgenommen, sich geistig mit etwas auseinanderzusetzen.
Um dem einen Ort zu geben, haben wir die Reihe »Philosophisches Kino (Filosofie)« ins Leben gerufen und einen Philosophen engagiert, der 40 km anreist, zum Film referiert und anschließend mit uns diskutiert.
Zum Abschluss ein dazu passendes Schmankerl: Im Dezember 2018 sah ich auf dem Bundeskongress des BkF-Treffens einen 16-mm-Film. Ich habe damals sofort angeboten, dass wir uns an der Digitalisierung beteiligen, weil ich ihn 2020 zu unserem 25-jährigen Jubiläum zeigen wollte. Er ist so in der Machart der 16-mm-Filme, wie sie früher im Schulunterricht gängig waren: Anfang – Kurzfilm von Klaus Partsch.
Zur Person: Stefan Eichardt wurde 1958 in Nienburg/Weser geboren. Sein Vater betrieb in Nienburg einen Filmclub, der am Sonntagvormittag Filme im gewerblichen Kino Filmeck (seit 2022 Filmpalast) zeigte. Sein erstes und zugleich prägendes Kinoerlebnis war Die Nibelungen mit Uwe Beyer aus dem Jahr 1967. Sein Vater erklärte ihm in der Loge des Kinos, dass Hagen von
Tronje kein böser Mensch sei, sondern seiner Pflicht nachkäme und loyal sei.
Als immer mehr Haushalte einen Fernseher besaßen, war damit zugleich das Ende des Filmclubs besiegelt. Eichardts Vater hatte seit 1957 die »Filmkritik« abonniert und in eigens dafür hergestellte rote Schuber abgeheftet und im Regal aneinandergereiht. Die Kritiken und Fotos begleiteten Eichardt
eine ganze Jugend und darüber hinaus.
Als Eichhardt nach Celle zog und sich per Zufall die Möglichkeit eröffnete, einen Kinoverein zu gründen, tat er das auch, um sich endlich vom Filmverleih »Die Lupe« in Göttingen die Filme leihen und sehen zu können, die ihn – wie Letztes Jahr in Marienbad – ein Leben lang über durch die »Filmkritik« begleitet hatten, die er
aber noch nicht gesehen hatte.
Und ein weiterer Traum erfüllte sich: Da Eichardt in der Welt der bürgerlichen Romane groß geworden war und ihn die gesellschaftliche Einrichtung eines Jour fixe stets fasziniert hatte, ließ sich diese Idee mit der Gründung eines Kinos als öffentlichem Raum zu festen Zeiten und einer zeitgerechten Form spielerisch in die Gegenwart retten.