Cineastische Abrechnungen mit der Kolonialmacht Russland |
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Eröffnungsabend im Theater Cottbus | ||
(Foto: FilmFestival Cottbus) |
Es sind tatsächlich dreitausend Einzelteile, in die Bühnenarbeiter eines Berliner Theaters das baufällige Haus einer ungarischen Roma-Siedlung zerlegen und in einen Lastwagen packen. Anschließend wird es als authentische Kulisse dem staunenden Hauptstadtpublikum dargeboten, um dann erneut demontiert und wieder zurück nach Ungarn gebracht zu werden. Und was ändert sich dadurch für die diskriminierte Minderheit vor Ort? Natürlich nichts. Ihre armselige Behausung diente nur als hippes Reenactment, um die hiesigen Feuilletons und den blasierten Kulturapparat zu delektieren.
Der ungarische Regisseur Ádám Czászi bedient sich in seinem essayistischen Film Three Thousand Numbered Pieces geschickt der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit, um den westeuropäischen Kulturbetrieb aufs Korn zu nehmen: Armut und Elend werden zu »woken« Accessoires »gebranded«. Ob er sie den Geruch von Dreck und Rauch riechen könnten, fragt der deutsche Intendant (Wieland Speck) begeistert die Umstehenden, als das gräuliche Steinhaus mit lila Farbresten endlich auf der Bühne steht: Das sei ohne Parallele in der deutschen Theatergeschichte. Währenddessen widmet sich der ungarische, als »weiß« bezeichnete Regisseur (gespielt von dem Roma Kristóf Horváth) hingebungsvoll der Pflege seines Bartes. Er hat verschiedene Roma-Laienschauspielerinnen und -Schauspieler professionell dazu angeleitet, ihre jeweilige Lebensgeschichte vorzutragen. Diese wimmeln voller Kriminal-Klischees, von Schmuggel über Vergewaltigung und Zwangsprostitution bis hin zur Züchtigung der eigenen Kinder. Doch was ist wahr und was erlogen, wer ist hier wirklich wer?
Spätestens als ein Cross-Gender-Ballett der ugandischen Armee mit glitzerndem Kopfschmuck auftritt, während Gräueltaten der sogenannten Kindersoldaten an die Wand projiziert werden, gibt sich Ádám Czászi als radikaler Anhänger von Bertolt Brechts Verfremdungstheorie zu erkennen. Sein Film hat einen realen Hintergrund, denn vor vier Jahren wurde er tatsächlich ans Deutsche Theater nach Berlin eingeladen: mit einem in Ungarn sehr erfolgreichen Stück und eben jener Roma-Theatergruppe aus dem Film. Rückblickend spricht er von einem »Armutsporno«, der in Berlin sehr gut angekommen sei, da auch Linke beziehungsweise Woke ihre Vorurteile pflegten. Fünf Jahre habe er warten müssen, um diesen Film realisieren zu können, erzählte Császi beim 33. FilmFestival Cottbus. Zuvor war er mit seinem schwulen Film Sturmland bei den ungarischen Behörden in Ungnade gefallen.
Rund 150 Filmpremieren aus 40 Ländern bot das diesjährige FilmFestival Cottbus, wobei der Begriff »Osteuropa« großzügig Finnland oder die früheren Sowjetrepubliken Estland, Aserbaidschan und Kasachstan miteinschloss. Kasachstan war ein eigener Länderschwerpunkt gewidmet, in dem zum Beispiel Killer von Darezhan Omirbayev lief. Diese 1998 gedrehte Film-Noir-Perle zeigt, wie die ungewohnte kapitalistische Wirtschaftsordnung zwei Männer zum Selbstmord beziehungsweise einem Auftragsmord drängt.
Cottbus liebt sein Filmfestival, das war an allen sechs Tagen zu spüren. Die Menschen strömten in die Vorstellungen, ganz gleich, ob es um einen ebenso traurigen wie erhellenden Dokumentarfilm über die mutmaßlich zerstörten Wandmosaike in Mariupol ging (Smouldering: The Tree of Life von Nadila Mykolaienko) oder um Vlad Petris Between Revolutions, eine kunstvolle Verschränkung zweier Frauenschicksale aus Rumänien und dem Iran anno 1979. Der Bukarester Regisseur, dessen Mutter damals mit einer iranischen Kommilitonin Medizin studierte, hat in beiden Ländern Unmengen von Material gesichtet. Zu dem fiktiven Briefwechsel zwischen Bukarest und Teheran aus der Feder der Schriftstellerin Lavinia Braniște montiert er Sequenzen aus staatlichen und privaten Filmarchiven. Damit parallelisiert er auf verblüffende Weise die Instrumentalisierung von Frauen in einem atheistischen und einem radikal religiösen System. Between Revolutions lief auch beim diesjährigen Rumänischen Filmfestival in München.
Ein breiter blauer Strich auf dem Pflaster verbindet die Cottbuser Spielstätten miteinander. Auch das wunderschöne spätsezessionistische Staatstheater des Architekten Bernhard Sehring war zur Eröffnung in die offizielle Festivalfarbe Blau getaucht. Unter der gewaltigen Kuppel im ersten Stock flaniert man unter einer Dekoration aus Widderköpfen, dem Jugendstilsymbol für Frühling und Fruchtbarkeit. Nicht weit davon entfernt liegt das Kino »Weltspiegel« aus dem Jahr 1911, das erfreulicherweise wieder voll in Betrieb ist. Im Hauptsaal mit seiner beeindruckenden gewölbten Kassettendecke zog die georgische Regisseurin Nana Janelidze, die als Mitglied der Internationalen Jury angereist war, mit ihrem Drama Liza, Go On! das Publikum in ihren Bann. In der Titelrolle ist die Schriftstellerin Ekaterine Togonidze als Fernsehreporterin Liza bei ihrer rastlosen Fahrt durch Georgien zu erleben. Sie versucht, die wahren Hintergründe des blutigen Kriegs mit Abchasien von 1992/93 zu recherchieren, der auch ihr Leben verändert hat. Dabei arbeitet die Regisseurin mit animierten Szenen, um die brutalen Schilderungen aus Tagebüchern von Kriegsteilnehmern beider Seiten zu sublimieren – eine für hiesige Augen gewöhnungsbedürftige, wenn auch nachvollziehbare Methode.
Unter den zwölf Filmen des mit 25.000 Euro dotierten Hauptwettbewerbs in der Kategorie Spielfilm (identisch mit der Auswahl für die FIPRESCI-Jury) wagte neben Császis Experimentalfilm ebenso Cold as Marble von Asif Rustamov aus Aserbaidschan eine schwarzhumorige bis maliziöse Satire auf den Kulturbetrieb. Darin geht es um einen hochtalentierten Steinmetz (Gurban Ismayilov), der die Porträts von Verstorbenen in schwarze Marmorplatten hämmert, aber viel lieber Kunstmaler wäre. Er ist als Sohn eines überführten Mörders und als heimlicher Geliebter der Frau eines Oligarchen gleich zweifach benachteiligt. Rustamovs Parabel auf eine Gesellschaft, in der mit Macht und Geld vermeintlich alle Probleme gelöst werden können, beschäftigt noch lange nach dem Kinobesuch: durch die verschachtelte Erzählweise und eine originelle Kameraführung. So pflanzt etwa der durchtriebene Vater des Steinmetzes auf dem Friedhof Tomaten, obwohl das verboten ist. Nach dem Tod des Vaters verspeist der Sohn genüsslich eines der Nachtschattengewächse, was sich in der bewegten Wasseroberfläche eines Eimers spiegelt.
Neben dem National-Epos Liza, Go On! komplettierten weitere Filme den Triumph Georgiens in Cottbus: Rezo Gigineishvili erhielt den Spezialpreis für die beste Regie für sein tragikomisches Hospitalepos Patient #1. In einem Klima der Angst bemüht sich das vom Geheimdienst überwachte Personal einer Klinik, einen greisen Sowjetpotentaten am Leben zu erhalten. Bis hin zu den Unterschriftsmappen, Zimmerpflanzen und Bakelittelefonen erschafft der Regisseur mit seinem phantastischen Ensemble einen hyperrealistischen Einblick ins Innere einer Diktatur. Ohnehin war die cineastische Abrechnung der nichtrussischen Ex-Sowjetrepubliken mit ihrer einstigen Kolonialmacht ein ständiges Thema. Einen bezaubernden georgischen Nicht-Liebesfilm drehte Elene Naveriani mit Blackbird Blackbird Blackberry, der den Preis der Ökumenischen Jury erhielt. Die Hauptdarstellerin Eka Chavleishvili bekam zusätzlich den Preis für eine herausragende darstellerische Einzelleistung, so sehr überzeugte ihre Interpretation einer in sich ruhenden 48-jährigen Drogistin auf dem Lande, die widerstrebend die erste Liebe erlebt.
Ganz von ihren charismatischen Hauptdarstellerinnen geprägt waren ebenso der polnische Film Imago (Regie: Olga Chajdas) und Forever-Forever aus der Ukraine. Imago handelt von einer manisch-depressiven Sängerin, die mit acht Geschwistern in der elterlichen Plattenbauwohnung haust und vor lauter Beschäftigung mit ihrem labilen Ego nichts von der Solidarność-Bewegung mitbekommt. Neben der Post-Punk-Musik von Smolik gefielen die sepiabraune »zufällige« Bildgestaltung und Lena Góra als kettenrauchende, allzeitnervöse Verpuppungskandidatin (daher der Titel). Der Cottbuser Hauptpreis, gestiftet von der in München ansässigen Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten (GWFF), ging an die ukrainisch-niederländische Koproduktion Forever-Forever: Anna Buryachkova erzählt in den bunten Farben von Werbeclips vom ungezügelten Leben einer Teenager-Gruppe im Kyjiw der späten 90er Jahre. Als die bildhübsche Tonia (Alina Cheban) auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ex-Freund an eine neue Oberschule kommt, verdreht sie dort gleich zwei jungen Männern den Kopf – mit verheerenden Folgen. Zu erleben ist eine anarchische Szenerie, in der weder Eltern noch die Polizei auftauchen. Sie habe dem ukrainischen Kino einen Teenagerfilm schenken wollen, erklärte die Regisseurin. Ein Großteil ihres Filmteams befindet sich mittlerweile an der Front im Kampf gegen den russischen Aggressor. Forever-Forever konnte nur durch die Hilfe einer holländischen Produktionsfirma fertiggestellt werden.
Die eindrucksvolle Tonia springt im roten Badeanzug in die Fluten des Hallenbades. In Tudor Giurgius Film Libertate hingegen steht das Schwimmbad von Sibiu/Hermannstadt leer. Während der blutigen Revolution im Dezember 1989 nutzte es die rumänische Armee, um im gekachelten Becken vermeintliche »Terroristen« gefangenzuhalten. Er habe sich gegen die oberflächliche Verklärung der Revolution in den Schulbüchern wenden wollen, sagt der Regisseur, der mit seinem Tableau Vivant voller meisterlich inszenierter Massenszenen eine reale Begebenheit aufarbeitet. Angeregt durch den Film hat auch die rumänische Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wegen der Geschehnisse von Sibiu wiederaufgenommen.
Mit dem verhafteten Polizisten Viorel taucht die Zuschauerin, der Zuschauer zum Klang von Maschinengewehr-Salven in ein nicht nur akustisch verwirrendes, blutiges Revolutionsszenario ein, bei dem bald nicht mehr feststeht, wem zu trauen ist. Mit Libertate gehe Tudor Giurgiu über die Ästhetik der rumänischen Neuen Welle hinaus, befand die FIPRESCI-Jury. Für Leichtigkeit sorgte anschließend Rainer Sarnets The Invisible Fight: Ein Kung-Fu-Film, gedreht in einem verwunschenen estnischen Kloster, und damit ein weiterer, durchaus schlagender Beweis für die phantastische Vielfalt des osteuropäischen Kinos.