Eine schmerzliche Leerstelle |
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Bitterböse und schwarzhumorig: Lessons of Tolerance von Arkadiy Nepytaliu | ||
(Foto: Black Night Film Festival) |
Von Josef Schnelle
Den Großteil der Grenze zwischen Estland und Russland bildet der gewaltige Peipus-See, auf dem 1242 deutsche Kreuzritterheere in der Schlacht gegen den russischen Fürsten Alexander Newski im brechenden Eis versanken. Das ist eine der Gründungslegenden Russlands, die Sergej Eisenstein 1938 in seinem Film Alexander Newsky [Youtube] eindrucksvoll in Szene setzte. Es ist auch Estnische Geschichte und die pompöse orthodoxe Kathedrale auf dem Domberg in der Hauptstadt Tallinn ist nicht umsonst nach Alexander Newski benannt.
Russland ist heute der gefürchtete aggressive kriegslüsterne Nachbar des baltischen Estland und so fürchtet man sich ein bisschen, wenn man nach Tartu kommt, die kleine Universitätsstadt nicht weit vom Peipus-See, die 2024 europäische Kulturhauptstadt sein wird und jetzt schon neben der Hauptstadt Tallinn Spielstätte des Black-Night-Filmfestivals ist, das in den letzten 10 Jahren zum wichtigsten Film-Festival im Nordosten Europas mit A-Status geworden ist.
Dass dort auch in diesem Jahr kein russischer Film zu sehen war, hat allerdings weniger mit Ressentiments gegenüber dem Nachbarn, sondern eher mit dem fast vollständigen Verschwinden des so traditionsreichen russischen Films aus der Welt der Kinematographie zu tun, die in den letzten Jahren, vor allem seit Beginn des Ukraine-Kriegs eingetreten ist. Noch 2003 ist zum Beispiel Die Rückkehr von Andrei Swjaginzew der große Überraschungsfilm des Jahres gewesen und gewann den Goldenen Löwen von Venedig.
Filme von Swjaginzew, und ebenso zum Beispiel von Aleksandr Sokurov und Aleksey German sorgten in den letzten Jahrzehnten immer wieder zuverlässig für Gesprächsstoff. Jetzt aber fällt die Leerstelle auf, die die Abwesenheit des vorwiegend parabelhaften und symbolistischen Kinos aus Russland mit seinen poetischen-mystischen Bilderrätseln und seinem ruhigen bedächtigen Rhythmus hinterlassen hat. Es mag sein, dass diese Bildsprache des sowjetischen und russischen Kinos von der Reaktion auf Zensur und Unterdrückung bestimmt war. Das kann man besonders gut an dem 1979 größtenteils in Tallinn gedrehten Meisterwerk Stalker von Andrei Tarkowski nachvollziehen, dessen Drehorte man heute noch besichtigen kann.
Währenddessen zeigt das Filmfestival auch überraschend viele Filme, in denen sich der Untergang des Sowjetimperiums noch einmal widerspiegelt.
Besonders eindrucksvoll darunter ist Patient #1 von Rezo Gigineishvili aus Georgien, der anhand der Geschichte einer Krankenschwester, die einen todkranken Parteifunktionär begleiten soll, mit bösem Humor die auch gefährliche Absurdität totalitärer Herrschaftsinszenierung aufzeigt.
Auf alle Sektionen des Festivals verteilt, waren sieben Filme aus der Ukraine zu sehen. Am überzeugendsten darunter war Oxygen Station (»Kysneva Stantsiia«) von Ivan Tymchenko, erzählt er doch die Geschichte eines Krimtataren, der nach Sibirien und durch die gesamte Sowjetunion von Taschkent bis Moskau verschleppt wird, der »Aussiedlung« seiner Landsleute von der Krim durch Stalin im Jahr 1944 folgend. Nur die unausrottbare Heimatliebe des Dissidenten Mustafa und seine Hoffnung auf eine Rückkehr hält ihn am Leben und befeuert eine immer wiederkehrende Zauberparabel über karger Landschaft. Weswegen dieser Film nicht nur historische Tatsachen bezüglich des sowjetischen Umgangs mit der Ukraine zurechtrückt, sondern auch in der guten alten Tradition eines dissidentischen Films der alten Sowjetunion steht.
Wie zerrissen die Ukraine mit Blick auf ihre Zukunft ist, zeigt Lessons of Tolerance von Arkadiy Nepytaliuk, eine bitterböse schwarzhumorige Satire über die Annäherung an die EU. In zehn Lektionen eines fiktiven »LGBT+ – Acceptance Programms« wird hier ein amüsant-abgründiger Cocktail von Sketchen serviert, der die Mechanismen der Anpassung ebenso aufspießt wie die Widersprüche der Selbstfindung.
Schließlich beschreibt The Land where winds stood still (Zhel toqtaghan zher) von Ardak Amirkulov aus Kasachstan schonungslos und in düsteren, farblich fast zur Unkenntlichkeit ausgewaschen wirkenden Bildern und Szenen die große Hungersnot der 1930er Jahre mit all den bitteren Eigenschaften, die sie aus den Menschen herausholt. Mehr als eine Million Menschen wurden zu Opfern einer brutalen Kollektivierung in der damaligen Sowjetunion. Ein virtuoser Film, der zurecht den Preis der Reihe „Critics Pics“ erhielt.
Elementarer noch zeigen den Hintergrund all dieser filmischen Bemühungen um authentisches Erzählen zwei ungarische Filme aus der letzten Zeit. Pelikan Blue (Tintsinine) von Laszlo Csaki ist der seltene Fall eines gezeichneten Animations-Films für Erwachsene, der als unterhaltsamer Kommentar zur Übergangszeit vom angeblichen Sozialismus in einem Land wie Ungarn zur kapitalistischen Betrugsgemeinschaft funktioniert. Durch eine burleske Gaunerkomödie, die den Umstand ausnutzt, dass Bahntickets mit Durchschlagspapier manipulierbar waren und eine Gruppe junger Leute sich so Reisen quer durch Europa zum Nulltarif ermöglichte, bis ihnen das Projekt über den Kopf wuchs.
Die flache Ästhetik des Animationsbildes ermöglicht es, wie im Kinderfilm Unmögliches kraftvoll zu inszenieren und dramaturgische Verkürzungen einfach buchstäblich zu verwischen. Nur die Lüge ist wahr.
Das ist auch die Grundaussage der Gesellschaftskomödie Kalmans Day (Kalmani päev) von Szabolcs Hajdu. Darin treffen zwei Paare aus Anlass des Namenstages der Hauptfigur aufeinander und reden den üblichen Smalltalk. Doch mit dem Auftreten einer weiteren Figur stellt sich mehr heraus: Keiner hat tatsächlich darüber geredet, was wir gehört haben und so reden sie weiter, während wir verstehen, welcher Subtext von Trennung und Versagen eigentlich gemeint ist. Nur ein echter Theaterprofi wie Hauptdarsteller und Regisseur Hajdu, der in Ungarn nicht arbeiten durfte und deshalb sein Stück hunderte Male auf der Bühne präsentierte, bevor er es filmte, konnte das so schlüssig inszenieren. Herausgekommen ist ein Meisterstück vielsprechender Virtuosität, die man wohl nur lernen kann, wenn man in einer Diktatur aufgewachsen ist, in der man nie das sagen darf, was man sagen möchte und daher alles durch die Blume und indirekt sagen muss. Und wenn man diese Erfahrung zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hat.