21.12.2023

Eine schmerzliche Leerstelle

Patient #1
Bitterböse und schwarzhumorig: Lessons of Tolerance von Arkadiy Nepytaliu
(Foto: Black Night Film Festival)

Zum einstweiligen Verschwinden sowjetrussischer Filmästhetik – Eindrücke vom 27. »Black Night Filmfestival« in Tallinn und Tartu

Von Josef Schnelle

Den Großteil der Grenze zwischen Estland und Russland bildet der gewaltige Peipus-See, auf dem 1242 deutsche Kreuz­rit­ter­heere in der Schlacht gegen den russi­schen Fürsten Alexander Newski im brechenden Eis versanken. Das ist eine der Grün­dungs­le­genden Russlands, die Sergej Eisen­stein 1938 in seinem Film Alexander Newsky [Youtube] eindrucks­voll in Szene setzte. Es ist auch Estnische Geschichte und die pompöse orthodoxe Kathe­drale auf dem Domberg in der Haupt­stadt Tallinn ist nicht umsonst nach Alexander Newski benannt.

Russland ist heute der gefürch­tete aggres­sive kriegs­lüs­terne Nachbar des balti­schen Estland und so fürchtet man sich ein bisschen, wenn man nach Tartu kommt, die kleine Univer­si­täts­stadt nicht weit vom Peipus-See, die 2024 europäi­sche Kultur­haupt­stadt sein wird und jetzt schon neben der Haupt­stadt Tallinn Spielstätte des Black-Night-Film­fes­ti­vals ist, das in den letzten 10 Jahren zum wich­tigsten Film-Festival im Nordosten Europas mit A-Status geworden ist.

Dass dort auch in diesem Jahr kein russi­scher Film zu sehen war, hat aller­dings weniger mit Ressen­ti­ments gegenüber dem Nachbarn, sondern eher mit dem fast volls­tän­digen Verschwinden des so tradi­ti­ons­rei­chen russi­schen Films aus der Welt der Kine­ma­to­gra­phie zu tun, die in den letzten Jahren, vor allem seit Beginn des Ukraine-Kriegs einge­treten ist. Noch 2003 ist zum Beispiel Die Rückkehr von Andrei Swja­ginzew der große Über­ra­schungs­film des Jahres gewesen und gewann den Goldenen Löwen von Venedig.

Filme von Swja­ginzew, und ebenso zum Beispiel von Aleksandr Sokurov und Aleksey German sorgten in den letzten Jahr­zehnten immer wieder zuver­lässig für Gesprächs­stoff. Jetzt aber fällt die Leer­stelle auf, die die Abwe­sen­heit des vorwie­gend para­bel­haften und symbo­lis­ti­schen Kinos aus Russland mit seinen poeti­schen-mysti­schen Bilder­rät­seln und seinem ruhigen bedäch­tigen Rhythmus hinter­lassen hat. Es mag sein, dass diese Bild­sprache des sowje­ti­schen und russi­schen Kinos von der Reaktion auf Zensur und Unter­drü­ckung bestimmt war. Das kann man besonders gut an dem 1979 größ­ten­teils in Tallinn gedrehten Meis­ter­werk Stalker von Andrei Tarkowski nach­voll­ziehen, dessen Drehorte man heute noch besich­tigen kann.

Während­dessen zeigt das Film­fes­tival auch über­ra­schend viele Filme, in denen sich der Untergang des Sowjet­im­pe­riums noch einmal wider­spie­gelt.

Besonders eindrucks­voll darunter ist Patient #1 von Rezo Gigin­eish­vili aus Georgien, der anhand der Geschichte einer Kran­ken­schwester, die einen todkranken Partei­funk­ti­onär begleiten soll, mit bösem Humor die auch gefähr­liche Absur­dität tota­li­tärer Herr­schafts­in­sze­nie­rung aufzeigt.

Auf alle Sektionen des Festivals verteilt, waren sieben Filme aus der Ukraine zu sehen. Am über­zeu­gendsten darunter war Oxygen Station (»Kysneva Stantsiia«) von Ivan Tymchenko, erzählt er doch die Geschichte eines Krim­ta­taren, der nach Sibirien und durch die gesamte Sowjet­union von Taschkent bis Moskau verschleppt wird, der »Aussied­lung« seiner Lands­leute von der Krim durch Stalin im Jahr 1944 folgend. Nur die unaus­rott­bare Heimat­liebe des Dissi­denten Mustafa und seine Hoffnung auf eine Rückkehr hält ihn am Leben und befeuert eine immer wieder­keh­rende Zauber­pa­rabel über karger Land­schaft. Weswegen dieser Film nicht nur histo­ri­sche Tatsachen bezüglich des sowje­ti­schen Umgangs mit der Ukraine zurech­trückt, sondern auch in der guten alten Tradition eines dissi­den­ti­schen Films der alten Sowjet­union steht.

Wie zerrissen die Ukraine mit Blick auf ihre Zukunft ist, zeigt Lessons of Tolerance von Arkadiy Nepy­ta­liuk, eine bitter­böse schwarz­hu­mo­rige Satire über die Annähe­rung an die EU. In zehn Lektionen eines fiktiven »LGBT+ – Accep­tance Programms« wird hier ein amüsant-abgrün­diger Cocktail von Sketchen serviert, der die Mecha­nismen der Anpassung ebenso aufspießt wie die Wider­sprüche der Selbst­fin­dung.

Schließ­lich beschreibt The Land where winds stood still (Zhel toqtaghan zher) von Ardak Amirkulov aus Kasach­stan scho­nungslos und in düsteren, farblich fast zur Unkennt­lich­keit ausge­wa­schen wirkenden Bildern und Szenen die große Hungersnot der 1930er Jahre mit all den bitteren Eigen­schaften, die sie aus den Menschen heraus­holt. Mehr als eine Million Menschen wurden zu Opfern einer brutalen Kollek­ti­vie­rung in der damaligen Sowjet­union. Ein virtuoser Film, der zurecht den Preis der Reihe „Critics Pics“ erhielt.

Elemen­tarer noch zeigen den Hinter­grund all dieser filmi­schen Bemühungen um authen­ti­sches Erzählen zwei unga­ri­sche Filme aus der letzten Zeit. Pelikan Blue (Tints­inine) von Laszlo Csaki ist der seltene Fall eines gezeich­neten Anima­tions-Films für Erwach­sene, der als unter­halt­samer Kommentar zur Über­gangs­zeit vom angeb­li­chen Sozia­lismus in einem Land wie Ungarn zur kapi­ta­lis­ti­schen Betrugs­ge­mein­schaft funk­tio­niert. Durch eine burleske Gauner­komödie, die den Umstand ausnutzt, dass Bahn­ti­ckets mit Durch­schlags­pa­pier mani­pu­lierbar waren und eine Gruppe junger Leute sich so Reisen quer durch Europa zum Nulltarif ermög­lichte, bis ihnen das Projekt über den Kopf wuchs.

Die flache Ästhetik des Anima­ti­ons­bildes ermög­licht es, wie im Kinder­film Unmög­li­ches kraftvoll zu insze­nieren und drama­tur­gi­sche Verkür­zungen einfach buchs­täb­lich zu verwi­schen. Nur die Lüge ist wahr.

Das ist auch die Grund­aus­sage der Gesell­schafts­komödie Kalmans Day (Kalmani päev) von Szabolcs Hajdu. Darin treffen zwei Paare aus Anlass des Namens­tages der Haupt­figur aufein­ander und reden den üblichen Smalltalk. Doch mit dem Auftreten einer weiteren Figur stellt sich mehr heraus: Keiner hat tatsäch­lich darüber geredet, was wir gehört haben und so reden sie weiter, während wir verstehen, welcher Subtext von Trennung und Versagen eigent­lich gemeint ist. Nur ein echter Thea­ter­profi wie Haupt­dar­steller und Regisseur Hajdu, der in Ungarn nicht arbeiten durfte und deshalb sein Stück hunderte Male auf der Bühne präsen­tierte, bevor er es filmte, konnte das so schlüssig insze­nieren. Heraus­ge­kommen ist ein Meis­ter­s­tück viel­spre­chender Virtuo­sität, die man wohl nur lernen kann, wenn man in einer Diktatur aufge­wachsen ist, in der man nie das sagen darf, was man sagen möchte und daher alles durch die Blume und indirekt sagen muss. Und wenn man diese Erfahrung zu einer gewissen Meis­ter­schaft gebracht hat.