74. Berlinale 2024
Geht doch, Berlinale! |
||
Lektionen in Finsternis: The Zone of Interest | ||
(Foto: Leonine) |
»Der Erfolg bietet sich meist denen, die kühn handeln, nicht denen, die alles wägen und nichts wagen wollen.«
Herodot (um 485 – um 425 v. Chr.), griechischer Geschichtsschreiber
Es geht also doch! Die Berlinale hat all jene Lügen gestraft, die nach Bekanntgabe der Einladung für AfD-Vertreter zur Eröffnungsveranstaltung und zur Preisverleihung und dem Hinweis auf Protokoll und Etikette und andere Höflichkeitsrituale vergangener Zeiten behauptet hatten, sie könne das gar nicht tun, was sie dann getan hat, und deswegen dürfte man es von ihr auch nicht verlangen. Die Berlinale hat es aber von sich selber verlangt und dafür gebührt ihr Lob.
+ + +
»In den vergangenen Tagen gab es in der Kulturbranche, in den redaktionellen und sozialen Medien sowie im Team der Berlinale eine intensive Diskussion über die Einladungen von AfD-Politikern zur Eröffnung der Berlinale. Heute hat die Berlinale-Leitung entschieden, die zuvor eingeladenen fünf AfD-Politiker auszuladen.«
»Durch den aktuellen Diskurs wurde noch einmal ganz deutlich, wie sehr das Engagement für eine freie, tolerante Gesellschaft und gegen Rechtsextremismus zur DNA der Berlinale gehört. Die Berlinale engagiert sich seit Jahrzehnten für demokratische Grundwerte und gegen jede Form von Rechtsextremismus. ... In Zeiten, in denen rechtsextreme Personen in die Parlamente einziehen, will die Berlinale mit der heutigen Ausladung der AfD eine klare Position beziehen. Die Diskussion zum Umgang mit Politikern der AfD betrifft auch viele andere Organisationen und Festivals. Diese Debatte muss gesamtgesellschaftlich und gemeinsam mit allen demokratischen Parteien geführt werden.« So die Pressemitteilung.
»'Gerade auch angesichts der Enthüllungen, die es in den vergangenen Wochen zu explizit antidemokratischen Positionen und einzelnen Politikern der AfD gab, ist es für uns – als Berlinale und als Team – wichtig, unmissverständlich Stellung zu beziehen für eine offene Demokratie. Wir haben daher heute alle zuvor eingeladenen AfD-Politiker schriftlich ausgeladen und sie darüber informiert, dass sie auf der Berlinale nicht willkommen sind,' sagt das Leitungsduo der Berlinale, Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian.«
Gut, dass sie noch drauf gekommen sind.
+ + +
Die Branche, wir alle haben gepennt. Jahrelang still geduldet wurden Rechtsextremisten bei der Eröffnung der Berlinale. An ihre Einladungen kamen sie durch ein festes Kontingent für Politiker. »Protokoll«. Diese fragwürdige Praxis wurde bisher nicht in Frage gestellt. Erst ein offener Brief stellte das Vorgehen zur Debatte. Gegen die Mehrheit der Pressevertreter, die lauter gute Gründe nannten, warum es undemokratisch und »nicht machbar« sei, die AfD nicht einzuladen. Dabei ist es sogar machbar und nicht undemokratisch, dass sie seit Jahren keinen Sitz im Bundestagspräsidium bekommen, obwohl die Etikette das zuvor auch vorgesehen hatte.
+ + +
Verweise auf das »Dilemma der Einladungspolitik bei solchen Feierlichkeiten«, wie man sie gelegentlich hören konnte, sind damit obsolet. So wichtig es sein mag, die Berlinale zu schützen (Vor wem eigentlich? Vor sich selbst?), stellt sich doch die Frage, wann denn für die, die so argumentieren, der Punkt erreicht ist, an dem es Wichtigeres gibt? Gibt es diesen Punkt überhaupt? – oder reden wir nicht doch eines Tages darüber, dass man sich mit der AfD halt arrangieren muss?
+ + +
Das »Netzwerk Film und Demokratie«, das sich vor ein paar Jahren geformt hat, um ein Netzwerk gegen Rechts zu sein, das bislang vor allem ein Raum für Austausch und Information ist, nicht aber eine Gruppe, die ins Handeln kommt, und dem sehr viele, sehr unterschiedliche Film-Akteure angehören, die sich schwer auf etwas Subtantielles einigen können, dieses Netzwerk hat sich gerade noch rechtzeitig eine Stunde vor der Bekanntgabe der Berlinale-Entscheidung letzten Donnerstag mit einer lauwarmen »Stellungnahme« zu Wort gemeldet. Aber immerhin. Ob diese Haltung überzeugt, mit über drei Absätze reichenden allgemeinen Lektionen zur AfD, die ernstgenommen eine schärfere Stellungnahme erzwingen würden, das mögen die Leser selbst entscheiden – ich bin da mehr bei der Deutschlandfunk-Moderatorin Anja Reinhardt, die dreimal hintereinander mehr oder weniger fassungslos fragt: »Wen fordern Sie jetzt konkret auf?«, »Warum gibt es nicht konkrete Forderungen?«, »Warum nicht auch konkrete Forderungen?«
+ + +
Tatsächlich aber geht es erst in zweiter Linie um die Reaktionen der Branche. Was allen Erklärungen leider fehlte, war die öffentlich bekundete Solidarität mit jenen Berlinale-Mitarbeitern, die die Einladungen kritisierten, oder Branchenteilnehmern, die sich deutlich gegen Rechts positionieren.
+ + +
Am Abend der Berlin-Premiere von The Zone of Interest vor einer Woche wurde bei der anschließenden Diskussion auf das Schweigen hingewiesen, in dem sich viele von Faschisten unmittelbar bedrohte Menschen, zum Beispiel Juden, heute in Deutschland alleingelassen fühlen. Mir scheint, dass eine bestimmte Form, das Wort zu ergreifen, nur eine andere Form genau dieses Schweigens ist.
+ + +
»Der Himmel hilft niemals denen, die nicht handeln wollen.«
Sophokles (um 497 – 405 v. Chr.)