Cinema Moralia – Folge 320
Ritual und Romanze |
||
Gerade in Wiesbaden das Krimifestival gewonnen, jetzt auf der Diagonale: Bis in die Seele ist mir kalt | ||
(Foto: Diagonale 2024) |
»April ist der grausamste Monat, er zeugt /
Flieder aus dem toten Land, vermischt /
Erinnern und Verlangen, belebt /
tote Wurzeln mit Frühlingsregen./
Der Winter hielt uns warm, bedeckte /
die Erde mit Schnee, der vergessen macht, nährte /
ein wenig Leben mit trockenen Knollen. /
Der Sommer überraschte uns, er kam über den Starnberger See /
mit einem Regenschauer. Wir blieben in den Kolonnaden stehen, /
und im Sonnenschein gingen wir weiter, in den Hofgarten /
und tranken Kaffee und plauderten eine Stunde lang. /
Bin gar keine Russin, stamm' aus Litauen, echt deutsch.«
– T.S.Eliot: »The Waste Land«
April ist der grausamste Monat – Thomas Stearn Eliots großartiges Gedicht kann man immer wieder zitieren. Gerade hier, denn es ist ein Münchner Gedicht: Hofgarten; Starnberger See; als wir Kinder waren; Schatten, unter dem roten Felsen; die Beerdigung der Toten; das Schachspiel; Russen, die keine mehr sein wollen... – passt alles wie der Deckel auf den Bierkrug unter dem leuchtend blauen Münchner-Thomas-Mann-Himmel.
In den Anmerkungen zum Waste Land sagt T. S. Eliot: »Not only the title, but the plan and a good deal of the incidental symbolism of the poem were suggested by Miss Jessie L. Weston’s book on the grail legend: 'From Ritual to Romance' (Cambridge).«
Diese kurze Notiz wollen wir aufgreifen. Und das nicht, um über Ritterfilme zu schreiben oder über Malicks Knight of Cups, was man hier nun könnte.
Mythos »is simply a way of controlling, of ordering, of giving a shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history.«
+ + +
Ich habe mich immer gefragt, ob man Gedichte verfilmen kann oder Filme wie Gedichte machen? Ich glaube, es geht. Aber wie? Wir haben noch gar nicht richtig angefangen, zu denken. Wir sind Höhlenmenschen des Kinos, Vorsokratiker noch vor lange vor dem Höhlengleichnis, der ersten Filmtheorie Europas.
Europa, das ist eine weitere Frage. Denn langsam grooven wir uns ein und sprechen über Kultur und Öffentlichkeit in Europa, überhaupt über Europa und das europäische Filmemachen. Heute in zwei Wochen ist der Kongress »Zukunft Europa« beim Lichter Filmfest in Frankfurt schon eröffnet und ein Drittel ist schon rum – der Kongress ist Grund wie Anlass, sich über Europa Gedanken zu machen. Nicht nur als Ort des Films, nicht nur als kulturelle Einheit. Als Trost der Kultur. Und »Europa« ist natürlich nicht nur »EU«. Selbstverständlichkeiten...
+ + +
München leuchtet im April. Graz strahlt. artechock fährt dahin, gleich doppelt: Redaktionskollegin Dunja Bialas ist diesmal in der Jury, der Dokumentarfilmjury, und darf dort richtig fette Preise vergeben. Wir gratulieren und sind gespannt auf Ergebnisse und Erfahrung.
Und ich fahre natürlich wieder hin, als Autor und Moderator und vergebe meine Favoritenrosen in Form von Texten an die Filme, die zu mir sprechen und mit mir eine Romanze beginnen mögen.
Ansonsten Rituale: Die »Eitrige« zur Begrüßung am Platz, ein, zwei Kalaschnikow mit Herrn Seidl in der Bar vom »Erzherzog Johann«. Die Diagonale in Graz ist schöner als fast jedes deutsche Festival. Allein schon wegen der Rituale. Dahin zu fahren ist, wie nach Hause zu kommen.
+ + +
Wir werden neue Worte lernen in den nächsten Tagen. »Lenker« nicht Fahrer, »Fußgeher« nicht Fußgänger...
»Kinogeher« in der Unterzeile dieser Reihe namens »Cinema Moralia« ist übrigens auch Österreichisch. Selbstverständlich! Denn es war kein Deutscher, sondern Peter Handke, der den Roman von Walker Percy The Moviegoer übersetzt hat.
+ + +
Sprachregelungen. Eine Dozentin erzählt mir von den Bewertungen ihres Unterrichts, die gar nicht mehr auf Lerninhalt rekurrieren, sondern auf den richtigen Gebrauch der falschen Sprache. »Z Wort«, »N Wort«... April April!
Wie das wohl weitergeht. Es seien die immer gleichen Kreise, die wenigen, die das akademische Leben auch an Filmhochschulen vergiften. »Macht mal die Augen auf!« möchte die Dozentin ihren Studenten einen Ratschlag geben, der gerade zukünftigen
Filmemachern helfen könnte. Aber auch sie, keine Furchtsame, fürchtet sich vor den Bewertungen. Zuviel Lärm um Nichts, um unwichtigen Schmarrn.
»Man weiß nie, wie man gute Filme macht, aber immer wie man richtig gendert.«
Im Berufsleben werden sie es merken: Wer zu viel gendert, macht weniger Filme; wer zu viel postkolonialisiert, wird ökonomisch marginalisiert – und das ist auch gut so. Würde ich auch tun. Denn diese Leute setzen die falschen Prioritäten. Sie zeigen, dass sie das Wichtige zu wenig wichtig nehmen und das Unwichtige zu wichtig.
Warum machen Sie es denn dann? frage ich, und glaube die Antwort zu kennen: Aus Angst. »Nein«, sagt mir die Dozentin. »Weil sie es können.« Es sei schön, ein Opfer zu sein. Man stilisiere sich als Opfer und merke gar nicht, dass man selbst dabei Opfer fordert, Opfer erzeugt. »Das wollen sie hören.«
Eines Tages, davon bin ich überzeugt, werden sie es fühlen.
+ + +
In Graz laufen viele schöne österreichische Filme. Mit ebenso schönen Titeln: »Bis in die Seele ist mir kalt« hat gerade in Wiesbaden das Krimifestival gewonnen.
+ + +
Übrigens auch noch zum Begriff des Inhaltismus. Manche verwenden ihn. Sogar gern, wie ich. Andere verstehen ihn nicht oder behaupten das.
Diesmal kein österreichischer Begriff. Neulich habe ich entdeckt: 1986 bei Umberto Eco in Apokalyptiker und Integrierte. Ich werde nachschauen, wie das auf Italienisch heißt, im Text von 1964.
Aber dieser gern benutzte
Begriff hat ab heute nun die Weihen des Klassischen.
+ + +
Meine Lektüre für den diesjährigen Diagonale-Aufenthalt heißt Echtzeitalter von Tonio Schachinger. Kam auf Empfehlung anderer. Jedenfalls aber ein aktueller Roman aus Österreich. Was ich bisher angelesen habe, ist super. Graz und Echtzeitalter sind kein Widerspruch!
Schachinger ist großartig. Egal ob man ihn verfilmen kann.