Festival im Aufbruch |
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Helin Çeliks Anqa, Gewinnerin des Dokumentarfilmwettbewerbs | ||
(Foto: Diagonale | Helin Çelik) |
Von Dunja Bialas
Während früher die Diagonale in den ersten Frühlingstagen stattfand, muss für dieses Jahr festgestellt werden: Das Festival für den österreichischen Film hat den Festivalsommer eingeläutet. Gefühlt alle Besucherinnen und Besucher des fußläufigen Städtchens trugen eine Eiswaffel in der Hand – eine Grazer Spezialität, wie mir ein Kenner versicherte. Pendelte man zwischen den Kinos hin und her, war dies ein zwangsläufiger Anblick, allein: Es blieb leider keine Zeit, sich in die langen Schlangen einzureihen, der nächste Film wartete schon.
Fünf Tage ging es vom sympathischen Schubertkino im schmucken Touristenviertel zum schon leicht in die Jahre gekommenen Annenhof-Multiplex und wieder zurück. Der Annenhof liegt zwischen dem mit Regenbogen geschmückten »Feel Free«-Community-Center der Grazer Queerszene und der »Vermuteria« mit steirischem Wermut und lokalen Originalen und hält genau den Widerspruch der 300.000-Einwohner-Stadt aus. Sehr konservativ aussehende, gutbetuchte Österreicher finden in der heimatmusealen Altstadt viele Gelegenheiten, ihr Geld auszugeben, während sich auf der anderen Seite der wild dahinschnellenden und doch in ihr Bett gezähmten Mur slawisches Občutek und Straßenzüge im Bullerbü-Stil finden, wo junge Leute ein anderes Leben erproben. Hier findet auch der berühmte Steirische Herbst statt, das interdisziplinäre Festival für zeitgenössische Kunst, das überhaupt alles umzukrempeln weiß.
Gegensätze auszuhalten ist eine steirische Eigenheit, das lässt sich durchaus programmatisch für die Diagonale in ihrer Gesamtheit lesen. Als Festival für den österreichischen Film ist sie ein Schaufenster für die nationale Filmproduktion, auf deren Abschlussveranstaltung auch der grüne Vizekanzler Werner Kogler – gleichzeitig Minister für Kunst und Kultur – freundliche Worte spricht. Die Diagonale wolle heute mehr Internationalität und Diversität, betonen Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh, die mit der 27. Diagonale als Festivalleitung ihren Einstand gaben. Sie führen die Tradition ihrer Vorgänger weiter, Diskursräume zu schaffen, zum ersten Mal im Heimatsaal des Volkskundemuseums, dessen Namen sie mit einem Augenzwinkern goutieren.
Slanar und Kamalzadeh, beide frühe Siebzigerjahrgänge, hatten sich gemeinsam für die Festivalleitung beworben, sie kennen sich noch vom Studium her. Slanar hat Kunstgeschichte und Filmtheorie studiert und arbeitet als Kuratorin; Kamalzadeh wurde nach dem Studium der Theater- und Filmwissenschaft Filmkritiker beim »Standard« und Redakteur der Zeitschrift »kolik.film«. Jetzt schlagen sie für die Diagonale ein neues Kapitel auf.
Bemerkenswert ist ihr Bewusstein über den fragilen Zustand der Kultur, wenige Jahre nach der Pandemie und unter dem Einwirken politischer Kräfte durch vielgestaltige nationale und internationale Krisen. »Man sollte die Bewahrung dieses Raumes als eine Aufgabe des Allgemeinwohls bezeichnen«, mahnt Kamalzadeh in der gemeinsamen Eröffnungsrede, weil er »Widersprüche ausgetragen« lässt. Er betont das »universalistische Festivalverständnis«, das in besonderer Weise auch für ein nationales Festival gelte. So solle die Diagonale »möglichst viele Stimmen inkludieren«, Slanar und Kamalzadeh sehen hier »Wachstumspotential und Handlungsbedarf«.
In der Festival-Programmierung haben sie verstärkt auf eine breite thematische Abdeckung geachtet. Katrin Schlössers feministischer Burgenland-Heimatfilm Besuch im Bubenland befragt mit viel Feingefühl stramme Jungs nach ihrer toxischen Männlichkeit. Favoriten der großen Ruth Beckermann, mit dem die Diagonale eröffnete, ist das kollektive Portrait einer Volksschulklasse im titelgebenden Wiener Viertel und erzählt vom hohen Migrationsanteil, von der Integration und von Humanität.
Im Dokumentarfilmwettbewerb mit 19 Filmen kristallisierte sich insgesamt das Thema »Migration« als übergeordnete Klammer heraus. Die britische Journalistin Lucy Asthon hat für Caravan asylsuchende Afghanen gebeten, ihre Stationen mit Handys zu dokumentieren. In den kollektiven Bildern zeigt sich das unaufhörliche »Immerweiter« der Migrationskarawane, von Unterkunft zu Unterkunft, bis sie schließlich Fuß fassen kann. Anna Gabersciks Edelweiß experimentiert mit dem aktivistischen Format. Ihre nach Österreich gekommenen oder dort geborenen PoC-Protagonist*innen erzählen in ausführlichen Interviews vom Unbehagen in der weißen Kultur.
Vom kleinen Grenzverkehr rumänischer Intensiv-Altenpflegerinnen handelten gleich zwei Filme. 24 Stunden von Harald Friedl zeigt minutiös den Arbeitsalltag von Pflegerin Sadina. Monatelang bleiben ihr nur resolute Gespräche mit der bettlägrigen Elisabeth und FaceTime-Calls mit anderen 24-Stunden-Pflegerinnen. Eindrücklich wird die Isolation und Aufopferung der rumänischen Fachkraft deutlich. Anders Mâine Mă Duc – Tomorrow I Leave. Die Filmeditorin Maria Lisa Pichler, Akademie-Absolventin bei Thomas Heise, und Bildgestalter Lukas Schöffel, Absolvent bei Wolfgang Thaler (Marburger Kamerapreis 2009), zeigen die Wanderarbeit aus der Perspektive der rumänischen Heimat. Welche Wünsche und Hoffnungen treiben die Menschen an, ihre Heimat im saisonalen Rhythmus zu verlassen? Im Zentrum steht die Intensivpflegerin Maria in ihrem sozialen rumänischen Umfeld; nur kurze Szenen zeigen sie bei der Arbeit als Pflegerin. Beide Filme ergänzen sich – sie sollten als die »zwei Seiten der Medaille« im thematischen Double-Feature programmiert werden.
Der inkludierende Humanismus, der sich in beiden Filmen zu erkennen gibt, wird noch an anderer Stelle im Dokumentarfilmprogramm deutlich. Reiner Riedler portraitiert in Die guten Jahre seinen Freund, den Fotografen Michael Appelt – im Grunde beim Scheitern. Nach schweren gesundheitlichen Rückschlägen zieht er ins Haus seiner von Demenz bedrohten Mutter zurück, um sich um sie zu kümmern, was ihn in seine Kindheit und Jugend zurückwirft. Monika Stuhl erzählt in Mein Zimmer von einem Wohnprojekt in Perugia (Kamera: Joerg Burger), wo neurodiverse Menschen in Wohngemeinschaften unterkommen und ein selbständiges Leben führen können.
Während sich die Protagonist*innen der genannten Filme dem Blick der anderen zwangsläufig unterwerfen, sei es der distanzierten Kamera, der wissenden Regie oder auch der pointierten Montage bei Beckermann, erzählt der Gewinnerfilm des Wettbewerbs Anqa direkt aus seinen Protagonistinnen heraus. Die kurdische Künstlerin Helin Çelik taucht in die kleine Behausung dreier Frauen im hintersten Winkel einer leergefegten jordanischen Landschaft ein. Sie sind traumatisiert, nur in Bruchstücken enthüllen sie die erlittene Gewalt. Helin Çelik, und das macht ihren Film so herausragend, hält das Enigma bis fast zum Schluss in der Schwebe. Sukzessive entrollt sich zwischen der schäbigen Realität des kleinen Raums und den Erzählungen der Frauen das Trauma und Phantasma ihrer Zuflucht. Die Montage (Sara Fattahi) webt aus den lichtgedämpften Bildern und den extremen Close-ups auf die Frauen (Kamera: Raquel Fernández Núñez) eine utopische Textur, mit einem hoffnungsvollen finalen Ausweg aus dem klaustrophischen Schicksal – »Anqa« ist in der islamischen Mythologie der Phönix.
Insgesamt haben Slanar und Kamalzadeh in ihrer »ersten Schicht«, wie die sehr lohnenswerte Diagonale-Retrospektive zu 60 Jahre Gastarbeiterabkommen zwischen der Türkei und Österreich betitelt war, ihr Vorhaben an Diversität deutlich gemacht, ohne jedoch allzu offensichtlich einer Agenda zu gehorchen.
Denn auch ästhetisch zeigten die Dokumentarfilme des Wettbewerbs die große Spannbreite der dokumentarischen Kunst. Vista Mare des Regie-Paars Julia Gutweniger (Preis für die Beste Bildgestaltung) und Florian Kofler (Preis für das Beste Sound-Design) portraitiert einen Urlaubsort im Zeichen des Massentourismus. Die präzise gerahmten Tableaus haben eine lange Tradition in Österreich, mit den Filmen von Nikolaus Geyrhalter (im diesjährigen Programm war der gewohnt stilsichere Pandemie-Film Stillstand zu sehen), Bernhard Sallmann oder Gerhard Friedl, und gehören zu einer veritablen Schule des Sehens. Dazu kommt die Schule des Hörens, wenn Kofler den Sound des Adria-Gewimmels einfängt. Subtil künden das Stimmengewirr und das Brummen der Wasserskifahrer, das Klackern der Liegestühle und das wellenrauschige Meer von der kurzen Auszeit am Urlaubsort, die eine ganze Maschinerie in Gang setzt – eine der prekären Ausbeutung, wie Vista Mare unmissverständlich klarmacht. Am besten zu sehen im Double-Feature mit Sofia Exarchous schonungslosem Animal, über Animateure an einem griechischen Urlaubsort. Der Spielfilm lief im Wettbewerb außer Konkurrenz, mit Voodoo Jürgens, der den Schauspielpreis der Diagonale bekam, in einer Nebenrolle.
Das Programm der Diagonale schaffte einen großen Resonanzraum, zwischen den Filmen, mit dem Publikum, mit der Gesellschaft. So löste es auch die »Kunstfreiheit« ein, die Slanar und Kamalzadeh in ihrer Eröffnungsrede aufgerufen hatten. »Sich für die Freiheit der Kunst auszusprechen und gleichzeitig klar gegen jede Form von Rassismus und Antisemitismus zu bekennen, ist eben kein Widerspruch«, sagten sie mit Blick auf den Antisemitismus unter dem Label der Kunst- und Redefreiheit, wie jüngst bei der Berlinale geschehen, aber auch auf Angriffe von rechts – was in Österreich eine besondere Bedeutung hat durch die Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen FPÖ bis vor wenigen Jahren.
Slanar und Kamalzadeh zitierten zur Eröffnung auch Hannah Arendt aus ihren Exilschriften: »Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und damit Anfänger sind.« Das Diktum spricht vielsagend für die erste S+K-Diagonale: als Aufbruch, als neue Stimmen und neuer Entwurf, auch in der Möglichkeit, sich noch heranzutasten und Brüche und Brüchigkeiten zu wagen.
Offenlegung: Die Autorin war Mitglied der Dokumentarfilm-Jury der Diagonale ‘24.