11.04.2024

Festival im Aufbruch

Anqa
Helin Çeliks Anqa, Gewinnerin des Dokumentarfilmwettbewerbs
(Foto: Diagonale | Helin Çelik)

Die erste S+K-Diagonale von Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh schaffte einen vielstimmigen programmatischen Resonanzraum – ein Streifzug durch den Dokumentarfilmwettbewerb

Von Dunja Bialas

Während früher die Diagonale in den ersten Früh­lings­tagen stattfand, muss für dieses Jahr fest­ge­stellt werden: Das Festival für den öster­rei­chi­schen Film hat den Festi­val­sommer eingeläutet. Gefühlt alle Besu­che­rinnen und Besucher des fußläu­figen Städt­chens trugen eine Eiswaffel in der Hand – eine Grazer Spezia­lität, wie mir ein Kenner versi­cherte. Pendelte man zwischen den Kinos hin und her, war dies ein zwangs­läu­figer Anblick, allein: Es blieb leider keine Zeit, sich in die langen Schlangen einzu­reihen, der nächste Film wartete schon.

Fünf Tage ging es vom sympa­thi­schen Schu­bert­kino im schmucken Touris­ten­viertel zum schon leicht in die Jahre gekom­menen Annenhof-Multiplex und wieder zurück. Der Annenhof liegt zwischen dem mit Regen­bogen geschmückten »Feel Free«-Community-Center der Grazer Queer­szene und der »Vermut­eria« mit stei­ri­schem Wermut und lokalen Origi­nalen und hält genau den Wider­spruch der 300.000-Einwohner-Stadt aus. Sehr konser­vativ ausse­hende, gutbe­tuchte Öster­rei­cher finden in der heimat­mu­sealen Altstadt viele Gele­gen­heiten, ihr Geld auszu­geben, während sich auf der anderen Seite der wild dahin­schnel­lenden und doch in ihr Bett gezähmten Mur slawi­sches Občutek und Straßen­züge im Bullerbü-Stil finden, wo junge Leute ein anderes Leben erproben. Hier findet auch der berühmte Stei­ri­sche Herbst statt, das inter­dis­zi­pli­näre Festival für zeit­genös­si­sche Kunst, das überhaupt alles umzu­krem­peln weiß.

Inter­na­tio­na­lität, Diver­sität, Univer­sa­lismus

Gegen­sätze auszu­halten ist eine stei­ri­sche Eigenheit, das lässt sich durchaus program­ma­tisch für die Diagonale in ihrer Gesamt­heit lesen. Als Festival für den öster­rei­chi­schen Film ist sie ein Schau­fenster für die nationale Film­pro­duk­tion, auf deren Abschluss­ver­an­stal­tung auch der grüne Vize­kanzler Werner Kogler – gleich­zeitig Minister für Kunst und Kultur – freund­liche Worte spricht. Die Diagonale wolle heute mehr Inter­na­tio­na­lität und Diver­sität, betonen Claudia Slanar und Dominik Kamalz­adeh, die mit der 27. Diagonale als Festi­val­lei­tung ihren Einstand gaben. Sie führen die Tradition ihrer Vorgänger weiter, Diskurs­räume zu schaffen, zum ersten Mal im Heimat­saal des Volks­kun­de­mu­seums, dessen Namen sie mit einem Augen­zwin­kern goutieren.

Slanar und Kamalz­adeh, beide frühe Sieb­zi­ger­jahr­gänge, hatten sich gemeinsam für die Festi­val­lei­tung beworben, sie kennen sich noch vom Studium her. Slanar hat Kunst­ge­schichte und Film­theorie studiert und arbeitet als Kuratorin; Kamalz­adeh wurde nach dem Studium der Theater- und Film­wis­sen­schaft Film­kri­tiker beim »Standard« und Redakteur der Zeit­schrift »kolik.film«. Jetzt schlagen sie für die Diagonale ein neues Kapitel auf.

Bemer­kens­wert ist ihr Bewus­stein über den fragilen Zustand der Kultur, wenige Jahre nach der Pandemie und unter dem Einwirken poli­ti­scher Kräfte durch viel­ge­stal­tige nationale und inter­na­tio­nale Krisen. »Man sollte die Bewahrung dieses Raumes als eine Aufgabe des Allge­mein­wohls bezeichnen«, mahnt Kamalz­adeh in der gemein­samen Eröff­nungs­rede, weil er »Wider­sprüche ausge­tragen« lässt. Er betont das »univer­sa­lis­ti­sche Festi­val­ver­s­tändnis«, das in beson­derer Weise auch für ein natio­nales Festival gelte. So solle die Diagonale »möglichst viele Stimmen inklu­dieren«, Slanar und Kamalz­adeh sehen hier »Wachs­tums­po­ten­tial und Hand­lungs­be­darf«.

Inklu­die­render Huma­nismus

In der Festival-Program­mie­rung haben sie verstärkt auf eine breite thema­ti­sche Abdeckung geachtet. Katrin Schlös­sers femi­nis­ti­scher Burgen­land-Heimat­film Besuch im Bubenland befragt mit viel Fein­ge­fühl stramme Jungs nach ihrer toxischen Männ­lich­keit. Favoriten der großen Ruth Becker­mann, mit dem die Diagonale eröffnete, ist das kollek­tive Portrait einer Volks­schul­klasse im titel­ge­benden Wiener Viertel und erzählt vom hohen Migra­ti­ons­an­teil, von der Inte­gra­tion und von Humanität.

Im Doku­men­tar­film­wett­be­werb mit 19 Filmen kris­tal­li­sierte sich insgesamt das Thema »Migration« als über­ge­ord­nete Klammer heraus. Die britische Jour­na­listin Lucy Asthon hat für Caravan asyl­su­chende Afghanen gebeten, ihre Stationen mit Handys zu doku­men­tieren. In den kollek­tiven Bildern zeigt sich das unauf­hör­liche »Immer­weiter« der Migra­ti­ons­ka­ra­wane, von Unter­kunft zu Unter­kunft, bis sie schließ­lich Fuß fassen kann. Anna Gaber­sciks Edelweiß expe­ri­men­tiert mit dem akti­vis­ti­schen Format. Ihre nach Öster­reich gekom­menen oder dort geborenen PoC-Prot­ago­nist*innen erzählen in ausführ­li­chen Inter­views vom Unbehagen in der weißen Kultur.

Vom kleinen Grenz­ver­kehr rumä­ni­scher Intensiv-Alten­pfle­ge­rinnen handelten gleich zwei Filme. 24 Stunden von Harald Friedl zeigt minutiös den Arbeits­alltag von Pflegerin Sadina. Mona­te­lang bleiben ihr nur resolute Gespräche mit der bett­läg­rigen Elisabeth und FaceTime-Calls mit anderen 24-Stunden-Pfle­ge­rinnen. Eindrück­lich wird die Isolation und Aufop­fe­rung der rumä­ni­schen Fachkraft deutlich. Anders Mâine Mă Duc – Tomorrow I Leave. Die Filmedi­torin Maria Lisa Pichler, Akademie-Absol­ventin bei Thomas Heise, und Bild­ge­stalter Lukas Schöffel, Absolvent bei Wolfgang Thaler (Marburger Kame­ra­preis 2009), zeigen die Wander­ar­beit aus der Perspek­tive der rumä­ni­schen Heimat. Welche Wünsche und Hoff­nungen treiben die Menschen an, ihre Heimat im saiso­nalen Rhythmus zu verlassen? Im Zentrum steht die Inten­siv­pfle­gerin Maria in ihrem sozialen rumä­ni­schen Umfeld; nur kurze Szenen zeigen sie bei der Arbeit als Pflegerin. Beide Filme ergänzen sich – sie sollten als die »zwei Seiten der Medaille« im thema­ti­schen Double-Feature program­miert werden.

Der inklu­die­rende Huma­nismus, der sich in beiden Filmen zu erkennen gibt, wird noch an anderer Stelle im Doku­men­tar­film­pro­gramm deutlich. Reiner Riedler portrai­tiert in Die guten Jahre seinen Freund, den Foto­grafen Michael Appelt – im Grunde beim Scheitern. Nach schweren gesund­heit­li­chen Rück­schlägen zieht er ins Haus seiner von Demenz bedrohten Mutter zurück, um sich um sie zu kümmern, was ihn in seine Kindheit und Jugend zurück­wirft. Monika Stuhl erzählt in Mein Zimmer von einem Wohn­pro­jekt in Perugia (Kamera: Joerg Burger), wo neuro­di­verse Menschen in Wohn­ge­mein­schaften unter­kommen und ein selb­stän­diges Leben führen können.

Die große Kunst des Doku­men­ta­ri­schen

Während sich die Prot­ago­nist*innen der genannten Filme dem Blick der anderen zwangs­läufig unter­werfen, sei es der distan­zierten Kamera, der wissenden Regie oder auch der poin­tierten Montage bei Becker­mann, erzählt der Gewin­ner­film des Wett­be­werbs Anqa direkt aus seinen Prot­ago­nis­tinnen heraus. Die kurdische Künst­lerin Helin Çelik taucht in die kleine Behausung dreier Frauen im hintersten Winkel einer leer­ge­fegten jorda­ni­schen Land­schaft ein. Sie sind trau­ma­ti­siert, nur in Bruchs­tü­cken enthüllen sie die erlittene Gewalt. Helin Çelik, und das macht ihren Film so heraus­ra­gend, hält das Enigma bis fast zum Schluss in der Schwebe. Sukzes­sive entrollt sich zwischen der schäbigen Realität des kleinen Raums und den Erzäh­lungen der Frauen das Trauma und Phantasma ihrer Zuflucht. Die Montage (Sara Fattahi) webt aus den licht­ge­dämpften Bildern und den extremen Close-ups auf die Frauen (Kamera: Raquel Fernández Núñez) eine utopische Textur, mit einem hoff­nungs­vollen finalen Ausweg aus dem klaus­tro­phi­schen Schicksal – »Anqa« ist in der isla­mi­schen Mytho­logie der Phönix.

Insgesamt haben Slanar und Kamalz­adeh in ihrer »ersten Schicht«, wie die sehr lohnens­werte Diagonale-Retro­spek­tive zu 60 Jahre Gast­ar­bei­ter­ab­kommen zwischen der Türkei und Öster­reich betitelt war, ihr Vorhaben an Diver­sität deutlich gemacht, ohne jedoch allzu offen­sicht­lich einer Agenda zu gehorchen.

Denn auch ästhe­tisch zeigten die Doku­men­tar­filme des Wett­be­werbs die große Spann­breite der doku­men­ta­ri­schen Kunst. Vista Mare des Regie-Paars Julia Gutwe­niger (Preis für die Beste Bild­ge­stal­tung) und Florian Kofler (Preis für das Beste Sound-Design) portrai­tiert einen Urlaubsort im Zeichen des Massen­tou­rismus. Die präzise gerahmten Tableaus haben eine lange Tradition in Öster­reich, mit den Filmen von Nikolaus Geyr­halter (im dies­jäh­rigen Programm war der gewohnt stil­si­chere Pandemie-Film Still­stand zu sehen), Bernhard Sallmann oder Gerhard Friedl, und gehören zu einer veri­ta­blen Schule des Sehens. Dazu kommt die Schule des Hörens, wenn Kofler den Sound des Adria-Gewimmels einfängt. Subtil künden das Stim­men­ge­wirr und das Brummen der Wasser­ski­fahrer, das Klackern der Liege­stühle und das wellen­rau­schige Meer von der kurzen Auszeit am Urlaubsort, die eine ganze Maschi­nerie in Gang setzt – eine der prekären Ausbeu­tung, wie Vista Mare unmiss­ver­s­tänd­lich klarmacht. Am besten zu sehen im Double-Feature mit Sofia Exarchous scho­nungs­losem Animal, über Anima­teure an einem grie­chi­schen Urlaubsort. Der Spielfilm lief im Wett­be­werb außer Konkur­renz, mit Voodoo Jürgens, der den Schau­spiel­preis der Diagonale bekam, in einer Neben­rolle.

Reso­nanz­raum

Das Programm der Diagonale schaffte einen großen Reso­nanz­raum, zwischen den Filmen, mit dem Publikum, mit der Gesell­schaft. So löste es auch die »Kunst­frei­heit« ein, die Slanar und Kamalz­adeh in ihrer Eröff­nungs­rede aufge­rufen hatten. »Sich für die Freiheit der Kunst auszu­spre­chen und gleich­zeitig klar gegen jede Form von Rassismus und Anti­se­mi­tismus zu bekennen, ist eben kein Wider­spruch«, sagten sie mit Blick auf den Anti­se­mi­tismus unter dem Label der Kunst- und Rede­frei­heit, wie jüngst bei der Berlinale geschehen, aber auch auf Angriffe von rechts – was in Öster­reich eine besondere Bedeutung hat durch die Regie­rungs­be­tei­li­gung der rechts­po­pu­lis­ti­schen FPÖ bis vor wenigen Jahren.

Slanar und Kamalz­adeh zitierten zur Eröffnung auch Hannah Arendt aus ihren Exil­schriften: »Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und damit Anfänger sind.« Das Diktum spricht viel­sa­gend für die erste S+K-Diagonale: als Aufbruch, als neue Stimmen und neuer Entwurf, auch in der Möglich­keit, sich noch heran­zu­tasten und Brüche und Brüchig­keiten zu wagen.

Offen­le­gung: Die Autorin war Mitglied der Doku­men­tar­film-Jury der Diagonale ‘24.