25.04.2024

Tiere, Töchter und Tableaus

The Landscape and the Fury
Verlorene Dokumente: The Landscape and the Fury ist ein intensiver Dokumentarfilm, der aufs Hinsehen vertraut
(Foto: Visions du Réel · Nicole Vögele)

Das Festival »Visions du Réel« im Schweizer Nyon entfaltete die hohe Kunst des Dokumentarfilms und zeigte in einer Werkschau zu Jia Zhangke, dass Spielfilm nicht von »Fiktion« kommt

Von Dunja Bialas

Es wurde zum Festival der zwei Jahres­zeiten. »Visions du Réel« ist das Mekka des künst­le­ri­schen Doku­men­tar­films, ange­sie­delt in dem knapp 20.000 Einwohner zählenden Städtchen Nyon direkt am Genfer See. Dieser bestimmt den Rhythmus der Festi­valiers: Von der »Place du Réel«, wo sich das Festi­val­zen­trum mit dem Haupt­ki­no­saal befindet, kann man einen Blick auf den Lac Léman, wie der See von den Franco-Schwei­zern genannt wird, erhaschen. Steil geht es zu seinem Ufer hinab. Bevor man in die »Usine à Gaz« abbiegt, ein in ein Kino umfunk­tio­niertes Theater und ehemalige Gasfabrik, empfiehlt sich ein kurzer Abstecher an den See. Dort, je nach Tageszeit, je nach Witterung, zeigt sich eine andere Atmo­sphäre. Mal pastellig über­ge­hend zu den Bergen, die auf der anderen Seeseite hervor­ragen, mal grau und abweisend bei schlechtem Wetter, aber immer rätsel­haft. Am ersten Festival-Wochen­ende glitzerte der See in der Sonne, der strahlend blaue Himmel spiegelte sich im Wasser. Es wurde gebadet.

Damit war es schnell vorbei. Wie fast überall in Europa kam auch in der West­schweiz der Winter zurück. Übrig blieb jetzt nur noch der triste Anblick des zum Parkplatz degra­dierten Haupt­platzes von Nyon, wo schicke SUVs die Betucht­heit der Schweizer demons­trierten. Wenigs­tens glänzten die Motor­hauben. Dank des schlechten Wetters aber konnte das Festival wie schon im Rekord­jahr 2023 mit einem Besu­cher­zu­wachs von 16 Prozent »erneut hohes Publi­kums­auf­kommen« vermelden, was der Erfahrung von sehr vollen Sälen zu jeder Tageszeit entspricht. Viele der Kino­be­su­cher kamen auch tatsäch­lich aus Nyon und der berühmten Umgebung – Jean-Marie Straub und Jean-Luc Godard lebten in dem benach­barten Ort Rolle.

Das 1969 gegrün­dete Doku­men­tar­film­fes­tival hat neben dem nieder­län­di­schen IDFA inter­na­tional höchste Relevanz. Beste­chend sind die vielen Welt­pre­mieren und das trotzdem sorg­fältig kura­tierte Programm, das eine große Sach­kenntnis und zugleich viel Offenheit ausweist.
Nicht von ungefähr »Visions du Réel« genannt, zeigt das Festival »Ansichten des Realen«, aber auch »Visionen« und Inter­pre­ta­tionen, also essay­is­ti­sche Über­höhungen oder Tief­en­er­kun­dungen der stoff­li­chen Realität: der Grund­ein­heit des Doku­men­ta­ri­schen.

Jia Zhangke: Poesie des Doku­men­ta­ri­schen

24 City
(Foto: Visions du Réel | Jia Zhangke)

Dazu ist auch der Spielfilm zu rechnen, wenn er wie der dies­jäh­rige Ehrengast Jia Zhangke bei aller Poesie immer vor allem die Wirk­lich­keit betrachtet und fließende Übergänge zwischen den sonst oft streng getrennten Film­sparten findet. Denn Spielfilm heißt ja noch lange nicht »fiktio­naler Film«. Das neue Werk des chine­si­schen Regis­seurs, Caught by the Tides, wird in wenigen Wochen im Wett­be­werb von Cannes urauf­ge­führt. Die bislang bekannte Synopse verspricht eine Liebes­ge­schichte in den 2000er-Jahren, in der Boom-Zeit und dem turbo­ka­pi­ta­lis­ti­schen Aufbruch Chinas, und gliedert sich damit offen­sicht­lich in Jias Gesamt­werk ein.

Fest­zu­stellen ist in den in Nyon in einer Werkschau gezeigten Spiel- und Doku­men­tar­filmen: Jias Filme enthalten eine grund­sätz­liche Melo­dra­matik, über die sich eine zarte Melan­cholie legt. Geerdet wird die über­höhende filmische Poetik durch die doku­men­ta­ri­schen Aufnahmen der Massen von Wander­ar­bei­tern, von Arbeits­welten der Nähe­rinnen, der Müdigkeit der jungen Menschen, die sich Schlafräume teilen und noch versuchen, an ihren Träumen fest­zu­halten.

Bei dem selten zu sehenden 24 City (2008) geht es um eine Waffen­fa­brik in Chengdu (Provinz Sichuan) in der Rückschau der vielen Frauen und Männer, die dort gear­beitet haben. Doku­men­tiert wird der Appell zum Fabrik-Jubiläum, ein voll­ge­füllter Saal gleich­ge­tak­teter Menschen. Andere Szenen zeigen die schwere Arbeit an den Schmel­zöfen, das Hantieren mit dem rotglühenden Material, das Bedienen der Maschinen. Eine Frau in Rente sagt, dass sie jetzt als Näherin arbeitet. Ein Student erzählt von seinem einzigen Arbeitstag in der Fabrik, und wie ihn die Eintö­nig­keit der Arbeit fast umge­bracht hätte. Und dann auch dies: Arbeiter und Arbei­te­rinnen verlassen die Fabrik – und wieder­holen die kine­ma­to­gra­phi­sche Urszene.

Jia Zhangke bringt die Menschen zum melan­cho­li­schen, teils bitteren Nach­denken. Zwischen die Zeugen­be­richte setzt er poetische Titel und schwarze Schrift­ta­feln, mit Gedichten von Yates, oft pulsieren moderne Beats als Inbegriff einer vergeb­li­chen Jugend über den Bildern, setzen sich neben die tradi­tio­nellen Erbau­ungs­me­lo­dien des alten China. Inmitten einer zarten Poetik findet Jia zu einer unge­schönten Wirk­lich­keits­dar­stel­lung. Am Schluss fällt das Firmen­schild der Fabrik, ein Apartment-Komplex entsteht. Das Ende der Arbei­ter­schaft von Chengdu ist gekommen.

Tiere sehen dich an

Happy Hippos and Sad Peacocks
(Foto: Visions du Réel | Happy Hippos and Sad Peacocks)

Grenz­ver­wi­schung zwischen dem Imaginären und dem Doku­men­ta­ri­schen gab es im Wett­be­werb der kurzen und mittel­langen Doku­men­tar­filme. Unter anderem waren hier unge­wöhn­liche »Tierfilme« zu sehen. So sollte das Nilpferd spätes­tens seit dem furiosen Berlinale-Wett­be­werbs­bei­trag Pepe von Nelson Carlos De Los Santos Arias, der den Silbernen Bären für die Beste Regie erhielt, allen Cineasten nicht nur als sprach­be­gabtes Tier bekannt sein, sondern auch als Symbol einer kompli­zierten Kolo­ni­al­ge­schichte.

Ähnlich der Halb­stünder About Happy Hippos and Sad Peacocks. Der Berliner Johannes Förster und der Kolum­bianer Elkin Calderón Guevara spüren in ihrer Tierfabel dem kolo­nialen Hinter­grund pracht­voller Pfauen auf einer Spandauer Insel und dem Auftau­chen von Nilpferden in Kolumbien auf den Spuren der Novara-Expe­di­tion nach. Die Tiere können selbst­ver­s­tänd­lich sprechen, wie es sich für eine Fabel gehört. Bild­ge­waltig zollt der Film Tier­do­ku­men­ta­tionen Tribut, hebt aber die Tiere in den Mittel­punkt und macht sie zu Subjekten ihrer eigenen Erzäh­lungen. Die Anwe­sen­heit, die Wesenheit der jeweils exoti­schen Spezies wird hier in deko­lo­nia­li­sie­render Absicht dekon­stru­iert. Und wie jede Fabel enthält auch Happy Hippos eine nach­denk­lich stimmende Moral.

The Docu­men­tary Journey of Madame Anita Conti der Französin Louise Hémon zeichnet mittels des spek­ta­kulären farbigen 16mm-Archiv­ma­te­rials, das die Ozea­no­gra­phin Anita Conti im Jahr 1953 filmte, die schwere Arbeit von Hoch­see­fi­schern auf offener See nach. Das Tier, der Fisch, ist hier freilich nur Objekt der Begierde und kapi­ta­lis­ti­sche Beute. Tonnen­schwere Netze werden von den Männern aus dem Meer gehievt, die Tiere vor Ort getötet und konser­viert, eine riesige Fabrik auf freiem Gewässer, die nichts so sehr fürchtet wie das andere Schiff. Möge der Sturm noch so heftig wüten.

Essay­is­tisch zeichnet die Finnin Nina Forsman die Geschichte vom Huhn und dem Ei nach. Ja, was war wohl als erstes da? Mit einem latei­ni­schen Titel versehen, versam­melt De gallo qui ovavit unglaub­li­ches und oft sehr vergnüg­li­ches Archiv­ma­te­rial aus Lehr­filmen und Kurio­si­täten, ausgehend vom titel­ge­benden eier­le­genden Hahn aus dem 15. Jahr­hun­dert, der als erster bekannter Herm­aphrodit Eingang in die Kultur­ge­schichte fand. Nicht daraus, aber zum Hahn insgesamt, haben sich über die Jahr­hun­derte bizarre Kulte geformt, Hennen­rennen, Hahnen­kämpfe, Tier­schauen und anderes (und enthält dadurch natürlich eine starke Kritik an der anthro­po­zen­tri­schen Indienst­nahme der Tiere). Bisweilen glaubt man fast, es mit einer Mocku­men­tary zu tun zu haben – but all is true, um es mit Balzac zu sagen.

Samira El Mouzghi­bati: Fami­li­en­por­trait

Les Miennes
(Foto: Visions du Réel | Les Miennes)

Bei den langen Doku­men­tar­filmen im Wett­be­werb herrschte nicht nur mehr Formen­strenge, die program­mierten Filme waren auch ernster. Les Miennes der Belgierin Samira El Mouzghi­bati, ausge­zeichnet mit dem Fipresci-Preis der inter­na­tio­nalen Film­kritik, ist ein Fami­li­en­por­trait entlang der Frauen ihrer Familie. Alles beginnt mit der arran­gierten Ehe der Eltern im marro­ka­ni­schen Rif-Gebirge im Jahr 1966. Diese zwangs­ver­hei­raten die erste Tochter, als sie erst 17 ist, man sieht in den Video­auf­nahmen die Fremdheit des frischen Paares. Später ein Auszug einer der unver­hei­ra­teten Schwes­tern aus dem Eltern­haus, dann die befrei­ende Scheidung ihrer ältesten Schwester, als sie fünfzig Jahre alt wird. Die Mutter miss­bil­ligt. Kompli­ziert sind die Verwandt­schafts­ver­hält­nisse, weil all die Portrai­tierten auch irgendwie eine Mutter für die jüngste der Schwes­tern, die Regis­seurin, waren, bis sie selbst Mutter einer Tochter wird. Die verschlun­genen Pfade der Rollen­suche, entgegen des Matri­ar­chats der Über­mutter, zeigen dominante und trotzdem sehr blasse Männer, bezeugen die Tradi­ti­ons­gläu­big­keit der älteren Gene­ra­tion und erzählen vom Frei­heits­be­streben der jüngeren Frauen in Form einer reflek­tie­renden und immer wieder alle Prot­ago­nisten einbe­zie­henden Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schichte. Oft denkt man bei der Konstel­la­tion auch an Kaouther Ben Hanias Olfas Töchter. Samira El Mouzghi­bati hat für ihr Lang­film­debüt viel Material aus dem Privat­ar­chiv gesammelt, und entwirft so auch eine sehr univer­selle, histo­risch genau veran­kerte Fami­li­en­ge­schichte.

Nicole Vögele: Kine­ma­to­gra­phie der Flucht

The Landscape and the Fury
(Foto: Visions du Réel | The Landscape and the Fury)

Eine philo­so­phi­sche und höchst kine­ma­to­gra­phi­sche Ebene erreicht der mit dem Großen Preis der Jury – den Vorsitz hatte der hinaus­kom­ple­men­tierte Berlinale-Leiter Carlo Chatrian inne – ausge­zeich­nete The Landscape and the Fury. Bereits der Titel überführt Topo­gra­phie zur bedeu­tungs­ge­sät­tigten Topologie. In Bildern, Prot­ago­nisten und wortloser Abstrak­ti­ons­ebene hat die Schweizer Regis­seurin Nicole Vögele ein beein­dru­ckendes Essay über Migration und Krieg geschaffen, das sich ganz aus sich heraus entfaltet und keiner erklä­renden Voice-Over bedarf. Ein kleiner Ort in Bosnien-Herze­go­wina, in Grenznähe zu Kroatien, ist Durch­gangs­sta­tion für Frauen, Männer, Kinder, ganzer Familien auf der Flucht vor den Taliban in Afgha­ni­stan. Sie müssen ihren Weg durch die Landminen suchen, die noch vom Jugo­sla­wi­en­krieg in den Neun­zi­ger­jahren überall in der Erde stecken. Ein gefähr­li­cher Weg, der Film beginnt mitten in der Nacht, um den Grenz­be­amten zu entgehen. Werden sie aufge­griffen, wird ihnen das Geld und die Handys genommen, und sie wieder zurück­ge­schickt. Der Fluchtweg beginnt aufs Neue.

Vögele erzählt in langen pano­ma­ra­ti­schen Einstel­lungen, sujet­haften Tableaus aus Totalen und Halb­to­talen, treibt keinen Moment die Narration voran und führt nur zögerlich indi­vi­du­elle Prot­ago­nisten ein. Kein Statement, keine Erklärung, kein spre­chender Kopf und keine Musik weit und breit. Nur die körnigen Bilder der verminten Land­schaft, der auszeh­rende Fußmarsch der Flüch­tenden und die vom Jugo­sla­wi­en­krieg immer noch gespens­tisch heim­ge­suchten Bewohner. In den Bildern der Ausweg­lo­sig­keit teilt sich die Historie, in der Zusam­men­füh­rung von Land­schaft und Wahn, ganz unmit­telbar und in großer Nähe zu den univer­sell betrach­teten Menschen mit. Man kann es nicht anders sagen: Nicole Vögele hat mit The Landscape and the Fury eine traurige Sensation geschaffen.