Tiere, Töchter und Tableaus |
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Verlorene Dokumente: The Landscape and the Fury ist ein intensiver Dokumentarfilm, der aufs Hinsehen vertraut | ||
(Foto: Visions du Réel · Nicole Vögele) |
Von Dunja Bialas
Es wurde zum Festival der zwei Jahreszeiten. »Visions du Réel« ist das Mekka des künstlerischen Dokumentarfilms, angesiedelt in dem knapp 20.000 Einwohner zählenden Städtchen Nyon direkt am Genfer See. Dieser bestimmt den Rhythmus der Festivaliers: Von der »Place du Réel«, wo sich das Festivalzentrum mit dem Hauptkinosaal befindet, kann man einen Blick auf den Lac Léman, wie der See von den Franco-Schweizern genannt wird, erhaschen. Steil geht es zu seinem Ufer hinab. Bevor man in die »Usine à Gaz« abbiegt, ein in ein Kino umfunktioniertes Theater und ehemalige Gasfabrik, empfiehlt sich ein kurzer Abstecher an den See. Dort, je nach Tageszeit, je nach Witterung, zeigt sich eine andere Atmosphäre. Mal pastellig übergehend zu den Bergen, die auf der anderen Seeseite hervorragen, mal grau und abweisend bei schlechtem Wetter, aber immer rätselhaft. Am ersten Festival-Wochenende glitzerte der See in der Sonne, der strahlend blaue Himmel spiegelte sich im Wasser. Es wurde gebadet.
Damit war es schnell vorbei. Wie fast überall in Europa kam auch in der Westschweiz der Winter zurück. Übrig blieb jetzt nur noch der triste Anblick des zum Parkplatz degradierten Hauptplatzes von Nyon, wo schicke SUVs die Betuchtheit der Schweizer demonstrierten. Wenigstens glänzten die Motorhauben. Dank des schlechten Wetters aber konnte das Festival wie schon im Rekordjahr 2023 mit einem Besucherzuwachs von 16 Prozent »erneut hohes Publikumsaufkommen« vermelden, was der Erfahrung von sehr vollen Sälen zu jeder Tageszeit entspricht. Viele der Kinobesucher kamen auch tatsächlich aus Nyon und der berühmten Umgebung – Jean-Marie Straub und Jean-Luc Godard lebten in dem benachbarten Ort Rolle.
Das 1969 gegründete Dokumentarfilmfestival hat neben dem niederländischen IDFA international höchste Relevanz. Bestechend sind die vielen Weltpremieren und das trotzdem sorgfältig kuratierte Programm, das eine große Sachkenntnis und zugleich viel Offenheit ausweist.
Nicht von ungefähr »Visions du Réel« genannt, zeigt das Festival »Ansichten des Realen«, aber auch »Visionen« und Interpretationen, also essayistische Überhöhungen oder Tiefenerkundungen der
stofflichen Realität: der Grundeinheit des Dokumentarischen.
Dazu ist auch der Spielfilm zu rechnen, wenn er wie der diesjährige Ehrengast Jia Zhangke bei aller Poesie immer vor allem die Wirklichkeit betrachtet und fließende Übergänge zwischen den sonst oft streng getrennten Filmsparten findet. Denn Spielfilm heißt ja noch lange nicht »fiktionaler Film«. Das neue Werk des chinesischen Regisseurs, Caught by the Tides, wird in wenigen Wochen im Wettbewerb von Cannes uraufgeführt. Die bislang bekannte Synopse verspricht eine Liebesgeschichte in den 2000er-Jahren, in der Boom-Zeit und dem turbokapitalistischen Aufbruch Chinas, und gliedert sich damit offensichtlich in Jias Gesamtwerk ein.
Festzustellen ist in den in Nyon in einer Werkschau gezeigten Spiel- und Dokumentarfilmen: Jias Filme enthalten eine grundsätzliche Melodramatik, über die sich eine zarte Melancholie legt. Geerdet wird die überhöhende filmische Poetik durch die dokumentarischen Aufnahmen der Massen von Wanderarbeitern, von Arbeitswelten der Näherinnen, der Müdigkeit der jungen Menschen, die sich Schlafräume teilen und noch versuchen, an ihren Träumen festzuhalten.
Bei dem selten zu sehenden 24 City (2008) geht es um eine Waffenfabrik in Chengdu (Provinz Sichuan) in der Rückschau der vielen Frauen und Männer, die dort gearbeitet haben. Dokumentiert wird der Appell zum Fabrik-Jubiläum, ein vollgefüllter Saal gleichgetakteter Menschen. Andere Szenen zeigen die schwere Arbeit an den Schmelzöfen, das Hantieren mit dem rotglühenden Material, das Bedienen der Maschinen. Eine Frau in Rente sagt, dass sie jetzt als Näherin arbeitet. Ein Student erzählt von seinem einzigen Arbeitstag in der Fabrik, und wie ihn die Eintönigkeit der Arbeit fast umgebracht hätte. Und dann auch dies: Arbeiter und Arbeiterinnen verlassen die Fabrik – und wiederholen die kinematographische Urszene.
Jia Zhangke bringt die Menschen zum melancholischen, teils bitteren Nachdenken. Zwischen die Zeugenberichte setzt er poetische Titel und schwarze Schrifttafeln, mit Gedichten von Yates, oft pulsieren moderne Beats als Inbegriff einer vergeblichen Jugend über den Bildern, setzen sich neben die traditionellen Erbauungsmelodien des alten China. Inmitten einer zarten Poetik findet Jia zu einer ungeschönten Wirklichkeitsdarstellung. Am Schluss fällt das Firmenschild der Fabrik, ein Apartment-Komplex entsteht. Das Ende der Arbeiterschaft von Chengdu ist gekommen.
Grenzverwischung zwischen dem Imaginären und dem Dokumentarischen gab es im Wettbewerb der kurzen und mittellangen Dokumentarfilme. Unter anderem waren hier ungewöhnliche »Tierfilme« zu sehen. So sollte das Nilpferd spätestens seit dem furiosen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag Pepe von Nelson Carlos De Los Santos Arias, der den Silbernen Bären für die Beste Regie erhielt, allen Cineasten nicht nur als sprachbegabtes Tier bekannt sein, sondern auch als Symbol einer komplizierten Kolonialgeschichte.
Ähnlich der Halbstünder About Happy Hippos and Sad Peacocks. Der Berliner Johannes Förster und der Kolumbianer Elkin Calderón Guevara spüren in ihrer Tierfabel dem kolonialen Hintergrund prachtvoller Pfauen auf einer Spandauer Insel und dem Auftauchen von Nilpferden in Kolumbien auf den Spuren der Novara-Expedition nach. Die Tiere können selbstverständlich sprechen, wie es sich für eine Fabel gehört. Bildgewaltig zollt der Film Tierdokumentationen Tribut, hebt aber die Tiere in den Mittelpunkt und macht sie zu Subjekten ihrer eigenen Erzählungen. Die Anwesenheit, die Wesenheit der jeweils exotischen Spezies wird hier in dekolonialisierender Absicht dekonstruiert. Und wie jede Fabel enthält auch Happy Hippos eine nachdenklich stimmende Moral.
The Documentary Journey of Madame Anita Conti der Französin Louise Hémon zeichnet mittels des spektakulären farbigen 16mm-Archivmaterials, das die Ozeanographin Anita Conti im Jahr 1953 filmte, die schwere Arbeit von Hochseefischern auf offener See nach. Das Tier, der Fisch, ist hier freilich nur Objekt der Begierde und kapitalistische Beute. Tonnenschwere Netze werden von den Männern aus dem Meer gehievt, die Tiere vor Ort getötet und konserviert, eine riesige Fabrik auf freiem Gewässer, die nichts so sehr fürchtet wie das andere Schiff. Möge der Sturm noch so heftig wüten.
Essayistisch zeichnet die Finnin Nina Forsman die Geschichte vom Huhn und dem Ei nach. Ja, was war wohl als erstes da? Mit einem lateinischen Titel versehen, versammelt De gallo qui ovavit unglaubliches und oft sehr vergnügliches Archivmaterial aus Lehrfilmen und Kuriositäten, ausgehend vom titelgebenden eierlegenden Hahn aus dem 15. Jahrhundert, der als erster bekannter Hermaphrodit Eingang in die Kulturgeschichte fand. Nicht daraus, aber zum Hahn insgesamt, haben sich über die Jahrhunderte bizarre Kulte geformt, Hennenrennen, Hahnenkämpfe, Tierschauen und anderes (und enthält dadurch natürlich eine starke Kritik an der anthropozentrischen Indienstnahme der Tiere). Bisweilen glaubt man fast, es mit einer Mockumentary zu tun zu haben – but all is true, um es mit Balzac zu sagen.
Bei den langen Dokumentarfilmen im Wettbewerb herrschte nicht nur mehr Formenstrenge, die programmierten Filme waren auch ernster. Les Miennes der Belgierin Samira El Mouzghibati, ausgezeichnet mit dem Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik, ist ein Familienportrait entlang der Frauen ihrer Familie. Alles beginnt mit der arrangierten Ehe der Eltern im marrokanischen Rif-Gebirge im Jahr 1966. Diese zwangsverheiraten die erste Tochter, als sie erst 17 ist, man sieht in den Videoaufnahmen die Fremdheit des frischen Paares. Später ein Auszug einer der unverheirateten Schwestern aus dem Elternhaus, dann die befreiende Scheidung ihrer ältesten Schwester, als sie fünfzig Jahre alt wird. Die Mutter missbilligt. Kompliziert sind die Verwandtschaftsverhältnisse, weil all die Portraitierten auch irgendwie eine Mutter für die jüngste der Schwestern, die Regisseurin, waren, bis sie selbst Mutter einer Tochter wird. Die verschlungenen Pfade der Rollensuche, entgegen des Matriarchats der Übermutter, zeigen dominante und trotzdem sehr blasse Männer, bezeugen die Traditionsgläubigkeit der älteren Generation und erzählen vom Freiheitsbestreben der jüngeren Frauen in Form einer reflektierenden und immer wieder alle Protagonisten einbeziehenden Emanzipationsgeschichte. Oft denkt man bei der Konstellation auch an Kaouther Ben Hanias Olfas Töchter. Samira El Mouzghibati hat für ihr Langfilmdebüt viel Material aus dem Privatarchiv gesammelt, und entwirft so auch eine sehr universelle, historisch genau verankerte Familiengeschichte.
Eine philosophische und höchst kinematographische Ebene erreicht der mit dem Großen Preis der Jury – den Vorsitz hatte der hinauskomplementierte Berlinale-Leiter Carlo Chatrian inne – ausgezeichnete The Landscape and the Fury. Bereits der Titel überführt Topographie zur bedeutungsgesättigten Topologie. In Bildern, Protagonisten und wortloser Abstraktionsebene hat die Schweizer Regisseurin Nicole Vögele ein beeindruckendes Essay über Migration und Krieg geschaffen, das sich ganz aus sich heraus entfaltet und keiner erklärenden Voice-Over bedarf. Ein kleiner Ort in Bosnien-Herzegowina, in Grenznähe zu Kroatien, ist Durchgangsstation für Frauen, Männer, Kinder, ganzer Familien auf der Flucht vor den Taliban in Afghanistan. Sie müssen ihren Weg durch die Landminen suchen, die noch vom Jugoslawienkrieg in den Neunzigerjahren überall in der Erde stecken. Ein gefährlicher Weg, der Film beginnt mitten in der Nacht, um den Grenzbeamten zu entgehen. Werden sie aufgegriffen, wird ihnen das Geld und die Handys genommen, und sie wieder zurückgeschickt. Der Fluchtweg beginnt aufs Neue.
Vögele erzählt in langen panomaratischen Einstellungen, sujethaften Tableaus aus Totalen und Halbtotalen, treibt keinen Moment die Narration voran und führt nur zögerlich individuelle Protagonisten ein. Kein Statement, keine Erklärung, kein sprechender Kopf und keine Musik weit und breit. Nur die körnigen Bilder der verminten Landschaft, der auszehrende Fußmarsch der Flüchtenden und die vom Jugoslawienkrieg immer noch gespenstisch heimgesuchten Bewohner. In den Bildern der Ausweglosigkeit teilt sich die Historie, in der Zusammenführung von Landschaft und Wahn, ganz unmittelbar und in großer Nähe zu den universell betrachteten Menschen mit. Man kann es nicht anders sagen: Nicole Vögele hat mit The Landscape and the Fury eine traurige Sensation geschaffen.