Ein Hauch von Buñuel in Minsk |
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KIX von Dávid Mikulán und Bálint Révész hat den Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik gewonnen | ||
(Foto: goEast | Dávid Mikulán, Bálint Révész) |
Es begann vor zehn Jahren mit einer Kreidelinie auf dem Asphalt. Der Budapester Filmstudent Dávid Mikulán sah sie, als er Passanten interviewte, und folgte ihr mit Skateboard und Kamera, bis er auf die unbeaufsichtigten Jungen Sanyi und Viktor traf. Ab diesem Moment wird die Kreidelinie zum Erzählfaden nach dem Vorbild der antiken Parzen, und die wild-charmanten Brüder bestimmen mit ihren halsbrecherischen Aktionen zwischen Schabernack und Streetart den Film KIX: Etwa, wenn sie so lange mit dem Fußball gegen eine eiserne Kirchentür donnern, bis ein irritierter Geistlicher erscheint, oder mit einer wehenden ungarischen Fahne in der Hand auf dem Skateboard deklamieren, dass die Stadt allen gehört – gerade auch jenen, die wie sie zu sechst samt Großmutter auf 28 Quadratmetern wohnen. Mit ihrer Langzeitdokumentation KIX legen Dávid Mikulán und Bálint Révész ein beeindruckendes Zeugnis sozialer Sensibilität in Viktor Orbáns Saubermann-Ungarn ab. Es ist aber vor allem die mitreißende anarchische Lebensfreude der jugendlichen Protagonisten, die den Film zum cineastischen Glücksfall macht. Das Wiesbadener goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films hatte das früh erkannt und das ungewöhnliche Projekt bereits in seinem East-West Talent-Lab gefördert. Der fertige, unter anderem von arte koproduzierte Film wurde nun bei der 24. Ausgabe des Festivals mit einer lobenden Erwähnung der Hauptjury und dem FIPRESCI-Preis in der Kategorie Dokumentarfilm ausgezeichnet.
Gleich mehrere der sechzehn Filme im goEast-Hauptwettbewerb widmeten sich den Nöten pubertierender Jungen und den hilflosen bis katastrophalen Erziehungsmaßnahmen ihrer Väter. Die Mütter halten sich im patriarchalen System von Ex-Sowjetterritorien wie Kasachstan oder Irkutien im Hintergrund oder sind wie in Dmitrii Davydovs strengem, nur am bitteren Ende von einem Polarlicht in Pastelltöne getauchten Schwarzweißdrama Plague (Chuma) abwesend. Intensiv beschäftigen sich die aus den Niederlanden stammende goEast-Leiterin Heleen Gerritsen und ihr hochengagiertes Team mit der »Dekolonisierung der postsowjetischen Leinwand« (»Decolonising the (Post-)Soviet Screen«), wie der Titel eines von Gerritsen und Irina Schulzki herausgegebenen Sammelbandes (Apparatus Press) lautet. So ist hierzulande weitgehend unbemerkt in der russischen Oblast Irkutsk beziehungsweise der unabhängigen Republik Sacha seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine lokale Filmindustrie entstanden. Deren Vertreterinnen und Vertreter lehnen die Kooperation mit russischen Studios grundsätzlich ab und drehen in ihrer indigenen Sprache, was für sie eine Frage der nationalen Würde bedeutet.
Mit der Stringenz eines Westerns schildert Plague die Entfremdung des halbwüchsigen Taras von seinem allzu gutmütigen Vater Ivan. Fasziniert von dem gesetzlosen Draufgänger Vlad, schließt sich Taras diesem an und geht ihm beim Fischen und Holzhacken zur Hand – der Auftakt eines geradlinig erzählten Konflikts mit verheerendem Ausgang. Der Regisseur Dmitrii Davydov war bis vor kurzem im Hauptberuf Schuldirektor. Von den Moskauer Behörden hatte er bedauerlicherweise kein Visum erhalten, um Plague in Wiesbaden vorzustellen und den FIPRESCI-Preis in der Kategorie Spielfilm für seine »tadellose Inszenierung und den kompromisslosen Blick auf Gewalt als persönlichen Ansporn in einer von Männern dominierten Gesellschaft« entgegenzunehmen.
Der kasachische Schauspieler Askhat Kuchinchirekov illustriert in seiner zweiten Regiearbeit Bauryna Salu die gleichnamige nomadische Stammestradition, das erstgeborene Kind in die Obhut der Großmutter zu geben. Als diese stirbt, muss der zwölfjährige Yersultan, der in der Salzmine schuftet und deshalb kaum zur Schule gehen kann, in sein ihm fremd gewordenes Elternhaus zurückkehren. Neben der darstellerischen Leistung seines verzweifelten jugendlichen Helden Yersultan Yerman zieht der Film vor allem durch seine Ästhetik in den Bann, in der die karge kasachische Landschaft zur Protagonistin wird.
Großartige dicht gefüllte Tableaus nach Art der Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts bestimmen Andrei Cohns Film Holy Weed (Săptămâna Mare), der bereits im Forum der diesjährigen Berlinale lief. In seiner freien Interpretation der Novelle »Die Osterfackel« des rumänischen Nationaldichters Ion Luca Caragiale (1852-1912) erzählt Cohn ebenfalls von einem Mann, der alles richtig machen und keinesfalls mit der Dorfgemeinschaft an einem idyllischen See in der südrumänischen Region Dobrudscha anecken will. Doch der Gastwirt Leiba (Doru Brem) ist Jude und färbt mit seiner schwangeren Frau (beeindruckend: Nicoleta Lefter) im Gegensatz zur christlichen Nachbarschaft keine Ostereier ein. Solche Winzigkeiten heizen den latenten Antisemitismus im Dorf an und deuten eine stille Katastrophe voraus, beginnend mit einer ungeklärten kriminalistischen Frage: Wer hat der schwangeren, ihrem Mann intellektuell überlegenen Sura in den Bauch getreten? Am Ende des 19. Jahrhunderts siecht sie ohne adäquate medizinische Hilfe dahin. Andrei Cohns Literaturverfilmung besticht durch ihre Sorgfalt der Kadrierung und des Umgangs mit Caragiales Sprache, die er behutsam modernisiert.
Im dritten Jahr des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine verhandelte das hervorragend programmierte goEast-Festival viele schwierige, belastende und doch unausweichliche Themen. Umso begeisterter wurde von den internationalen Gästen die Wiesbadener Gastfreundschaft aufgenommen, ob beim Schiffsausflug »Rhine, Wine and Rhymez« samt Lesungen, bei einer Solidaritätsparty für die Ukraine oder Empfängen mit Wodka, sauren Gurken und örtlichem Winzersekt. Eine Garantin für Atmosphäre ist allein schon die geschwungene, ganz in Schwarz-Weiß-Gold gehaltene Innenarchitektur der Caligari-Filmbühne, deren Deckenlichter sich als Blätter tarnen.
Dort stellte der aus Belgrad angereiste Regisseur Mladen Dordević mit seiner überbordenden schwarzen Komödie Working Class Goes to Hell (Radnićka klasa ide u pakao) eine erstaunliche Verbindung zwischen dem kommunistischen Kult um den 1. Mai und dem Satanismus her. In der optisch reizvollen und prominent besetzten Schwarzweiß-Satire Citizen Saint (Mokalake Tsmindani) der georgischen Regisseurin Tinatin Kajrishvili droht die Belegschaft eines Bergwerks an einem Kumpel irre zu werden, der sich zu einem Heiligen am Kreuz versteinert hat – und plötzlich verschwindet.
Der Ukrainer Ivan Tymchenko erzählt in Oxygen Station (Kysneva Stantsiya) die Lebensgeschichte des krimtatarischen Menschenrechtsaktivisten Mustafa Dzhemilev, der von den Russen im Olympiasommer 1980 nach Sibirien verbannt wurde, als bonbonfarbene romantische Tragikomödie. Der allmächtige Staatsanwalt und persönliche Widersacher Dzhemilevs schreitet dabei als böser Zauberer durch Raum und Zeit. In einer Fabrik muss der durch einen 303-tägigen Hungerstreik geschwächte und rund um die Uhr überwachte Dissident (nicht von ungefähr denkt man an das Schicksal Alexej Nawalnys) schwere Sauerstoffflaschen abfüllen und gibt dennoch nie auf. Mustafa Dzhemilev sei Sauerstoff für die ukrainische Nation, erklärte der Regisseur.
Ist es erlaubt, über die anhaltend bedrückenden Zustände in Belarus zu lachen? In Wiesbaden war selbst das möglich, dank des blühenden Einfallsreichtums, den Andrei Kashperski in Processes entfaltet. 1995 in Brest geboren, war der Regisseur nach Ausbruch des Krieges gezwungen, nach Polen zu gehen. In seinem ebenso grellen wie bärbeißigen Episodenfilm nimmt ein tumber Milizionär drei willkürlich verhaftete Studenten in seiner Zweizimmerwohnung auf. Er bringt sie in den Stockbetten der Kinder unter und verdrischt sie routiniert im Bad, während seine Frau in ihren pinken Plüschpantoffeln zunehmend Gefallen an den Haussklaven entfaltet. Währenddessen erhalten brave Schulkinder eine Führung durch den KGB, in dem eine ganze Abteilung jede Nacht dasselbe träumt: von Regen, Blumen und der Beerdigung der sogenannten Ersten Person, nach dem diese beim kollektiven Saunagang verunglückt. Unter den Funktionären bricht Panik vor der nächsten Nacht aus. In dieser hinreißenden Szene weht ein Hauch von Buñuel durch Minsk und mit ihm die unstillbare Hoffnung auf Veränderung.
Offenlegung: Die Autorin war Mitglied der Fipresci-Jury.