09.05.2024

Ein Hauch von Buñuel in Minsk

KIX
KIX von Dávid Mikulán und Bálint Révész hat den Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik gewonnen
(Foto: goEast | Dávid Mikulán, Bálint Révész)

Das Hauptprogramm des 24. goEast-Festivals des mittel- und osteuropäischen Films lud zu Entdeckungen zwischen Budapest und Kasachstan ein

Von Katrin Hillgruber

Es begann vor zehn Jahren mit einer Krei­de­linie auf dem Asphalt. Der Buda­pester Film­stu­dent Dávid Mikulán sah sie, als er Passanten inter­viewte, und folgte ihr mit Skate­board und Kamera, bis er auf die unbe­auf­sich­tigten Jungen Sanyi und Viktor traf. Ab diesem Moment wird die Krei­de­linie zum Erzähl­faden nach dem Vorbild der antiken Parzen, und die wild-char­manten Brüder bestimmen mit ihren hals­bre­che­ri­schen Aktionen zwischen Scha­ber­nack und Streetart den Film KIX: Etwa, wenn sie so lange mit dem Fußball gegen eine eiserne Kirchentür donnern, bis ein irri­tierter Geist­li­cher erscheint, oder mit einer wehenden unga­ri­schen Fahne in der Hand auf dem Skate­board dekla­mieren, dass die Stadt allen gehört – gerade auch jenen, die wie sie zu sechst samt Groß­mutter auf 28 Quadrat­me­tern wohnen. Mit ihrer Lang­zeit­do­ku­men­ta­tion KIX legen Dávid Mikulán und Bálint Révész ein beein­dru­ckendes Zeugnis sozialer Sensi­bi­lität in Viktor Orbáns Sauber­mann-Ungarn ab. Es ist aber vor allem die mitreißende anar­chi­sche Lebens­freude der jugend­li­chen Prot­ago­nisten, die den Film zum cine­as­ti­schen Glücks­fall macht. Das Wies­ba­dener goEast-Festival des mittel- und osteu­ropäi­schen Films hatte das früh erkannt und das unge­wöhn­liche Projekt bereits in seinem East-West Talent-Lab gefördert. Der fertige, unter anderem von arte kopro­du­zierte Film wurde nun bei der 24. Ausgabe des Festivals mit einer lobenden Erwähnung der Hauptjury und dem FIPRESCI-Preis in der Kategorie Doku­men­tar­film ausge­zeichnet.

Gleich mehrere der sechzehn Filme im goEast-Haupt­wett­be­werb widmeten sich den Nöten puber­tie­render Jungen und den hilflosen bis kata­stro­phalen Erzie­hungs­maß­nahmen ihrer Väter. Die Mütter halten sich im patri­ar­chalen System von Ex-Sowjet­ter­ri­to­rien wie Kasach­stan oder Irkutien im Hinter­grund oder sind wie in Dmitrii Davydovs strengem, nur am bitteren Ende von einem Polar­licht in Pastell­töne getauchten Schwarz­weiß­drama Plague (Chuma) abwesend. Intensiv beschäf­tigen sich die aus den Nieder­landen stammende goEast-Leiterin Heleen Gerritsen und ihr hoch­enga­giertes Team mit der »Deko­lo­ni­sie­rung der post­so­wje­ti­schen Leinwand« (»Deco­lo­ni­sing the (Post-)Soviet Screen«), wie der Titel eines von Gerritsen und Irina Schulzki heraus­ge­ge­benen Sammel­bandes (Apparatus Press) lautet. So ist hier­zu­lande weit­ge­hend unbemerkt in der russi­schen Oblast Irkutsk bezie­hungs­weise der unab­hän­gigen Republik Sacha seit dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union eine lokale Film­in­dus­trie entstanden. Deren Vertre­te­rinnen und Vertreter lehnen die Koope­ra­tion mit russi­schen Studios grund­sätz­lich ab und drehen in ihrer indigenen Sprache, was für sie eine Frage der natio­nalen Würde bedeutet.

Mit der Stringenz eines Westerns schildert Plague die Entfrem­dung des halb­wüch­sigen Taras von seinem allzu gutmü­tigen Vater Ivan. Faszi­niert von dem gesetz­losen Drauf­gänger Vlad, schließt sich Taras diesem an und geht ihm beim Fischen und Holz­ha­cken zur Hand – der Auftakt eines gerad­linig erzählten Konflikts mit verhee­rendem Ausgang. Der Regisseur Dmitrii Davydov war bis vor kurzem im Haupt­beruf Schul­di­rektor. Von den Moskauer Behörden hatte er bedau­er­li­cher­weise kein Visum erhalten, um Plague in Wiesbaden vorzu­stellen und den FIPRESCI-Preis in der Kategorie Spielfilm für seine »tadellose Insze­nie­rung und den kompro­miss­losen Blick auf Gewalt als persön­li­chen Ansporn in einer von Männern domi­nierten Gesell­schaft« entge­gen­zu­nehmen.

Der kasa­chi­sche Schau­spieler Askhat Kuch­in­chi­rekov illus­triert in seiner zweiten Regie­ar­beit Bauryna Salu die gleich­na­mige noma­di­sche Stam­mes­tra­di­tion, das erst­ge­bo­rene Kind in die Obhut der Groß­mutter zu geben. Als diese stirbt, muss der zwölf­jäh­rige Yersultan, der in der Salzmine schuftet und deshalb kaum zur Schule gehen kann, in sein ihm fremd gewor­denes Eltern­haus zurück­kehren. Neben der darstel­le­ri­schen Leistung seines verzwei­felten jugend­li­chen Helden Yersultan Yerman zieht der Film vor allem durch seine Ästhetik in den Bann, in der die karge kasa­chi­sche Land­schaft zur Prot­ago­nistin wird.

Groß­ar­tige dicht gefüllte Tableaus nach Art der Land­schafts­ma­lerei des 19. Jahr­hun­derts bestimmen Andrei Cohns Film Holy Weed (Săptămâna Mare), der bereits im Forum der dies­jäh­rigen Berlinale lief. In seiner freien Inter­pre­ta­tion der Novelle »Die Oster­fa­ckel« des rumä­ni­schen Natio­nal­dich­ters Ion Luca Caragiale (1852-1912) erzählt Cohn ebenfalls von einem Mann, der alles richtig machen und keines­falls mit der Dorf­ge­mein­schaft an einem idyl­li­schen See in der südrumä­ni­schen Region Dobrud­scha anecken will. Doch der Gastwirt Leiba (Doru Brem) ist Jude und färbt mit seiner schwan­geren Frau (beein­dru­ckend: Nicoleta Lefter) im Gegensatz zur christ­li­chen Nach­bar­schaft keine Ostereier ein. Solche Winzig­keiten heizen den latenten Anti­se­mi­tismus im Dorf an und deuten eine stille Kata­strophe voraus, beginnend mit einer unge­klärten krimi­na­lis­ti­schen Frage: Wer hat der schwan­geren, ihrem Mann intel­lek­tuell über­le­genen Sura in den Bauch getreten? Am Ende des 19. Jahr­hun­derts siecht sie ohne adäquate medi­zi­ni­sche Hilfe dahin. Andrei Cohns Lite­ra­tur­ver­fil­mung besticht durch ihre Sorgfalt der Kadrie­rung und des Umgangs mit Cara­giales Sprache, die er behutsam moder­ni­siert.

Im dritten Jahr des russi­schen Angriffs­kriegs auf die Ukraine verhan­delte das hervor­ra­gend program­mierte goEast-Festival viele schwie­rige, belas­tende und doch unaus­weich­liche Themen. Umso begeis­terter wurde von den inter­na­tio­nalen Gästen die Wies­ba­dener Gast­freund­schaft aufge­nommen, ob beim Schiffs­aus­flug »Rhine, Wine and Rhymez« samt Lesungen, bei einer Soli­da­ri­täts­party für die Ukraine oder Empfängen mit Wodka, sauren Gurken und örtlichem Winzer­sekt. Eine Garantin für Atmo­sphäre ist allein schon die geschwun­gene, ganz in Schwarz-Weiß-Gold gehaltene Innen­ar­chi­tektur der Caligari-Filmbühne, deren Decken­lichter sich als Blätter tarnen.

Dort stellte der aus Belgrad ange­reiste Regisseur Mladen Dordević mit seiner über­bor­denden schwarzen Komödie Working Class Goes to Hell (Radnićka klasa ide u pakao) eine erstaun­liche Verbin­dung zwischen dem kommu­nis­ti­schen Kult um den 1. Mai und dem Sata­nismus her. In der optisch reiz­vollen und prominent besetzten Schwarz­weiß-Satire Citizen Saint (Mokalake Tsmindani) der geor­gi­schen Regis­seurin Tinatin Kajrish­vili droht die Beleg­schaft eines Bergwerks an einem Kumpel irre zu werden, der sich zu einem Heiligen am Kreuz verstei­nert hat – und plötzlich verschwindet.

Der Ukrainer Ivan Tymchenko erzählt in Oxygen Station (Kysneva Stantsiya) die Lebens­ge­schichte des krim­ta­ta­ri­schen Menschen­rechts­ak­ti­visten Mustafa Dzhemilev, der von den Russen im Olym­pia­sommer 1980 nach Sibirien verbannt wurde, als bonbon­far­bene roman­ti­sche Tragi­komödie. Der allmäch­tige Staats­an­walt und persön­liche Wider­sa­cher Dzhe­mi­levs schreitet dabei als böser Zauberer durch Raum und Zeit. In einer Fabrik muss der durch einen 303-tägigen Hunger­streik geschwächte und rund um die Uhr über­wachte Dissident (nicht von ungefähr denkt man an das Schicksal Alexej Nawalnys) schwere Sauer­stoff­fla­schen abfüllen und gibt dennoch nie auf. Mustafa Dzhemilev sei Sauer­stoff für die ukrai­ni­sche Nation, erklärte der Regisseur.

Ist es erlaubt, über die anhaltend bedrü­ckenden Zustände in Belarus zu lachen? In Wiesbaden war selbst das möglich, dank des blühenden Einfalls­reich­tums, den Andrei Kash­perski in Processes entfaltet. 1995 in Brest geboren, war der Regisseur nach Ausbruch des Krieges gezwungen, nach Polen zu gehen. In seinem ebenso grellen wie bärbeißigen Episo­den­film nimmt ein tumber Mili­zionär drei will­kür­lich verhaf­tete Studenten in seiner Zwei­zim­mer­woh­nung auf. Er bringt sie in den Stock­betten der Kinder unter und verdrischt sie routi­niert im Bad, während seine Frau in ihren pinken Plüsch­pan­tof­feln zunehmend Gefallen an den Haus­sklaven entfaltet. Während­dessen erhalten brave Schul­kinder eine Führung durch den KGB, in dem eine ganze Abteilung jede Nacht dasselbe träumt: von Regen, Blumen und der Beer­di­gung der soge­nannten Ersten Person, nach dem diese beim kollek­tiven Saunagang verun­glückt. Unter den Funk­ti­onären bricht Panik vor der nächsten Nacht aus. In dieser hinreißenden Szene weht ein Hauch von Buñuel durch Minsk und mit ihm die unstill­bare Hoffnung auf Verän­de­rung.

Offen­le­gung: Die Autorin war Mitglied der Fipresci-Jury.