Von faulen Zähnen, düsteren Kriegen und Dorfheiligen |
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Bester Film: Das Schweigen der Vernunft von Kumjana Novakova | ||
(Foto: goEast | Kumjana Novakova) |
Von Paula Ruppert
Massive Proteste in Georgien, Spekulationen über eine baldige Unterzeichnung eines Friedensvertrags zwischen Armenien und Aserbaidschan... Themen aus dem Osten Europas, die nichts mit einem aktiv ausgetragenen militärischen Konflikt zu tun haben, sind bei uns oft wenig sichtbar. Das goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden ging jedoch auch dieses Jahr wieder gegen diese Unsichtbarkeit dieser so diversen Region an und brachte die unterschiedlichsten Filme auf die Leinwand. Hier ein kleiner Einblick.
Die Produktionsländer erstreckten sich von Mittel- und Osteuropa bis nach Zentralasien. Auch die Kaukasusregion war mit mehreren Produktionen vertreten, unter anderem mit dem armenischen Dokumentarfilm 1489 von Shoghakat Vardanyan, der die Lobende Erwähnung der Jury bekam. Der Film gibt einen sehr persönlich gestalteten Einblick in das Leben der Familie der Regisseurin, nachdem ihr wehrpflichtiger Bruder im umkämpften Bergkarabach verschwindet. Suchen, Hoffen, Ungewissheit; all das kommt in diesem intimen Familienportrait zusammen und gibt so eine tiefe, fast psychologische Perspektive auf einen seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt.
Ebenso mit Krieg – konkret mit dem Bosnienkrieg – beschäftigt sich Silence of Reason von Kumjana Novakova, die in Wiesbaden mit der Goldene Lilie für den Besten Film ausgezeichnet wurde. Ihr Film beschäftigt sich mit dem systematischen Einsatz von Vergewaltigungen als Kriegswaffe – aus der Sicht der Frauen, die sie erleiden müssen. Grundlage sind Protokolle aus den Prozessen zu den Kriegsverbrechen in Jugoslawien. Genau diese geben dem Film auch seine besondere Form: Es gibt ungewöhnlich viel geschriebenen Text. Auch wenn die untermalende Musik manchmal fast etwas zu manipulierend wirkt, schafft Silence of Reason als beklemmendes dokumentarisches Werk einen niedrigschwelligen Zugang zu einem wichtigen Thema, das mehr Sichtbarkeit verdient.
Doch keineswegs alle Dokumentarfilme von goEast befassten sich mit einer Kriegsthematik. So zum Beispiel Smiling Georgia von Luka Beradze. Das Wahlversprechen 2012 von »kostenlosen Zahnprothesen für alle« kann nicht eingehalten werden; das Nachsehen haben Dorfbewohner, deren faule Zähne bereits gezogen wurden. Bis heute wurden sie nicht durch falsche Zähne ersetzt – manche nehmen es mit Humor, andere gelassen, wieder andere sind sauer auf die Regierung. Für ihre Probleme interessieren sich Politiker und Medien nur, wenn wieder Wahlen anstehen. Durch teils lustig-absurde Momente und die gekonnte Herausstellung der einzelnen Individuen in der Dorfgemeinschaft entsteht ein Film, der neben seiner Leichtigkeit auch zum Nachdenken anregt.
Ein ebenfalls etwas spezielles Dorfleben in Georgien war im Spielfilm Citizen Saint von Tinatin Kajrishvili zu finden. Die Bewohner leben vom Bergbau und holen sich vor jeder Schicht den Segen beim Dorfheiligen, einem versteinerten Bergbauarbeiter. Eines Tages jedoch verschwindet dieser von seinem Kreuz, an dem er hing – und es taucht ein Fremder auf, der doch irgendwie bekannt ausschaut. Was am Anfang noch ein gutes Wunder ist, wandelt sich zu einem angsterfüllten, denn jede und jeder hat dem Heiligen private Dinge anvertraut. Ästhetisch ist der vollständig in Schwarz-Weiß gehaltene Film sehr ansprechend, auch die Figuren überzeugen; einzig das Ende lässt einen etwas unbefriedigt zurück.
Weniger in den Bildern, aber dafür im Humor tiefschwarz ist die serbische Komödie Working Class Goes To Hell von Mladen Đorđević. Was in der serbischen Provinz passiert, wenn man den Teufel ruft und er tatsächlich kommt – oder? –, ist düster, unterhaltsam, gesellschaftskritisch und zugleich programmatisch mit einer stark inszenierten Schlussaussage. Einmal entwickelt der Film leichte Längen, die sich jedoch schnell auflösen, sodass das Publikum wieder in die teils herrlich absurden und grotesken Geschehnisse geführt wird.
Ein großes Stück dunkler Geschichte behandelt The Dmitriev Affair der niederländischen Regisseurin Jessica Gorter. Und das gleich in zweierlei Hinsicht: Einerseits auf die Diktatur Josef Stalins bezogen, andererseits auf das moderne Russland. Protagonist ist der heute inhaftierte, ehemalige Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Memorial Yuri Dmitriev, der Massengräber der sogenannten stalinistischen Säuberungen sucht. Systematisch legt der Film dar, wie Dmitrievs Arbeit zunehmend von staatlicher Seite erschwert wird, wie ein Prozess gegen ihn gestrickt wird und wie seine Familie, allen voran seine Tochter, ihn trotzdem beruflich und menschlich weiter unterstützen. Durch regelmäßige Einschübe von Reportagen aus staatsnahen Medien wird offensichtlich, wie Meinungsbildung und Geschichtsumschreibung im heutigen Russland vollzogen werden und wie die nie vollendete Aufarbeitung des Stalinismus mit den Ereignissen heute zusammenhängt. The Dmitriev Affair schafft es, diese komplexen Zusammenhänge so verständlich darzulegen, dass man sie auch ohne größeres Vorwissen nachvollziehen kann, was ihn zu einem wichtigen Film macht.
Es war unmöglich, in alle Filme hineinzuschauen; doch mit jedem neuen Aufleuchten der Leinwand öffnete sich ein neues Fenster, ein neuer Blick – und es macht Lust auf mehr.