03.10.2024
Cinema Moralia – Folge 334

»Die Hasser schreien ganz schön laut.«

Warum Israel?
Szene aus Claude Lanzmanns Pourquoi Israël (1972)
(Foto: absolut Medien)

Der 7. Oktober, jüdisches Leben und der fortdauernde Antisemitismus im deutschen Kulturbetrieb – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 334. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Du kannst sagen, Bibi Netanjahu hat recht oder unrecht. Das ist mir ehrlich gesagt egal. Aber wenn mein Sohn nicht mit einer Kippa herum­laufen kann, wenn ich ihm sagen muss, dass er seinen David­stern in der U-Bahn verste­cken soll – oder wenn meine Freunde ihre Klin­gel­schilder wechseln müssen, weil sie jüdische Nachnamen haben –, dann geht dies zu weit. Für mich ist dies keine poli­ti­sche Frage.« – Guy Katz, Orga­ni­sator von Run for their lives

»Die Deutschen haben nach dem Hamas-Angriff empa­thielos reagiert.« – Michel Friedman

»Es gibt das Problem, dass man angreifen muss, wenn man nicht sterben will, und dass man zugleich diesen Angriff nach Möglich­keit vermeiden will.«
Ohne die Armee würde Israel nicht mehr exis­tieren. – Claude Lanzmann

Allen unseren jüdischen Freunden und Lesern gratu­lieren wir zum Neujahr­fest Rosch ha-Schana, und wünschen ein schönes, besseres Neues Jahr. Shana Tova! Rosch ha-Schana, das in diesem Jahr am Abend des Mittwoch begonnen hat und bis Freitag dauert. Das Fest fällt damit in die Woche des Gedenkens an das schlimmste Massaker an Juden seit 1945.

Die Massaker vom 7. Oktober 2023 haben natürlich vor allem Israelis und Juden in aller Welt getroffen. Aber sie haben in der Folge auch Deutsch­land getroffen und verändert. Es hat die deutsche Kultur verändert und damit den deutschen Film. Es ist weiterhin unklar, wie es eigent­lich auf Dauer weiter­gehen kann – im Wissen um den latenten Anti­se­mi­tismus breiter Teile der Kultur­szene, um scho­ckie­renden Anti­ju­da­ismus und Israel-Feind­schaft in gar nicht so kleinen Kreisen unter den Machern und dem Publikum. Berlin ist ein Schwer­punkt davon, keine Frage. Es gibt in jeder anderen Stadt Deutsch­lands weniger Anti­se­mi­tismus als dort. Ausge­rechnet.
Aber es gibt Anti­se­mi­tismus auch in anderen Städten.

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»Zu sagen, dass das zurück­lie­gende Jahr uns viel abver­langt hat, wäre eine grobe Unter­trei­bung«, schreibt Charlotte Knobloch, Münch­nerin und Präsi­dentin der Israe­li­ti­schen Kultus­ge­meinde München und Ober­bayern, jetzt in der noch aktuellen, sehr beson­deren Ausgabe der Jüdischen Allge­meinen, die sich vor allem dem Rückblick auf das vergan­gene Jahr widmet, und viele Artikel zum 7. Oktober und seinen Facetten enthält.

»Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals eine Bedro­hungs­lage derart dauerhaft und intensiv auf die Schmerz­punkte der jüdischen Gemein­schaft einge­wirkt hätte«, schreibt Knobloch weiter. »An der Schwelle zum neuen Jahr hält das alte uns weiterhin fest im Griff, der 7. Oktober ist bis heute nicht zu Ende.«

Knobloch äußert auch sehr nach­voll­ziehbar ihr »wütendes Unver­s­tändnis« gegenüber dem Verhalten der Münchner Behörden: »Mit der propaläs­ti­nen­sisch genannten, faktisch aber vor allem anti-israe­li­schen Zeltstadt auf dem Professor-Huber-Platz hat sich ein promi­nenter Ort mitten in der Stadt zu einem Hotspot des Hasses auf Israel entwi­ckelt. Dass dieses 'Protest­camp' von den Betrei­bern seither wieder­holt verlän­gert wurde und die Behörden dagegen selbst dann keine Eingriffs­mög­lich­keit sahen, als dort – wie im Sommer geschehen – Israel ›Organraub‹ vorge­worfen wurde wie einst Europas Juden der Ritu­al­mord, hat mich sprachlos zurück­ge­lassen.« – und auch das ist Kultur, öffent­liche Kultur, gelebte Gesell­schaft.
Wozu all die Filme, die angeblich unsere Gedenk­kultur reprä­sen­tieren, wenn genau das hier beschrie­bene Verhalten gleich­zeitig in Deutsch­land statt­findet, ohne dass dagegen irgend­etwas unter­nommen wird?

Unser Kampf für das »Nie wieder!« und gegen Faschismus bleibt ein Lippen­be­kenntnis, wenn sich der Isla­mo­fa­schismus und Links­fa­schismus unwi­der­spro­chen in Deutsch­lands breit machen dürfen und hinter einem schrägen Vers­tändnis von »Versamm­lungs­frei­heit« verste­cken.

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Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit – damit ist nicht nur die AfD gemeint. Die aller­dings auch. Das hat der lang­jäh­rige SZ-Redakteur Heribert Prantl jetzt im Deutsch­land­funk gut heraus­ge­ar­beitet und die poli­ti­schen Insti­tu­tionen dringend ermahnt: »Wer die Grund­rechte miss­braucht, den darf der Staat bekämpfen.«
Es genüge nicht, von wehr­hafter Demo­kratie nur zu reden. Sie müsse sich dann schon auch wehren.

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»Die große Masse der Deutschen sagt nichts gegen Judenhass«, ist Guy Katz überzeugt. Katz ist Co-Orga­ni­sator einer großen Demons­tra­tion, die am Sonntag, 6. Oktober in München statt­finden soll, und die von allen demo­kra­ti­schen Parteien, von SPD, FDP, Grünen und CSU, gemeinsam getragen wird. »Es geht darum, dass sich Juden und Nicht­juden endlich zusammen gegen den Anti­se­mi­tismus ausspre­chen.« Er glaube, so Katz, »dass der Links­extre­mismus und der isla­mis­ti­sche Extre­mismus für uns Juden viel gefähr­li­cher sind.« Weil dort Anti­se­mi­tismus in der maskierten Form der Isra­el­kritik und Palästina-Soli­da­rität geradezu Mode geworden ist.

Die Mehrheit sage »gar nichts, weder für uns noch gegen uns«. Das sei das eigent­liche Problem. Das wolle man am 6. Oktober ändern. »Warum ist das so? Ich weiß es nicht. ... Ich glaube, die Deutschen trauen sich aktuell nicht zu, etwas zu sagen. Sie wollen keine Fehler machen und sagen dann lieber nichts. Ich glaube zwar nicht, dass die Mehrheit hier isra­el­feind­lich ist. Aber die Hasser schreien ganz schön laut.«

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Ob der Judenhass auch in München Berliner Formen annehme, wird Katz gefragt. Es gebe weniger Vorfälle, aber auch in München kam es zu entspre­chenden Angriffen. »Aber die Landes­re­gie­rung und die Polizei haben die Lage besser im Griff. Der Anti­se­mi­tis­mus­be­auf­tragte der Polizei arbeitet richtig hart. Es gibt einen Anti­se­mi­tis­mus­be­auf­tragten der baye­ri­schen Justiz, der ganz tolle Arbeit macht. ›Trotzdem haben wir Vorfälle an Unis. ... Mit den Uni-Präsi­denten spreche ich. Sie sagen, sie könnten nichts machen. Das ist auch bei den Profes­soren so: Die meisten sagen nichts, obwohl sie längst den Mund hätten aufmachen müssen. Es ist wie beim Rest der Bevöl­ke­rung.‹«

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Vor genau 50 Jahren starb Oskar Schindler. An ihn und seinen Nachlass erinnert jetzt das Bundes­ar­chiv. Steven Spiel­bergs 31 Jahre alter Film läuft kommende Woche (9.10., 19:30 in Darmstadt) und ist derzeit auf diversen Streaming-Platt­formen verfügbar. Es lohnt sich, wo und wie auch immer.

Weiterhin im Kino zu sehen ist auch RP Kahls Die Ermitt­lung. Zum Beispiel morgen, 3.10., in Frankfurt im origi­nalen Gerichts­ge­bäude des dortigen Auschwitz-Prozeß.
Am kommenden Mittwoch läuft im Hamburger Zeise Kino ab 18 Uhr die Komplett­fas­sung des Films. Im Anschluss spreche ich vor Ort mit dem Regisseur und der Schau­spie­lerin Barbara Philipp.

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Kino­be­treiber, die außer diesen Filmen den Mut haben, auch noch andere Filme aus Israel und »zur Lage« zu zeigen, denen empfehlen wir zum Beispiel zwei zeitlose Werke von Claude Lanzmann. Der hat sich nämlich außer der Ermordung der europäi­schen Juden in zwei Doku­men­tar­filmen auch dem Staat Israel gewidmet:

Pourquoi Israël – ohne Frage­zei­chen – von 1973, ein Lagebild 25 Jahre nach Gründung des jüdischen Staates verdient unbedingt eine Wieder­auf­füh­rung, ebenso wie Tsahal von 1994, also genau vor 30 Jahren. Darin geht es um die IDF und ihre Soldaten, und vor allem um die Frage der Wehr­haf­tig­keit von Juden.

Lanzmann sagte selbst dazu: »Daher handelt es sich bei Tsahal um die Fort­set­zung von Shoah. Im Zentrum von Tsahal steht das Problem, dass man angreifen muss, wenn man nicht sterben will, und dass man zugleich diesen Angriff nach Möglich­keit vermeiden will.
Ohne Tsahal hätte sich die Frage nach dem Frieden zwischen Israel und seinen ehema­ligen Feinden niemals gestellt: Israel würde nicht mehr exis­tieren. Dieser Film fühlt sich nicht der Tages­ak­tua­lität verpflichtet, sondern fügt sich ein in den langen Zeit­ab­lauf der Geschichte. Er trägt zum tiefen Vers­tändnis dessen bei, was von israe­li­scher Seite aus die Ereig­nisse von heute vorbe­reitet und möglich gemacht hat. Er erzählt den langen Weg Israels bis hin zur Aner­ken­nung durch sechs große Kriege hindurch und 46 Jahre perma­nenter Alarm­be­reit­schaft. Dieser lange Weg wird eines Tages viel­leicht zum Abschied von den Waffen führen mit allen damit verbun­denen Chancen, Hoffungen und Risiken.«
Claude Lanzmann

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Pünktlich zum jüdischen Neujahrs­fest ist in Berlin die Herbst­saison der hiesigen Anti­se­miten und Isra­el­hasser ange­bro­chen: Ausfälle gegen jüdische Studenten werden wieder nahezu täglich gemeldet, zur perversen Folklore der Haupt­stadt gehören auch die soge­nannten »propaläs­ti­nen­si­schen« Demons­tra­tionen. Dass es dann auch noch, wie am gestrigen Dienstag, zu Jubel und »Wider­stand« und »Allahu Akbar«-Rufen kommt, ist selbst für hiesige Verhält­nisse unall­täg­lich.

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Aber bei so etwas bleibt es nicht in Berlin. Jetzt ist der Berliner Kultur­se­nator Joe Chialo zunächst bei der Eröffnung eines Kultur­fes­ti­vals derart tätlich und verbal ange­griffen worden, dass er nur unter Poli­zei­schutz den Ort verlassen konnte. Es folgte ein Angriff auf sein Privat­haus, das mit roter Farbe und unter anderem dem Slogan »Genocide Joe Chialo« besprüht wurde.
Verant­wort­lich gemacht werden Isra­el­hasser und Anti­se­miten, die dem Senator seinen Einsatz für eine Anti­se­mi­tis­mus­klausel vorhalten.

Zu dieser weiteren Eska­la­tion erklärte der PEN:

»Inak­zep­tabel sind nicht nur diese gewalt­tä­tigen Über­griffe, inak­zep­tabel ist auch der mit blutroter Farbe an die Hauswand gesprühte Vorwurf, Chialo würde einen 'Genozid' unter­s­tützen. Im Rahmen des Bücher­fests disku­tierte der Kultur­se­nator im Juni auf einer Veran­stal­tung des PEN Berlin u.a. mit dessen Sprecher Deniz Yücel. Dieser übte dabei einmal mehr deutliche Kritik an der 'Anti­se­mi­tismus-Klausel', die Chialo Ende vorigen Jahres einge­führt und nach der Kritik von Kultur­schaf­fenden und Verfas­sungs­recht­lern wieder zurück­ge­zogen hatte. Auch gegenüber Versuchen, eine solche Klausel in verän­derter Form vorzu­legen, zeigte sich Yücel skeptisch. Der Meinungs­un­ter­schied wurde respekt­voll mit Argu­menten ausge­tragen. Fäuste und Farb­beutel sind keine Argumente – und infame Verleum­dung ist es auch nicht.
'Ich halte Joe Chialos Bestreben, effektiv gegen Anti­se­mi­tismus vorzu­gehen, für ehrenwert, wenn­gleich ich nicht immer seine Vorschläge und seine Lage­be­ur­tei­lung teile', sagte Yücel. 'Aber ich schätze seine Bereit­schaft, sich der Kritik zu stellen und im Gespräch mit Kultur­schaf­fenden nach Lösungen zu suchen.' ... Und noch mal: Wir streiten gerne mit Joe Chialo, welche Mittel bei der Bekämp­fung des Anti­se­mi­tismus ange­messen und wirkungs­voll sind und sich mit dem Grund­ge­setz, der Kunst­frei­heit und dem Ideal verein­baren lassen – und wie man in diese Diskus­sion auch die moderaten paläs­ti­nen­si­schen Stimmen einbe­ziehen kann und vermeidet, jede Kritik an der Netanjahu-Regierung unter Verdacht zu stellen.
Aber wenn Joe Chialo tätlich ange­griffen wird, wenn sogar seine Familie in Mitlei­den­schaft gezogen wird, dann gibt es nichts zu disku­tieren. Dann stehen wir an seiner Seite.«

Man wünschte sich, ähnliches mit ähnlicher Klarheit auch aus anderen Kreisen des Kultur­be­triebs zu hören.