03.02.2025

Die Geflüchteten

Perla
Ein Heimatgefühl
(Foto: IFFR | Golden Girls Filmproduktion)

Traum, Trauma, Trauer: Die Seelenzustände der Flucht. Jonathan Millets GHOST TRAIL (Harbour) und Alexandra Makarovas PERLA (Tiger Wettbewerb)

Von Dunja Bialas

Das Gespinst der Rache: »Ghost Trail«

Graublau ist die Realität in Stras­bourg, die Hamid auffängt. Er ist aus Syrien gekommen, mit dem ersten soge­nannten »Flücht­lings­strom«, es ist das Jahr 2014. Die Nach­richten machen den Umlauf, dass die Syrer nach Deutsch­land gehen sollen, dort werde man gut aufge­nommen, könne seine Familie leicht nach­kommen lassen. Auch Hamid hat den Asyl­status für Deutsch­land bereits in der Tasche. Aber er zieht seine Kapuze noch ein wenig höher, versenkt die Augen noch ein wenig tiefer in die Höhlen. Bleibt in Stras­bourg. Er ist Teil einer Unter­grund­gruppe, die Leute von Assad aufspüren, die Asyl bean­tragen wollen. Jetzt ist er auf den Spuren von Harfaz, dem Mann, der ihn im Sednaya-Gefängnis gefoltert hat.

Ghost Trail
(Foto: IFFR | Films Grand Huit)

Doch so klar ist das dann auch wieder nicht. Hamid, gespielt von Adam Bessa mit stechend-leerem Blick, den man in einer ähnlichen Rolle schon vor zwei Jahren in Lofty Nathans Harkam sehen konnte, verliert sich zunehmend in der nicht belast­baren Vorstel­lung, seinen Folterer gefunden zu haben. Flash­backs vom Gefängnis und der Flucht zemen­tieren seine Entschlos­sen­heit, die ihn wie einen Geist durch Stras­bourg wandeln lässt. Immer wieder verdeut­licht die Kamera, wie sein Blick verstellt ist. Das Foto, das er von Harfaz mit sich trägt, zeigt ihn unscharf, in der Biblio­thek, in der er ihn heimlich foto­gra­fiert, erwischt er zwischen den Bücher­re­galen nur seinen gesenkten Blick. Mehr und mehr versinkt das Bild im Dunkel der Innen­räume und in der grauen, kalten Stadt.

Jonathan Millet ist ein Quer­ein­steiger, der jahrelang mit seiner Kamera Bilder von schwer zugäng­li­chen Regionen der Welt für Daten­banken geliefert hat, darunter aus dem Iran und dem mittleren Osten. Mit seinem Prot­ago­nisten fährt er nun auch in die steinige Badia-Wüste, in der das Assad-Regime die poli­ti­schen Inhaf­tierten aussetzt, um sie loszu­werden. Sie sind die »Dead Men Walking«, von denen Giorgio Agamben sprach, als er die »Muselmane« mit den leeren Blicken in den KZs beschrieb (»Was von Auschwitz bleibt«). Sie werden ohnehin nicht überleben, sagt einer der Männer, der die Gefan­genen aussetzt. Hamid ist ein Totge­sagter, ein Zombie, der nun inmitten von Stras­bourg ange­kommen ist.

Ghost Trail wurde letztes Jahr in Cannes als Eröff­nungs­film der Semaine de la Critique urauf­ge­führt; in Rotterdam auf dem Inter­na­tio­nalen Festival läuft er in der Reihe »Harbour«, die spre­chender und passender kaum sein könnte für diesen Film über eine Flucht ohne Ankunft; in diesem denk­wür­digen Januar 2025 kommt er mit aller Brisanz auf die Leinwand.

Da erkennen wir die Stan­dard­set­tings der Attacken, die uns die Zeitungs­be­richte in den letzten Wochen einge­brannt haben: wir sehen einen Spiel­platz, auf dem Hamid wie im Spionage-Klassiker von seiner Unter­grund­gruppe Hinweise auf Unter­ge­tauchte des Assad-Regimes zuge­schoben bekommt; wir sehen einen Weih­nachts­markt, auf dem Hamid und Yara (Hala Rajab) – die einzige Person, mit der er überhaupt so etwas wie zwischen­mensch­li­chen Kontakt hat – und auch Harfaz und seine fran­zö­si­sche Freundin von süßem Honig probieren.

Der auch mit deutschen Geldern produ­zierte Ghost Trail – eine kurze Episode führt in das Land, das den Syrern relativ schnelle Ankunft garan­tiert, Merkels »Wir schaffen das« ist allge­gen­wärtig – zielt mitten in den Kern aktueller Debatten und in die poli­ti­sche Groß­wet­ter­lage. Noch den Nachhall der nieder­schmet­ternden Gescheh­nisse rund um das soge­nannte »Zustrom­be­gren­zungs­ge­setz« im Kopf, geschieht während des Sehens ein perma­nenter Reali­täts­ab­gleich. Man sieht sozusagen in den Kopf von Hamid hinein, und anerkennt: Die Realität, die er in sich trägt, ist nicht die von Stras­bourg, das sind seine tote Frau und die Tochter, deren Foto er in anhal­tender Trauer im sandigen Boden von Aleppo vergräbt. Und auch das alte Gespinst der Rache durch­quert dieser anspie­lungs­reiche Thriller. In Jonathan Millets Film hallen die Bilder des gewalt­vollen Bürger­kriegs uner­bitt­lich nach, das ist der uner­bitt­liche Zugriff der vergan­genen Gewalt auf die Gegenwart, die auch im Exil nahch­hallt.

Hinter dem Eisernen Vorhang: »Perla«

Perla
(Foto: IFFR | Golden Girls Film­pro­duk­tion)

Von einer anderen Flucht erzählt Perla, einer Flucht, die auch mit der Geschichte der Deutschen zu tun hat. Die öster­rei­chi­sche Regis­seurin Alexandra Makarová taucht ein in die Bohème im Wien der Acht­zi­ger­jahre. Perla (Rebeka Poláková) ist eine Künst­lerin, die in Öl sehr dunkle Universen schafft, die Gesichter tragen grobe Farbzüge, ihre Settings sind dunkle Wälder. »Ich halte nichts von Subti­lität«, sagt sie. Sie kommt aus der Tsche­cho­slo­wakei, ist über die grüne Grenze aus dem Eisernen Vorhang geflohen, schwanger. Ihre Gemälde, das buch­sta­biert auch der Film aus, sind Versuche der Bewäl­ti­gung einer äußerst dunklen Episode auf dieser Flucht. Die Ereig­nisse von damals sind hier, im Wien der Künstler und großen Wohnungen, auch nach vielen Jahren – ablesbar an der heran­ge­wach­senen Tochter – gegen­wärtig. Mit Josef (Simon Schwarz) beginnt sie schließ­lich ein neues Leben, heiratet ihn. Ihre Vergan­gen­heit verschweigt und über­tüncht sie wie sie ihre Haare blondiert – alles ist Abwehr, Wille, zu vergessen, alles hinter sich zu lassen. Und dann kehrt die Vergan­gen­heit mit einem Tele­fon­anruf brachial zurück – Andrej (Noel Czuczor), mit dem sie einst geflohen war, kommt aus der Haft frei.

Alexandra Makarová zeigt in ihrem zweiten Film, der in Rotterdam im Tiger Wett­be­werb für den besten Nach­wuchs­film konkur­riert, ein großes Gespür für die richtige Tonlage. Die 4:3-Bilder evozieren die Vergan­gen­heit, das sorg­fältig farb­kor­ri­gierte Bild simuliert Zelluloid. Viele Gesten der vergan­genen analogen kultu­rellen Praxis struk­tu­rieren den Alltag: Platten werden aufgelegt, Klavier wird gespielt, Farben werden gemischt. Dazwi­schen klingelt in die Stille hinein das Telefon, ein roter, alar­mis­ti­scher Apparat. Es ist nie vorbei, auch davon erzählt Makarová, die viele Themen ihrer eigenen Herkunfts­ge­schichte verar­beitet: die Mutter-Tochter-Beziehung, die Malerin ist von der Groß­mutter geliehen, der slowa­ki­sche Herkunftsort ihrer Prot­ago­nistin, die Geschichte der Flucht, auch wenn Makarová um vieles jünger war als Perla, schließ­lich: die Ehe von Perla mit der Figur von Simon Schwarz, mit dem Makarová im richtigen Leben verhei­ratet ist. »Mein ewiges Thema und ewiger Kampf mit der Mutter und dem Heimat­ge­fühl und die Frage, wo liegen meine Wurzeln und wo bin ich eigent­lich zu Hause?«, darum gehe es ihr, sagt sie im Gespräch. »Hab ich noch ein Zuhause?«, fragt Perla Josef, kurz bevor sie die Tsch­ech­slo­wakei, ihre alte Heimat, nicht mehr verlassen kann.

Die Sehnsucht nach der Heimat­erde ist überaus stark, wie in Ghost Trail. Perla gräbt bei ihrer Rückkehr mit beiden Händen in der Erde von Košice, um eine kitschige Figur, eine Art Totem, hervor­zu­holen. Sie ist zurück­ge­kommen, damit der Vater die Tochter kennen­lernen kann, auch, weil für sie etwas noch nicht abge­schlossen ist. Sie konnte sich nicht verab­schieden. Als sie ein zweites Mal klamm­heim­lich den Ort verlassen will, wird sie gestellt und in eine grausame Tradition hinein­ge­zogen: Frauen werden von den Männern gejagt, ins Wasser geschubst, bis ihnen unter Tode­s­angst die Kräfte schwinden, und der Wille. Eine Szene, die eindrück­lich symbo­li­siert, dass es nicht nur das System war, das den Freigeist von Perla einst heraus­ge­for­dert hatte.