06.02.2025

»The video-library is a hoax«

Bomba Bernal
Wie eine Fata Morgana: Bomba Bernal
(Foto: IFFR | Khavn)

Rotterdam, die Stadt, war schon immer ein Vorreiter des Digitalen, jetzt geht auch das Festival in den Remote-Modus. Über die Trugbilder des Realen

Von Dunja Bialas

»Wir zahlen nur mit Bargeld, das ist wirklich proble­ma­tisch hier.« Der phil­ip­pi­ni­sche Filme­ma­cher Khavn trägt einen para­dies­vo­gel­bunten, langen Mantel, aus schwerem Stoff gefertigt, auf dem sich großflächig Muster breit machen. Auf der Nase eine silberg­lit­zernde Brille, offen­sicht­lich ohne Gläser. Sie gehört zu seinem Outfit. Khavn fällt auf und aus dem Raster, selbst beim Zahlen: Er misstraut den Banken.

Unsi­cheres, wenn nicht krimi­nelles Banken­wesen hat eine lange Tradition auf den Phil­ip­pinen, erklärt die Film­pro­du­zentin Achinette Villamor. Wir sitzen in einem Café beim Frühstück, es ist unser letzter Tag, wir plaudern über dies und das, so lange, bis der Toast kommt. Dass in Rotterdam überall »PIN only« geschrieben steht, amüsiert uns. Achinette wäre vor einigen Jahren fast verhun­gert, weil sie nirgendwo etwas zu essen bekommen hat. Sagt sie. Seit Corona hat sich die Digi­ta­li­sie­rung nun auch komplett aufs Festival über­tragen, positiv wirkt sich das bei der Ticket­be­stel­lung aus. Und, wie leider zu erwarten: negativ ist das für die Arbeits­kon­di­tionen. Nirgendwo gibt es mehr ruhige Schreib­plätze, vor allem aber schmerzt der Wegfall der Video-Library. Der dunkle Raum im obersten Stockwerk des Doelen war eine wichtige Anlauf­stelle, um Filme aus dem elftä­gigen Programm zu gucken, die außerhalb der eigenen Präsenz­zeit liefen, oder auch einfach für einzelne Filmtitel durch das Kurz­film­pro­gramm zu browsen. Wichtig war die Library auch, um Kollegen und Kolle­ginnen aufzu­finden, die ausschließ­lich in der geräu­migen Dunkel­kammer saßen.

Wir fragen uns: Wo sind sie alle hin? Den Sich­tungs­raum gibt es nicht mehr. Sitzen sie jetzt alle in ihren Hotel­zim­mern? Jeder für sich? Denn das W-LAN im Festi­val­zen­trum, das hat der Praxis­test gezeigt, ist für den Stream zu schwach, die Filme starten nicht. Achinette will aber gehört haben, dass es dieses Jahr doch wieder eine Video-Library geben soll, im 4. Stock, ganz oben im Doelen, wie früher.

Wenig später bekomme ich die Nachricht auf mein Handy: »The video-library is a hoax.«

Ficken für den Seelen­frieden: Bomba Bernal (Khavn)

Khavn, Regisseur von mitt­ler­weile 57 Filmen, hat auch dieses Jahr einen neuen Film nach Rotterdam mitge­bracht. Bomba Bernal sammelt Found Footage eines kuriosen phil­ip­pi­ni­schen Film­genres. Das sprechend benannte »Bomba« ist Porno für das breite Publikum. Explizite Sexszenen rhyth­mi­sieren einen kaum noch als Plot zu bezeich­nenden Hand­lungs­ver­lauf im 15-Minuten-Takt. Peak der sexuellen Frei­zü­gig­keit waren die Sech­zi­ger­jahre, die Filme absoluter Main­stream. Khavn ließ eine KI die Daten­sätze von vielen (digital aufge­fun­denen) Bomba-Filmen durch­su­chen, pickte sich alle Sex-Szenen heraus und kompi­lierte sie für Bomba Bernal zu einem spaßvoll-ernüch­ternden Lust-Reigen. Auf der Tonspur kommen­tiert der phil­ip­pi­ni­sche Filme­ma­cher Ishmael Bernal, der 1996 verstarb. Khavn hat seine Stimme durch KI wieder­be­lebt, und lässt ihn einen Text sprechen, der wiederum aus vielen seiner Texte zusam­men­ge­setzt ist.

Die Veraus­ga­bung im Porn wird so als Ermüdung der phil­ip­pi­ni­schen Seele unter der Dikatur vers­tänd­lich und für den Nonsense, in den die Bevöl­ke­rung unter Ferdinand Marcos gedrängt wird; aber auch für den Wider­stand des Film­landes gegen die Film­in­dus­trie der Ameri­kaner und die alten Kolo­ni­al­herren. Ficken für den Seelen­frieden also, irgendwie.

What diversity can mean

Bomba Bernal mit seiner film­his­to­ri­schen Ausrich­tung lief in »Cinema Regained« von Olaf Möller. Der deutsche Kurator konnte unter der Festi­val­chefin Vanja Kalud­jercic die Reihe ausbauen, die im Vorwort zum Festi­val­ka­talog – übrigens unver­zichtbar, die Webiste ist ein fail… – die Wich­tig­keit von »Cinema Regained«, aber auch »Harbour« (über die wir bereits anläss­lich von Ghost Trail berich­teten) betont, und zwar als ästhe­ti­sche Diver­sität: »I hope that Harbour and Cinema Regained serve as examples of what diversity can mean: how a range of ideas and visions can coexist in one space, where diffe­rences spark new ideas more than simi­la­ri­ties ever could.«

lunar dust
Billy Roisz, »Lunar Dust« (Foto: WORM / IFFR | Billy Roisz)

Das Stichwort »diversity« machte abends im WORM die Runde, als sich die Berlinale ins Gespräch schob. Er kenne etliche Filme aus dem neuen »Perspec­tives«-Programm, so ein portu­gie­si­scher Kurator, sie seien vorder­gründig divers und machten dem Panorama Konkur­renz. Nach Encoun­ters als Konkur­renz zum Forum nun jetzt ein thema­ti­scher Wett­streit?

Perspec­tives als Newcomer-Reihe könnte aber auch als Affront gegenüber dem seit 55 Jahren bestehenden inter­na­tio­nalen Film­fes­tival von Rotterdam gelten. Mit seinem »Tiger«-Wett­be­werb hat es sich – neben der Ausrich­tung auf den asia­ti­schen Raum, was der Historie der Hafen­stadt geschuldet ist – den aufkom­menden Stimmen eines neuen und aufre­genden Kinos verschrieben: den soge­nannten Newcomern. Wenn nun die Berlinale nur zwei Wochen nach Rotterdam ebenfalls nach Filmen des Nach­wuchses in der Welt­pre­miere verlangt, scheint sich ein neues Gerangel abzu­zeichnen.

Mit Rotterdam aber – no hard feelings – kann die Berlinale auf andere Weise nicht mithalten. Das Programm ist riesig, mit Filmen für den Arthouse-Main­stream, die hier­zu­lande schon längst im Kino laufen, mit der Reihe »Harbour« für alle, die sich auch auf nicht konsu­mier­bare Filme einlassen wollen, mit »Cinema Regained« für die Cineasten.

Während Rotterdam im Haupt­pro­gramm auch expe­ri­men­telle Filme zeigt – Ariel des Argen­ti­niers Matías Piñeiro und des Gallego Lois Patiño war ein Highlight, über das hier noch berichtet wird –, wird mit dem WORM dem Cinema Expanded ein ganzer Ort gewidmet.

Immersiver »Sound/Vision« führt in Live-Perfor­mances das oft hypno­ti­sche Zusam­men­spiel von Visuals (oft auf 16mm und von mehreren Projek­toren) mit Musik vor. Die öster­rei­chi­sche Perfor­mancekünst­lerin und Expe­ri­men­tal­fil­me­ma­cherin Billy Roisz zeigte am gestrigen Mittwoch »Lunar Dust«, eine Zusam­men­kunft von Video, elek­tro­ni­scher Musik und Zimbeln, die Musik kam von DJ dieb13 – ein Trip mit allen Sinnen.

Stop making sense: Un gran casino (Daniel Hoesl)

Weil wir vorhin von den phil­ip­pi­ni­schen Banken sprachen: auch die Schweizer Casinos sind zwie­lichtig. Der öster­rei­chi­sche Regisseur Daniel Hoesl (zuletzt: Veni Vidi Vici) hat in der italie­ni­schen Exklave Campione d’Italia am Lago di Lugano das größte Casino Europas portrai­tiert. Auffällig leer sind die Straßen um den erst 2007 errich­teten Neubau, der die kleine Stadt dominiert. Hoesl filmt in Schwarz­weiß, lässt so die Illusion von beein­dru­ckendem Bruta­lismus entstehen. Eine Off-Stimme offenbart die wech­sel­hafte Geschichte des Casinos in der Kadenz eines eindrück­lich wieder­holten »Rien ne va plus«: Nach Skandalen um Prosti­tu­ierte und Geld­wä­sche ging es 2018 pleite und in den Leerstand.

Un gran casino
(Foto: IFFR | Daniel Hoesl)

Mitt­ler­weile wird dort zwar wieder gespielt, Hoesl aber sugge­riert die Zeit des Dorn­rö­schen­schlafs – »und es ist immer noch nicht viel los dort«, verrät er nach dem Film. Er nutzt die Doppel­be­deu­tung des italie­ni­schen »casinò/o«, das Spielbank, aber auch Chaos meint. Es geht um die Anhäufung von immer mehr Reichtum, und aus dem Off spricht die imaginäre invisible hand (Sandra Cecca­relli) aus den Lehren von Adam Smith. Die Erzäh­lerin taucht auch im Bild auf, wie ein Nachhall der strengen »Soldate Jeannette«, einem der frühen Filme von Hoesl, wenn sie sich eine Halskette mit beiden Händen anlegt. Sie habe das System von innen gesehen, wollte es durch­schauen, raunt sie, und zur Essenz des Spiels vordringen. Die sei das Spiel selbst, ein unend­li­ches Spiel, in dem es keinen Gewinn gibt und aus dem man nicht heraus­kommt. Eine eindrück­liche Geste des Spiels, als wir im Inneren des Casinos sind: Die Hände eines Spielers (Andreas Spechtl) – Dosto­jew­skis »Spieler« hat Teile des Textes beigesteuert – klammern sich an den Roulette­tisch, verkrampfen, in der Erwartung, dass die Kugel endlich zum Still­stand kommt. Beim Texte verwe­benden, Ready-made-Drehbuch mitge­schrieben hat der Dramaturg Thomas Köck (Münchner Kammer­spiele), der für Textstrenge sorgt.

Er habe sich an den Filmen der Nouvelle Vague orien­tiert, sagt Daniel Hoesl, an Alain Resnais’ L’année dernière à Marienbad, zu dem Alain Robbe-Grillet, Autor des Nouveau Roman, ein enig­ma­ti­sches Drehbuch geschrieben hat. Man denkt beim Sehen auch an Jacques Demys La baie des anges, vermisst ein wenig den hell­blonden Schopf von Jeanne Moreau, wenn sie bei Tages­an­bruch aus dem Casino flieht. Wichtig sei für Hoesl außerdem das Denken Gilles Deleuze’ gewesen, um Flucht­li­nien der Bedeutung zu schaffen, von einem Text zum anderen. Das ergibt viel Holz, als Rezep­ti­ons­weise für seinen essay­is­ti­schen Film schickte er aber voran: »Stop making sense.«

Statt der Talking Heads singt im Film die öster­rei­chi­sche Band »Ja, Panik« von den Hirn­ge­spinsten, die das Spiel antreiben. Die Faszi­na­tion des Spiels, ganz allgemein, liegt in der »fabri­ca­tion of an imagi­na­tion«. Das darf auch für das Kino gelten. Und am Ende auch für Festivals: Nichts ist real.