11.03.2004
54. Berlinale 2004

»Ich bin wirklich davon ausgegangen: Ok, das könnte mein letzter Film sein...«

Sibel Kekilli und Fatih Akin beim Dreh zu GEGEN DIE WAND
Sibel Kekilli und Fatih Akin
beim Dreh zu Gegen die Wand

»...und wenn das schon so ist, dann mach ihn wenigstens gut.«

Film­re­gis­seur und Berlinale-Sieger Fatih Akin im Gespräch über Schwer­ge­wichts­boxer, das Kräf­te­ein­teilen am Set, seine Vorbilder, seine Stars und warum er es leid ist, immer auf seine Herkunft ange­spro­chen zu werden.

Er erzählt von Passagen. Durch seinen Sieg bei der Berlinale mit Gegen die Wand gehört der 1973 in Hamburg geborene Fatih Akin zur ersten Garde der deutschen Regis­seure. Nach mehreren Kurz­filmen machte er 1998 mit Kurz und schmerzlos seinen ersten Spielfilm. Es folgten Im Juli (2000) und Solino (2002). Seit der Berlinale ist Akin selbst nur unterwegs. Wie seine Figuren, die immer auf der Reise sind.

Unser Interview ist passen­der­weise selbst eine Art Passage. Es wurde in Berlin geführt, in einem Taxi vom Prenz­lauer Berg zum Bahnhof Zoo und dann dort weiter in den Gängen des Bahnhofs, gehend, auf dem Bahnsteig zum ICE nach Hamburg, den er dann gerade noch erreicht hat. In der Hand hielt Akin das Buch, das er gerade liest, zum dritten Mal übrigens, wie er versi­chert – eine Biogra­phie des Boxers Muhammad Ali.
Mit Akin sprach Rüdiger Suchsland.

artechock: Fangen wir doch mal mit Matthieu Kassowitz an, dessen neuer Film zeit­gleich mit Deinem startet. Sein La haine war für Dich eine besonders wichtige Erfahrung...

Fatih Akin: La haine ist tatsäch­lich einer der besten Filme, die ich je gesehen habe. Der war eine große Inspi­ra­tion für Kurz und schmerzlos. Der hat mich über­wäl­tigt, durch seine Reinheit, die Kraft, die er hat, die Bilder, Schau­spiel­füh­rung, seine Ehrlich­keit. La haine hat vieles bei mir verändert. Ich habe ja dann auch bei IM JULI auch mit dem Kame­ra­mann von Kassowitz gear­beitet.

artechock: Gegen die Wand erscheint wie eine Rückkehr zu Deinen filmi­schen Wurzeln, zu Deinem Erstling Kurz und schmerzlos. Empfin­dest Du das selbst auch so?

Akin: Ich weiß, warum viele das denken, warum das so empfunden wird. Für mich ist der Film aber eine Weiter­ent­wick­lung, keine Rückkehr. Gegen die Wand ist hand­werk­lich reifer, hat eine weniger naive Haltung.

artechock: Was meinst Du mit naiv?

Akin: Kurz und schmerzlos hatte wirklich viele Vorbilder. Vorbilder sind immer korrekt. Jeder braucht das, vor allem, wenn Du jung bist. Aber offen raus­zu­gehen und zu sagen: Ey, ich habe die und die Vorbilder, das empfinden viele alte Hasen als eine Form der Naivität.
Das hat Gegen die Wand weniger. Gegen die Wand hat einfach keine Vorbilder. Jeden­falls keine bewußten. Mit jedem Film lernst Du. Am meisten lernst Du bei Sachen, mit denen Du Dich weniger auskennst. Mit Im Juli und Solino habe ich enorm viel gelernt. Gegen die Wand war eine Möglich­keit, das Gelernte anzu­wenden und wieder eine reine Form des Ausdrucks zu finden.
Die Verwand­schaft von Gegen die Wand und Kurz und schmerzlos ist das Haupt­motiv: Ausdruck. Während Im Juli und Solino einfach nur Geschichten erzählen.

artechock: Für mich ist Gegen die Wand ein sehr echtes, nahes, körper­li­ches Kino, auch ein – im positiven Sinn – schmut­ziges Kino. Wild. Im Vergleich fand ich, dass das Solino nicht war. Und Im Juli jeden­falls viel weniger. In diesem Sinn meinte ich: Zurück zu den Wurzeln.
Was würdest Du sagen: Womit hast Du Dich selbst in Gegen die Wand am meisten über­rascht? Wo bist Du auf etwas ganz Neues gekommen? Wo hast Du Dich weiter­ent­wi­ckelt? Was waren entschei­dende Erfah­rungen?

Akin: Produzent zu sein war eine entschei­dende Erfahrung.

artechock: Die sich auf den Film ausge­wirkt hat... Darauf, wie der aussieht...

Akin: Ich denke ja. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass ich in den ersten zwei Wochen am Set ziemlich panisch war. Weil ich anfangs unter enormem Zeitdruck gestanden habe. Mit der Zeit habe ich mir das abgewöhnt.
Aber weil das ein co-produ­zierter Film war, und auch alles hätte in die Hose gehen können, war ich die ganze Zeit über in einem merk­wür­digen Zustand: Ich war ein bisschen high.

Ich bin wirklich davon ausge­gangen: Ok, das könnte mein letzter Film sein. Und wenn das schon so ist, dann mach ihn wenigs­tens gut. Das heißt: Teil Dir nicht die Kräfte ein. Jeder Filme­ma­cher ist ein bißchen, wie ein Schwer­ge­wichts­boxer. Das ist so. Deswegen lese ich auch gerade eine Biogra­phie von Muhammad Ali. Die Boxer teilen sich immer die Kräfte ein. Das musst Du als Regisseur auch. Das tust Du. Du gibst nicht jeden Tag 100 Prozent.

Du gibst einen Tag ein bißchen weniger. Die Szene ist ein bißchen leichter. Dafür gibst Du am anderen Tag ein bisschen mehr, weil Du denkst: Das ist ne zentrale Szene. Bei diesem Film war es nicht so, da war es so, dass wir jeden Tag alles gegeben haben, was auch zu enormen Erschöp­fungen geführt hat – einfach aus dem Gefühl: Das könnte das letzte Mal sein.

artechock: Du hast jetzt die Berlinale gewonnen. Das war sicher über­ra­schend – man weiß: Der Film wäre fast im „Panorama“ gelaufen. Es war alles eine sehr glück­liche Entwick­lung. Nach so einem Erfolg sagen immer die Leute: »Wir haben alles richtig gemacht. Super!« Gibt es etwas, wo Du sagen würdest: »Das würde ich heute anders machen. Das habe ich falsch gemacht, das ist mir nicht geglückt«?

Akin: Bisher noch nicht. Diesen Moment wird es mit Sicher­heit geben, auch sehr bald geben. Wenn ich heute Kurz und schmerzlos gucke, kann ich gar nicht mehr hinsehen. Ich schimpfe nur noch denke verflixt nochmal: wie haben wir das denn aufgelöst. Und bei Im Juli und Solino ist das auch so. Bei dem ist das noch nicht so.
Obwohl ich jetzt schon im Kopf weiter bin. Das liegt aber auch daran, dass Gegen die Wand sehr frisch fertig ist – erst seit der ersten Januar-Woche. Daher denke ich noch nicht daran, was ich gerne anders gemacht hätte. Noch bin ich an dem Punkt zu sagen: Zu dem Zeitpunkt: Besser ging’s nicht.

artechock: Wenn Du schnei­dest, bis Du die ganze Zeit dabei, oder?

Akin: Mein Cutter Andrew Bird und ich arbeiten seit meinem ersten Kurzfilm zusammen. Er hat diesmal den Film parallel zum Dreh geschnitten. Ich wollte aber, dass er dies sehr großzügig tut. Darum ist die erste Fassung vier Stunden lang geworden. Aber dadurch, dass ich anfangs nicht dabei war, bekam ich eine Form des Abstands geschenkt.

artechock: Ihr habt auch chro­no­lo­gisch gedreht?

Akin: Ja. Ich habe ja auch meine Kame­ra­auf­lö­sung und einen unge­fähren Schnitt­plan vor dem Dreh im Kopf. Den bin ich mit dem Cutter durch­ge­gangen. Aber man variiert dann immer.

artechock: Deine bishe­rigen Filme zeigen ein Milieu, dass ziemlich nahe „an der Straße“ liegt. Da kommst Du selber gar nicht her. Woher hast Du trotzdem diese Nähe?

Akin: Nee, ich komm daher.

artechock: Kann man das sagen? Du kommst doch eher aus einer bürger­li­chen Familie – nicht knapp am Abgrund, wie die beiden Figuren in Gegen die Wand. Die sind ja ganz „on the edge“, es gibt Selbst­mord­ge­fähr­dung, Alko­ho­lismus...

Akin: Ich bin mit solchen Leuten aufge­wachsen. Ich kenne sie. Mein Freun­des­kreis besteht aus solchen Leuten. Und die Eltern auch der Film­fi­guren sind normale, liebe­volle Leute.
Irgend­je­mand hat mal geschrieben, meine Helden seien alles irgendwie Mutter­söhn­chen. Das ist ja so. Aber das ist auch ihr Konflikt: Einer­seits soll zuhause alles in Ordnung sein, soll man denken: „alles ist plietsch“, also alles läuft, wie die Elterrn es gern hätten.
Aber kaum ist man auf der Straße, baut man nur noch Mist. Das kenn ich, da komm ich her.

artechock: Ist dieser Konflikt besonders typisch für die Deutsch-Türken?

Akin: Wie in jeder Gesell­schaft gibt es auch hier einen Gene­ra­ti­ons­kon­flikt. Hinzu kommt, dass wir ganz anders sozia­li­siert sind, als die Türken in der Türkei.
Diese Sozia­li­sie­rung versuchen uns die Eltern weiter­zu­geben, die wir hier groß geworden sind, mit dem deutschen Kinder­garten, deutschen Schulen, mit Formel 1. Das führt zu dem Gene­ra­tio­nen­kon­flikt, dem beschrie­benen Verbergen.

artechock: Wenn man Dich immer wieder auf diesen deutsch-türki­schen Zusam­men­hang und Deine Herkunft anspricht – ist das ange­messen, oder eine Fehl­wahr­neh­mung?

Akin: Fehl­wahr­neh­mung. Beim ersten Film war es noch in Ordnung. Aber schon bei Im Juli nicht mehr. Denn der war schon der Versuch, aus diesem Zusam­men­hang auszu­bre­chen. Dennoch war immer wieder diese Fixierung da. Und wenn ich nichts über Türken gemacht habe, kam die Frage: Warum nichts über Türken? Das ist schon eine Fehl­wahr­neh­mung.

artechock: Ande­rer­seits wird auch Scorsese immer als Italo­ame­ri­kaner und Katholik wahr­ge­nommen...

Akin: Als er Mean Streets gemacht hat, war das in Ordnung, aber bei Taxi Driver schon weniger. Ich bin es halt deswegen so leid, weil ich letzt­end­lich gar nicht an Natio­na­li­täten glaube. Ich fühle mich als Welt­bürger.

artechock: Du würdest ja auch von Dir sagen: Du bist ein deutscher Filme­ma­cher. Oder?

Akin: Deutscher Filme­ma­cher. Mit Sicher­heit.

artechock: Und wieso dann – das habe ich mich immer gefragt, weil ich auch finde, es muss nicht so sein – wieso enden dann Deine Filme immer in irgend­einer Form von Herkunft. Es gibt immer Reisen in die Türkei, nach Italien bei Solino.
Woher kommt es, dass Du immer wieder von Reisen erzählst, die in Ursprüngen enden?

Akin: Weil die Herkunft gar nicht die Herkunft ist. Die Türkei ist eben nicht die Herkunft der Figuren meiner Filme. Sie kommen aus Deutsch­land. Die Türkei ist etwas Fremdes.

artechock: Aber Sibel kommt dort an, wovor sie eigent­lich immer wegge­laufen ist.

Akin: Genau. Aber mich inter­es­siert nicht der Ort, sondern der Zustand: Sie hat nen Typen und sie hat ein Kind. Sie ist aber nicht glücklich damit. Ich denke, die Konstante ist die: Alle meine Figuren sind auf der Suche. Auf der Suche nach einem besseren Leben. Aber mit Ausnahme von Solino scheitern alle. Oder es bleibt offen, ob sie das bessere Leben finden. Und im Ursprungs­land suchen sie Erlösung. Aber die Erlösung finden sie nicht.

artechock: Deine beiden Stars sind nach der Berlinale durch unsach­liche Vorwürfe und dumme Unsach­lich­keiten ins Gerede gekommen. Was wünscht Du Dir eigent­lich von den deutschen Zuschauern?

Akin: Ich denke der Film und seine Haupt­dar­steller sind stark genug, um das vergessen zu machen. Sie werden den Zuschauer in den Bann zu ziehen.

artechock: Macht es einen Film echter, dass man Darsteller nimmt, die ihre eigenen Abgründe haben?

Akin: Mit Sicher­heit. Realismus im Film ist ja nichts weiter, als ein Stil­mittel. Wenn man „echt“ sein will, dreht man einen Doku­men­tar­film. Aber man kann eine gewisse Form von Realismus erzeugen, wenn man Laien nimmt, an Origi­nal­schau­plätzen arbeitet.
Ich wollte nie einen Seelen­strip­tease haben – auch wenn ich Fass­binder liebe. Ich habe Sibels Vergan­gen­heit sehr sehr schnell vergessen.

artechock: Was sind Deine Vorbilder als Regisseur?

Akin: Es gibt Orien­tie­rungs­punkte. Das letzte Vorbild, das ich habe, ist Ali. Ich habe zwar immer Realismus gebrochen, aber jetzt im Augen­blick bin ich in einer Phase des Realismus. Das liegt mir, das kann ich, und das macht mir am meisten Spaß.

artechock: Du produ­zierst Dich auch in Zukunft selber? Das geht ja in Richtung Autoren­film.

Akin: Ja. Ich fühle mich letztlich Tom Tykwer, Christian Petzold, Oskar Roehler nahe – das sind Brüder im Geiste.