26.01.2012

»Meine Figuren stellen sich selbst das Gottes­ur­teil«

Maggie Cheung in IRMA VEP
Über den Dächern von Paris:
Maggie Cheung in Irma Vep

Olivier Assayas über seine Jugend in den 70er Jahren, über die Unwissenheit beim ersten Film und die große Lust am Spiel und der Freiheit

Noch bis zum 22. Februar zeigt das Film­mu­seum München eine Werkschau mit acht Filmen von Olivier Assayas. Assayas, geboren 1955 in Paris, ist seit Carlos einer der Shooting-Stars des intel­li­genten fran­zö­si­schen Autoren­films. Bekannt wurde er vorher schon mit seinem bahn­bre­chenden Irma Vep (1996), in der er Jean-Pierre Léaud einen obses­siven Nouvelle-Vague-Regisseur spielen lässt, der sich zur Aufgabe gemacht hat, ein Remake des Stumm­film­klas­si­kers Les Vampires von Louis Feuil­lades (1915) zu probieren. Hier hat Maggie Cheung, damals schon Ikone des Hongkong-Kinos ihre legendär gewordene Rolle im Cat-Suit. Assayas spricht sehr lebendig, er tänzelt bei seinen Worten, und eines kann man ihm in jeder seiner Worte und Gesten anmerken: seine große Leiden­schaft fürs Kino.

Das Gespräch führte Dunja Bialas.

artechock: Letzte Woche konnte ich in der Werkschau, die jetzt im Film­mu­seum bis Ende Februar acht Ihrer Filme zeigt, Ihren ersten Langfilm sehen, Désordre, auf deutsch Lebenswut. Ich habe nicht wenige Gemein­sam­keiten zu Carlos fest­stellen können, der Film, mit dem Sie spätes­tens jetzt in Deutsch­land einem breiteren Publikum bekannt geworden sind. Erkennen Sie den Olivier Assayas von heute, den Regisseur von Carlos, in Ihrem ersten Film wieder?

Olivier Assayas: Oh ja, das ist wirklich ein großer Bogen, der sich da aufspannt, das ist nicht einfach. Viel­leicht kann ich das so sagen: Ich bin heute nicht wirklich anders als damals (lacht). Einen ersten Film macht man in einer Haltung von Unwis­sen­heit, man entdeckt, was man machen kann, was man besser nicht macht, weil man es nicht kann. Auch, was einen anzieht, was man liebt im Kino. Und dann gibt es noch die Idee, sich selbst zu über­treffen. Norma­ler­weise, wenn man einen ersten Film macht, hatte man schon lange die Lust, einen Film zu machen, das ist wie ein Traum, ein Phantasma. Wenn man dann dabei ist, ihn zu verwirk­li­chen, packt man alles rein, ohne Vorbehalt. Aber man weiß nicht wirklich, was man da gerade tut. Erst im Moment der Montage, wenn der Film abgedreht ist und eine Perspek­tive erhält, beginnt man genau zu verstehen, inwiefern der ganze vorherige Prozess zu diesem Film geführt hat. Ein erster Film ist immer ein beson­derer Film, über den man nur sehr schwer sprechen kann.

Als ich dann sehr viel später Carlos gemacht habe, war es zwar ganz anders, aber es gab mindes­tens das als Gemein­sam­keit zu meinem ersten Film: Auch er ist, wegen seiner Fülle, seiner Komple­xität und seiner Länge, ein Projekt geworden, in das ich alles rein­pa­cken wollte. Ein Film, wo ich nicht eine bestimmte Hand­lungs­achse nehme oder ihn in einer bestimmten Tonlage erzähle, indem ich ihn egal auf welches Gleis bringe. Mir die Länge des Films vor Augen haltend, habe ich mir gesagt: Ich darf mich nicht für einen Stil entscheiden, ich muss mich für alle Stile entscheiden, der Film muss sich permanent selbst neu erfinden, sich erneuern, vermeiden, dass der Zuschauer ermüdet, deshalb muss er ständig seinen Ton ändern, das Register wechseln und so weiter. Noch einmal hatte ich bei Carlos das Gefühl, ich müsse mich selbst überholen, in dem Sinne, dass ich nicht nur das machen sollte, von dem ich ohnehin weiß, wie es geht, sondern auch das, von dem ich nicht weiß, wie es geht.

artechock: Mir fielen in beiden Filmen die Figuren auf, die alle eine gewisse Radi­ka­lität in sich tragen, von Idealen getrieben sind, die bereit sind, ihr Leben ihren Ideen zu opfern…

Assayas: Der Idea­lismus, der immer ein wenig roman­tisch ist, bei den Figuren aus Désordre, ist nicht genau der gleiche wie der militante Idea­lismus von Carlos, aber dennoch: Beide Filme haben mit einer Epoche zu tun, die sich ähnlich ist. Das ist die Zeit, in der ich selbst jung war, eine ganz spezielle Periode war das damals, die 70er Jahre. In den 70er Jahren Jugend­li­cher zu sein, war eine besondere Erfahrung, weil man die Welt durch das Prisma der Radi­ka­lität entdeckt. Ein Prisma, das auch alle Werte in Frage gestellt hat, die Gesell­schaft. Das ist ohne Frage etwas, in dem ich mich rumtrieb, in diesem Prisma bin ich groß­ge­worden. In diesem Alter, dachte ich nicht, dass es überhaupt eine andere Art gibt, die Welt zu sehen. Und, ja, hier finden sich die Wurzeln, aus denen beide Filme gewachsen sind.

artechock: Könnte man sagen, dass Sie genau das inter­es­siert in ihren Figuren, ganz allgemein, diese Haltung, die zugleich radikal ist und träu­me­risch, auch roman­tisch?

Assayas: Ja, auch wenn es ein paar Filme gibt mit Figuren, die anders gestrickt sind, stimmt es, dass ich immer mehr Nähe mit Charak­teren hatte, die in einem gewissen Sinn getrieben, »bewohnt« sind, bewohnt sind von etwas. Die nicht passiv sind, die auf eine gewisse Weise glauben, sich selbst über­schreiten zu können, die die Über­zeu­gung haben, das Leben und die Welt dürften nicht in einer lauwarmen Weise behandelt werden, die die Gefahr und das Risiko suchen. Sie stellen sich selbst in Frage, in einer Art von Gottes­ur­teil, und in dem, was sie bestimmt, sie suchen wie nach einem Beweis nach Existenz in dem, wie sie sich selbst ins Spiel bringen. Es sind Figuren, die leben­diger sind und die auch bewohnt sind durch ein drama­tur­gi­sches Potential. Ich denke, das sind die Figuren, mit denen man im Film mitgehen möchte, ihnen auf gefähr­liche Wege folgen möchte. Das ist aufregend, auch für den Zuschauer.

artechock: Und es sind Figuren, die sogar noch radikaler sind, in dem Sinne, dass sie sogar die Realität über­schreiten und anders herum. Wie zum Beispiel in Irma Vep, wo die Fiktion auf die Wirk­lich­keit zurück­kommt. Oder in Demon­lover: Diane, die Haupt­figur, tritt voll­kommen in den medialen Raum über. In Clean lässt die Haupt­figur ihr Drogen-Universum hinter sich, um wieder in die Realität zurück­zu­kehren, was sehr schwer für sie ist.

Assayas: Irma Vep und Demon­lover sind Filme, die sich an der Grenze zwischen dem Realen und dem Imaginären befinden. Sie sind zugleich in einer Realität, die sehr konkret ist, und die begrenzt ist von Bildern und die Türen enthält, die erlauben, vom Phantasma zum Erlebten zu wechseln, aber auch vom Figu­ra­tiven zum Abstrakten, wo es eine ständige Inter­ak­tion gibt zwischen dem Sicht­baren und dem Unsicht­baren. Ein Film wie Clean beschreibt ein wenig die gleiche Schleife, nur anders­herum. Er beginnt im Imaginären, um in der Realität anzu­kommen. Hier geht es darum, das Imaginäre, die Entfrem­dung und die Phan­tasmen komplett hinter sich zu lassen, um sich selbst zu werden.

artechock: Auch Irma Vep führt zu Carlos, durch den Verlust an Realität…

Assayas: Carlos ist ein wenig speziell, denn es ist ein Film, zu dem ich über den Weg der Doku­men­ta­tion kam. Es ist der erste Film, den ich gemacht habe, der auf realen Personen und realen Momenten basierte, wo, Szene für Szene, eine Vermi­schung von freier Inspi­ra­tion statt­findet mit der Rekon­struk­tion und der Wahr­haf­tig­keit der damaligen Zeit. Irma Vep ist vor allem ein Spiel, mit dem ohnehin Freien, ganz spontan.

artechock: In Irma Vep gibt es diesen Regisseur, der versucht einen Film zu machen, was ihm nicht wirklich gelingt, und der in das Irresein ausweicht. Zugleich erscheint der Film wie das Zentrum Ihres Werks: Hier gibt es die Konfron­ta­tion zwischen dem asia­ti­schen Action­film mit dem europäi­schen Autoren­film, fast glaubt man, dass Sie sich mit dem irre­ge­worden Regisseur auch ein wenig über die Nouvelle Vague lustige machen?

Assayas: Ja, auch wenn ich mich nicht wirklich über die Nouvelle Vague lustig mache, gibt es da eine gewisse Ironie. Was für mich in Irma Vep zählt, ist das Wunder, das dort passiert. René Vidal, der Regisseur des Films im Film, wird mit einer gewissen Ironie beob­achtet, mit Distanz. Man hat den Eindruck, dass die Fragen, die er sich stellt, abstrakt sind und keine Antwort haben. Er stellt sich Fragen, die viel­leicht rheto­risch inter­es­sant sind, die aber von einer bestimmten Utopie des Kinos hervor­ge­bracht sind, die in der Realität keine Antwort finden, eine Utopie des Kinos, die nicht funk­tio­niert. Aber am Ende des Films merkt man: Er war es, der Recht hatte. Die moderne Version des Stumm­films Irma Vep wäre möglich gewesen. Nur tat er sich schwer damit, gleitet in eine Neurose hinein, um am Schluss diese Sackgasse zu über­winden, in der er sich befunden hatte. Irma Vep ist ein Film mit einem Happy End.

artechock: Ist Irma Vep für Sie ein Schlüs­sel­film in Ihrem Werk?

Assayas: Ja, auf jeden Fall. Ich habe diesen Film in einem Zustand völliger Freiheit geschrieben, ohne mir einen Kopf zu machen. Ich habe ihn geschrieben, um Spaß zu haben, ich wusste noch gar nicht, ob ich den Film überhaupt machen konnte. So habe in den Film alles hinein­ge­steckt, in einer spie­le­ri­schen Art und Weise, das schon immer im Zentrum meiner Inspi­ra­tion vorhanden war, das aber nicht immer in meinen Filmen präsent war. Was hier zählt, ist der Humor, Irma Vep führt direkt zur Komödie. Und das ist in der Tat etwas, was ich niemals gewagt hatte, etwas, von dem ich nicht wusste, wie ich es in einem Film einsetzen kann. Jetzt fühle ich mich dort wohler. Meine ersten Filme waren alle sehr seriös, aber ich glaube, dass diese humo­ris­ti­sche Seite nicht vernach­läs­sigt werden darf. Das hat sich in Irma Vep befreit. Und dort findet man auch meine Faszi­na­tion gegenüber dem Stummfilm, für das Graphi­sche des expe­ri­men­tellen Kinos, die Collage, ich konnte zusam­men­fügen, was ich viel­leicht immer schon bei Godard bewundert hatte, was man nicht in meinen Filmen findet, das aber für mich wie die Schlüssel zum Kino sind. Der Film wurde für mich zum Labo­ra­to­rium für meine späteren Filme.

artechock: In Ihren Filmen arbeiten Sie oft mit den gleichen Schau­spie­lern zusammen: mit Virginie Lédoyen, Maggie Cheung natürlich. Arbeiten Sie gerne mit einer »Familie« zusammen?

Assayas: Ja, das ist etwas, was ich nach und nach verstanden habe, denn das entspricht überhaupt nicht meinen ersten Filmen, hier war die einzige Judith Godrèche, die zweimal in meinen Filmen vorkommt (Paris s'éveille, L’eau froide). Für machen waren die Figuren immer für die Filme entstanden, an sie dürfte man nicht rühren, die Schau­spieler durften in anderen Filmen nicht wieder­kehren. Erst später merkte ich, dass ich Lust hatte, eine Art Schau­spie­ler­truppe zu bilden, Silhou­etten zu finden, bei denen ich Lust hatte, sie wieder­zu­sehen. Das beginnt erst bei L’eau froide, vor allem mit Virginie Lédoyen, auch andere Silhoutten findet man später wieder, in Irma Vep und woanders.

artechock: Ihre Arbeit mit den Schau­spie­lern ist auch sehr frei…

Assayas: Ja, frei in dem Maße, wie es möglich ist. Irma Vep markiert hier auch den Punkt der Befreiung. Es ist der erste Film, in dem ich impro­vi­sieren ließ, in dem ich während der Dreh­ar­beiten noch Sätze ins Drehbuch einfügte. Ich ließ die Schau­spieler ihre eigenen Ideen einfließen, ja, es war wirklich zum ersten Mal, das ich diese Freiheit auspro­bierte, was ich in meinen Filmen danach ständig machte. Nicht unbedingt in einem Film wie Les destinées senti­men­tales oder Demon­lover, aber es gibt Filme, die sich fast schon anbieten, in dieser Weise frei zu arbeiten, wie in Clean, Fin août, début septembre, Filme, die zu tun haben mit einer bestimmten Natür­lich­keit und Spon­ta­n­eität. Zu dieser Zeit begann ich, Impro­vi­sa­tion zu mischen mit den geschrie­benen Elementen des Drehbuchs.

artechock: Die Lust an der Impro­vi­sa­tion erinnert stark an Jacques Rivette…

Assayas: Oh ja, ich war sehr von Rivette geprägt. Wie von der Nouvelle Vague im Allge­meinen. Godard, Truffaut, Rohmer, Rivette bestimmen alle, wenn auch auf unter­schied­liche Weise, das Terri­to­rium, auf dem ich meine Filme mache. Durch sie habe ich mich stark für die Verwen­dung anderer Sprachen inter­es­siert, mit inter­na­tio­nalen Schau­spie­lern zusammen zu arbeiten. Die Schau­spie­le­rinnen, die Art der Impro­vi­sa­tion, der »Film im Film«, all das sind Dinge, die direkt auf Jacques Rivette verweisen.

artechock: In ihren Filmen gibt es eine wichtige Seite, das ist die Musik. In Demon­lover wird der Score von Sonic Youth gestellt, in ihrem ersten Film über­fallen die Jungen einen Gitar­ren­laden, dann haben Sie auch noch einen Doku­men­tar­film gemacht, Noise, über ein Konzert, für das Sie die Musiker auswählen durften. Welche Bedeutung hat die Musik für Ihre Arbeit?

Assayas: Ich habe ein großes Miss­trauen gegenüber der »Filmmusik«, ich mag sie überhaupt nicht. Ich finde sie künstlich, ich bin da sehr sensibel, obwohl ich überhaupt kein Musiker bin. Kompo­nierte Musik fügt dem Film eine Dimension hinzu, die ich nicht beab­sich­tigt hatte und die sich wie ein para­si­täres Echo über den Film legt; ich habe dann weniger Lust zu erzählen. Man macht einen Film, man bestellt eine Musik, die eine starke Eigen­iden­tität hat. Diese geht ein dialek­ti­sches Verhältnis mit dem Film ein, mit seinen Figuren, den Aufnahmen. Und diese Dialektik zwischen Musik und Bild ist im Herz des Kinos, ist bestim­mend, ist essen­tiell. Und aus der Tatsache, dass ich keine Filmmusik verwende, sondern Musik, die schon existiert, die ich selbst benutzen kann als Toncol­lagen, kann ich eine poetische Dimension des Films erreichen, auf der ich mit meiner eigenen Stimme spreche. Bei der Collage von Musik und Tönen über meinen Bildern, kommt die Idee von mir kommt. Sie entsteht in einer langen Recherche, in der ich herum­taste, 15, 20 Stücke auspro­biere, um die richtige Note zu finden. Und in dem Moment, wo ich die richtige Note gefunden habe, weiß ich, dass es exakt und emotio­nell das ist, was ich gesucht habe. Und das ist etwas, was mir keine Filmmusik geben kann. Und dann gibt es natürlich noch meinen spezi­ellen Geschmack, meine Vorliebe für Rock, das ist eine Frage meiner Gene­ra­tion, die in der Gegen­kultur aufge­wachsen ist. In deren Zentrum befand sich die Musik, viel stärker als das Kino. In den 70ern war ich viel stärker von der Musik beein­flusst als vom Kino, von der radikalen und avant­gar­dis­ti­schen, auch wenn ich noch sehr jung war.

artechock: Und wie passiert die konkrete Arbeit mit dem Film? Führt die Musik durch die Montage?

Assayas: Die Film­mon­tage passiert zuerst, auf dieser Ebene ist der Film abge­schlossen, wenn ich beginne, nach Musik zu suchen. Danach gleiche ich die Bilder, ihren Rhythmus noch ein wenig an, aber der Film ist im Allge­meinen fertig geschnitten.

artechock: Sie haben soeben einen neuen Film fertig gedreht, Après mai, wem gleicht er mehr, Carlos oder Désordre?

Assayas: (Lacht.) Er ähnelt ein wenig beiden. Er hat auch viel mit L’eau froide gemeinsam. Wieder ist es ein Film über sehr junge Leute, die 17 oder 18 sind, Anfang der 70er Jahre. Ein wenig komme ich in ihm auf meine Biogra­phie zurück und auf meine ersten Filme, aber mit einer Weite und einer Ambition, die dann wieder mehr mit Carlos zu tun hat.