10.04.2003

»Wer die Wirklichkeit sehen will, muss aus dem Fenster gucken«

Herr Wichmann hängtt ein Wahlplakat auf, Motiv: Herr Wichmann
Herr Wichmann hängt ein Wahlplakat auf

Regisseur Andreas Dresen über Herr Wichmann von der CDU

Vergan­genes Jahr wurde Andreas Dresens Tragi­komödie Halbe Treppe mit dem Silbernen Bären und dem Deutschen Filmpreis in Silber ausge­zeichnet. Jetzt bringt er mit Herr Wichmann von der CDU eine Doku­gro­teske über den Wahlkampf in der Provinz in die Kinos. Nani Fux sprach mit dem Regisseur über Herrn Wichmann, die Sugges­ti­vität von Doku­men­tar­filmen und die Frucht­bar­keit der Lange­weile.

artechock: Wie geht es denn dem Herrn Wichmann jetzt?

Andreas Dresen: Soweit ich weiß ganz gut. Er ist Ende Januar Vater geworden und mit seinem Jura­stu­dium und dem Baby voll ausge­lastet. Politik macht er natürlich auch noch: Er sitzt da oben in der Uckermark im Kreistag.

artechock: Sie hatten ihm davon abgeraten, bei der Premiere in Berlin anwesend zu sein. War ihm nicht ganz klar, worauf er sich mit dem Film einge­lassen hat?

Dresen: Das war nur vorsichtig von mir gedacht. Ich hatte den Film noch nie mit Publikum erlebt und wollte ihm ersparen, mögli­cher­weise auf hämische Art ausge­lacht oder von politisch anders­den­kenden Leute atta­ckiert zu werden: Nach der Premiere hatte ich aber überhaupt keine Bedenken mehr.

artechock: Es ist nicht für jeden leicht wegzu­ste­cken, wenn der ganze Saal über einen lacht...

Dresen: Henrik Wichmann kann damit sehr gut umgehen, weil er natürlich weiß, dass so ein Wahlkampf in der Provinz auch seine urko­mi­schen Seiten hat. Man spürt auch, dass nicht über ihn gelacht wird, sondern über das System, das dahin­ter­steht.

artechock: Trotzdem war das Projekt für ihn nicht ohne Risiko.

Dresen: Es kommt sehr darauf an, wie man die Sache anpackt. Ob man jemanden verletzt, hängt von der Ethik des Filme­ma­chers ab und mit welcher Einstel­lung er an Leute heran­tritt. Ich persön­lich habe immer große Achtung vor den Menschen vor der Kamera. Ob sie eine Szene vorspielen oder ob sie mir ihr wirk­li­ches Leben ausbreiten, macht für mich keinen Unter­schied. Ohne dass man Menschen wirklich liebt, ist es auf jeden Fall sehr schwierig inter­es­sante Geschichten zu erzählen – für mich jeden­falls.

artechock: Es gibt in der Natur­wis­sen­schaft die Theorie, dass man allein dadurch, dass man einen Versuch beob­achtet, das Ergebnis verändert. Das gilt natürlich auch für Doku­men­tar­filmer: In dem Augen­blick, in dem Sie die Kamera drauf­halten, verändern Sie das Leben Ihrer Prot­ago­nisten.

Dresen: Das ist natürlich immer ein Problem. Wenn man mit der Film­ka­mera in die Realität hinein­geht, verändert sich der Zustand dieser Wirk­lich­keit. Ich persön­lich würde niemals behaupten, dass ein Doku­men­tar­film die Wirk­lich­keit wieder­gibt, er hat immer nur den Anschein von Authen­ti­zität. Wer die Wirk­lich­keit sehen will, muss aus dem Fenster gucken und darf nicht ins Kino gehen.

artechock: Beim Doku­men­tar­film verliert man schnell aus dem Auge, wie subjektiv er ist. Das ist eine besondere Gefahr, aber auch eine besondere Kraft des Genres.

Dresen: Beim Doku­men­tar­film ist natürlich eine größere Unmit­tel­bar­keit da als bei einer komplett insze­nierten Spiel­film­se­quenz. Es laufen Dinge ab, die man sich schwer ausdenken kann. Z.B. die Szene im Imbiss, in der die Leute mit Heino die Natio­nal­hymne singen, und dann plötzlich Kinder mit Fackeln aufmar­schieren. So etwas hätte ich mir so nicht ausdenken können. Für einen Spielfilm wäre das einfach zu dicke gewesen, davor wäre ich zurück­ge­schreckt

artechock: Sie sind ohnehin ein Grenz­gänger. Bei Ihnen sind die Übergänge zwischen Doku­men­ta­tion und Fiktion besonders fließend. Halbe Treppe war größ­ten­teils impro­vi­siert. Fühlen Sie sich in Spiel­filmen freier, Ihre Inter­pre­ta­tion der Realität umzu­setzen?

Dresen: Ich kann natürlich bei einem Spielfilm in Grenz­be­reiche rein, die man im Doku­men­tar­film nicht berühren kann. Den Grad der Intimität, die die Szenen bei Halbe Treppe haben, kann ich im Doku­men­tar­film nicht bedienen, weil es sich um wirkliche Bezie­hungen zwischen real exis­tie­renden Menschen handelt. Bei einem Doku­men­tar­film lässt man sich auf eine Reise mit unbe­kanntem Ausgang ein. Das macht natürlich großen Spaß, manchmal ist es aber auch scho­ckie­rend.

artechock: Einen inter­es­santen Weg geht der dies­jäh­rige Doku­men­tar­film-Oscar­preis­träger Michael Moore. Bowling for Columbine ist eine Art von Doku­men­tar­film, bei der die Insze­nie­rung ganz offen­sicht­lich ist.

Dresen: Das finde ich absolut klasse, wie das bei ihm in die Satire hinein­geht. Ich mag das, weil es ein poli­ti­sches Statement ist und eingreift, was ich wichtig finde. Was Moore macht, ist wichtig für die ameri­ka­ni­sche Gesell­schaft und letzt­end­lich auch für unsere.

artechock: Er hat damit unge­heuren Erfolg, auch bei uns.

Dresen: Ja, das ist sehr erfreu­lich, es sind inzwi­schen über 800 000 Menschen, die den Film hier gesehen haben. Das ist verblüf­fend und ermu­ti­gend.

artechock: Sicher hängt das damit zusammen, dass seine Filme bei aller Brisanz so witzig sind und nicht mit erhobenem Zeige­finger daher­kommen.

Dresen: Kino ist keine mora­li­sche Anstalt, Kino ist dazu da Geschichten zu erzählen und Leute zu unter­halten. Ich will ins Kino gehen und unter­halten werden, wobei Unter­hal­tung nicht heißt, dass man sich unun­ter­bro­chen auf die Schenkel haut. Ein Film, der nicht auch unter­haltsam ist, ist bloß etwas für ein paar Intel­lek­tu­elle. Wenn man aber andert­halb Stunden im Dunklen sitzt und eine Art von emotio­naler Achter­bahn­fahrt erlebt, bei der man lacht und weint und bei der es einen ordent­lich durch­ge­schüt­telt – wenn man dann rausgeht, und viel­leicht eine kleine, winzige Erkenntnis mitnimmt, die vom Bauch in den Kopf hoch­rutscht, dann ist viel gewonnen.

artechock: Trotz aller Komik gibt es einige Momente in ihrem neuen Film, in denen einem vor Hoff­nungs­lo­sig­keit schier der Atem stockt. Zum Beispiel die Szene vom Stim­men­fang im Altenheim.

Dresen: Das ging mir schon ans Herz. Ich finde den Film auch nur stre­cken­weise lustig. Hinter dem Lachen verbirgt sich ein bitterer Ernst. Ich selbst war seit vielen Jahren nicht mehr in einem Altenheim und war scho­ckiert. Die Einsam­keit der Alten spricht Bände über den Zustand der Gesell­schaft. Die Alten sind allein, weil die Jungen keine Zeit mehr haben. Die Gesell­schaft zwingt uns in eine Motorik, in der es keinen Raum gibt, sich um Familie zu kümmern. Das sind Dinge, bei denen man stark ins Grübeln kommt.

artechock: Die Fragen, die dabei hoch­kommen, kann kein Politiker beant­worten – auch kein Herr Wichmann.

Dresen: Ich finde, wir machen es uns sehr einfach, wenn wir die Politik als eine Art Dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen begreifen. Wer sagt, »Wir haben Euch gewählt, und nun habt ihr euch vier Jahre darum zu kümmern, irgend­einen Sinn in diese Gesell­schaft zu bringen«, der stiehlt sich aus der Affäre. Über den Zustand der Gesell­schaft nach­denken und überlegen, was man anders machen kann, damit sollten sich nicht nur Politiker beschäf­tigen, sondern wir alle.

artechock: Natürlich sind wir schon gespannt auf ihr nächstes Projekt...

Dresen: Als nächstes mache ich eine Adaption nach dem Roman „Willen­b­rock“ von Christoph Hein. Ich arbeite wieder mit Laila Stieler zusammen, der Autorin, mit der ich auch Die Poli­zistin gemacht habe. Wenn wir Glück haben und das Geld zusam­men­kriegen, würde ich das gerne Ende des Jahres anfangen zu drehen – aber das ist noch ein unge­legtes Ei.

artechock: Wir können schließ­lich nicht erwarten, dass Sie in Zukunft bei jeder Berlinale dabei sind.

Dresen: Nee, das ist auch nicht zu leisten. Ich kann nicht unun­ter­bro­chen am Stück produ­zieren. Momentan bin ich eini­ger­maßen ausge­laugt und merke, dass ich eine Pause brauche, damit die Dinge sich setzen und ich Lust auf neue Entde­ckungen kriege. Wenn man sich in so einer Atempause anfängt zu lang­weilen, entstehen meist ganz inter­es­santen Dinge.

artechock: Auf der Suche nach der Lange­weile also...

Dresen: Um Gottes Willen (lacht), ich hoffe nicht, dass das zum Schluss im Film rauskommt! Das wäre ja grau­en­voll! Lange­weile darf nur der Anfang des Schöp­fe­ri­schen sein, nicht das Ende.