»Ein Charakter ist im Traum des anderen« |
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Szene aus El Fulgor | ||
(Foto: GMfilms) |
Das Kino Argentiniens gehört zu den großen eigenständigen Kinematographien der Welt. Gerade in den letzten 30 Jahren ist es mit Filmemachern wie Pablo Trapero, Lucrecia Martel und Lisandro Alonso regelmäßiger Gast auf den Filmfestivals dieser Welt.
In dieser Landschaft ist der Regisseur Martín Farina bekannt, aber ein Unabhängiger. Seine Filme bewegen sich nicht allein auf dem Grenzbereich von Dokumentarfilm und Fiktion, sie mischen auch folkloristische Motive mit einem neuen Blick. Dass Farina, Jahrgang 1982, Philosophie und Musik studierte, merkt man seinen Filmen an: Denn er komponierte auch den sehr besonderen Soundtrack zu seinen Filmen.
Farina ist ein argentinischer Independent: Er produziert seine Filme selbst, oft mit Laien und kleinem Team. Trotzdem hat es jetzt Farinas neuestes Werk ins deutsche Kino geschafft: El Fulgor erzählt seine Geschichte vor dem Hintergrund so unterschiedlicher Milieus wie Viehzucht und Karneval und ist ein filmisches Gesamtkunstwerk.
Anlässlich der Weltpremiere des Films hatten wir im Rahmen des Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg Gelegenheit, folgendes Gespräch mit Martín Farina und seiner Produzentin Mercedes Arias zu führen.
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland
artechock: Es ist klar, dass du, Martín, bei diesem Film eine ganze Menge selbst gemacht hast. Dazu gehört ganz zentral auch die Musik, auch wenn man zuerst glaubt, hier Strawinsky oder Bartok zu hören. Du hast Musik studiert. Was sollten wir darüber wissen?
Martín Farina: Ja, Ich habe viel über Musik nachgedacht. Für mich ist Musik zentral für einen Film. Und ich habe in der Zeit, als ich den Film gemacht habe, tatsächlich sehr viel Strawinski gehört auf dem Fahrrad oder als Fußgänger.
Einen Teil der Musik habe ich mit Freunden zusammen gemacht, einen Teil alleine komponiert.
artechock: Bist du selbst ein Teamworker? Man kennt das ja: bei Filmen dieser Art, bei denen eine Person sehr viel macht, gibt es zugleich sehr viele, die irgendwie auch etwas dazu beitragen.
Farina: Meine Produzentin Mercedes und mein Kameramann Tomás Fernández Juan waren immer an meiner Seite. Wir drei haben diesen Film zusammen gemacht. Wir sind das Team. Wir teilten die gleichen Ideen und die gleiche Atmosphäre. Wir sind wie eine Bande junger Terroristen – jeder kann die Position des anderen einnehmen.
Ich selbst versuchte oft die Position einzunehmen, die eine Ratte haben könnte. Am Rand. Weg von der Hauptbühne.
Wie würde eine Ratte auf uns blicken? Nicht weil die Ratte hässlich oder böse ist, sondern weil sie im Dunkeln sitzt. Man weiß nie, wo sie sitzt. Ich versuche, eine obskure, mysteriöse und dunkle Seite einzunehmen.
artechock: Du bist ein Beobachter... Dieser Film ist zumindest teilweise mit nicht-professionellen Schauspielern gemacht worden. Ich weiß nicht, ob überhaupt einige professionell sind. Wie würdest du diesen Film beschreiben? Ein Essay? Ein Dokumentarfilm? Eine Mischform? Oder ist dies doch ein Spielfilm, der nur in einer anderen, unkonventionellen Weise erzählt ist?
Farina: Ich würde den Film mehr als einen Essay ansehen. Ich denke, es ist weder ein Dokumentarfilm noch eine Fiktion, aber es hat Elemente von beidem. Ich versuche, meinem Instinkt zu folgen und mich vorher nicht zu sehr festzulegen.
Die Schauspieler sind tatsächlich alles Laien. Einer von ihnen hat früher als Model gearbeitet. Umgekehrt hat einer durch diesen Film begonnen, als Schauspieler zu arbeiten. Aber im Prinzip stammen viele
in meinem Film sogar aus einer Familie; der auf der Ranch, auf der wir gearbeitet haben.
artechock: Mercedes, kommen wir zu dir: Du bist die Produzentin. Wie habt ihr zusammengearbeitet? Gab es überhaupt für diese offene Arbeitsweise ein Drehbuch?
Mercedes Arias: Nein! Es gab ein Script. Aber das Drehbuch tauchte auf, als Martín schon geschnitten hat. Das ist natürlich verrückt für eine Produzentin, die ein Team zusammenbringen muss und den Dreh vorbereiten, die Geld sammeln muss. Hier war alles andersrum. Alles war sehr spontan, obwohl wir über einen so langen Zeitraum gedreht haben. Es war ein Abenteuer.
Zum Beispiel jene Szene, in der die Kuh getötet wurde: Wir wussten nicht,
dass das passieren würde. Wir kamen da einfach an mit ein paar Ideen im Kopf, sprangen aus dem Auto, da ging es schon los. Für die Leute dort auf dem Land ist es vollkommen normal, ein Rind zu erschießen, sie machen das jede Woche – für uns war es ein Schock und ein Sprung hinein in eine andere Welt. Aber diese Art von Sprung tut dem Film natürlich sehr gut.
artechock: Immerhin bist du als Argentinierin vermutlich keine Veganerin?
Arias: Oh nein, nein, ich esse sehr gern Fleisch und ich kann auch beim Töten zusehen. Aber es kam schon sehr plötzlich und sehr archaisch in der Weise, die Kuh zu erschießen.
Es war hart.
Aber Martín und Tomás haben einen sehr subtilen Weg gefunden, um diesen Moment einzufangen. Das war großartig. Ich denke, dies ist zu einer großen Metapher über die Beziehung dieser Menschen zum Fleisch geworden und dazu, wie sie die Tiere behandeln. Mit
Respekt und Zuneigung! Irgendwann sind sie auch alle nackt, so nackt wie die Tiere, sie zeigen sich selbst – und sind damit natürlich ein bisschen auch selbst ein Stück Fleisch. Das fand ich sehr interessant.
artechock: Wo in diesem Film sind die Frauen?
Arias: Guter Punkt!
Farina: Nun das war auch so eine Entscheidung. Weißt du, als wir diesen Film gemacht haben, wollte ich den Karneval aus der Perspektive der Männer beschreiben. Ich weiß nicht, wie das hier ist. Aber in Brasilien und auch in Argentinien ist Karneval in gewisser Weise eine Frauensache. Frauen und ihre Körper sind die Objekte des Marketing, sie werden zu Objekten der Betrachtung.
Wir wollten das hier umdrehen: Wie wird der Karneval
gesehen, wenn wir den Blick und unsere Perspektive auf die Männer richten? Wie finden sie das? Was haben sie für Ängste? Wie kommen sie an ihre Kostüme? Darum haben wir entschieden, dass wir die Frauen weglassen. Das war ziemlich schwierig für die Frauen, die auch vor Ort waren. Sie haben dauernd gefragt: Warum filmst du mich nicht? Warum läuft er immer den Männern hinterher? Das war nicht leicht für sie zu verstehen.
artechock: Wie lange habt ihr gedreht? Und wie viel Material?
Farina: Es war eine ganze Menge, aber nicht zu viel. Und zwischen den Dreharbeiten habe ich nachgedacht. Ich würde meine Arbeit mit der eines Kochs vergleichen: Ich habe eingekocht, ich habe überlegt, welche Zutaten zu dem fertigen Gericht passen.
Vor vielen, vielen Jahren habe ich in einer Fabrik gearbeitet. Es war also nicht eine so große Menge von Material. Vielleicht 100 Stunden. Aber mir kam es vor wie eine Untersuchung, eine
Art Detektivarbeit. Und es war für mich auch eine Reise, die ich genossen habe.
Ich hatte niemals eine klare Idee zu Beginn, dass dieser Film herauskommen würde. Das war genau genommen die allerletzte Entscheidung. Ich wusste auch nicht, dass ein Film herauskommen würde, der keine Dialoge hat. Ich habe sozusagen den Film gefunden, nicht vorher ausgedacht.
artechock: Manchmal konstruierst du einen Dialog zwischen der Musik und zwischen Bewegungen oder den Reaktionen oder den Blicken der Figuren. Natürlich ist das die Kunst des Filmschnitts.
Du hast noch etwas anderes von der Sprache der Stummfilme übernommen: Den Wechsel zwischen Schwarzweiß und Farbe.
Mir schien es relativ klar, dass die Schwarzweiß-Passagen eine Art Traum-Passagen sind. Aber ganz genau stimmt diese Sicht auch nicht. Es gibt also keine Ordnung. Wie hast du gewählt was schwarz-weiß und was Farbe ist?
Farina: Vielleicht ist es genauso, wie du sagst. Ich wollte zwei verschiedene Welten konstruieren, und von einer Kreuzung dieser beiden Welten, dem Übergang von der einen zur anderen, erzählen.
Ein Charakter ist im Traum des anderen. Aber als ich am Filmschnitt saß, wollte ich es verwirrender machen. Ich wollte nicht, dass es für den Zuschauer so einfach ist, den Film zu entschlüsseln. Und darum entschied ich im Schnitt, eher intuitiv
gerade in der zweiten Hälfte zwischen schwarz-weiß und Farbe stärker zu mischen und intuitiv zu schnellem Ebenen zu wechseln.
artechock: So lange zu produzieren passt eigentlich nicht in die ökonomischen Verhältnisse unserer Welt. Wie hast du diesen Film finanziert? Es muss einen großen ökonomischen Druck geben?
Arias: Für mich als Produzenten ist es nicht leicht, Martíns Filme zu produzieren. Vor allem deswegen, weil ich selber manchmal nicht sicher bin, was er da eigentlich tut.
Andererseits ist Martín selber auch einer der Produzenten.
Und wir arbeiten an verschiedenen Projekten gleichzeitig. Mit anderen Regisseuren kann man solche Filme nicht auf diese Weise drehen. Das heißt, wir versuchen, das Budget klein und effektiv zu halten und
mit anderen Projekten genug Geld zu verdienen, um uns das leisten zu können, was wir machen.
Hinzu kommt, dass Tomás, der andere Kameramann, auf die exakt gleiche Weise arbeitet wie Martín. Wenn man das Material sieht, kann man nicht auseinanderhalten, was von wem kommt.
Hinzu kommt, dass wir dann noch ein bisschen Geld dadurch bekommen haben, dass wir während des Drehs ein Teil des Materials vorgezeigt haben. Allerdings erst am Ende des Trägers für die Postproduktion. Wir haben
es nicht geschafft, den Zeitrahmen, der uns von der Filmförderung in Argentinien vorgegeben wurde, so einzuhalten, dass wir bereits während des Drehs Geld bekommen haben.
Farina: Ich möchte nur eines ergänzen: man muss dazu wissen, dass wir mit sehr, sehr einfachen und billigen Kameras gedreht haben. Mit Geräten, die man heute nicht einmal einem Kind zum Geburtstag schenken würde.
Aber für mich ist das ein Handwerkszeug, und ich versuche es trotz der niedrigen Qualität so gut wie möglich zu nutzen.
artechock: Aber es sieht ganz großartig aus! Es sind hervorragende und sehr schöne Bilder, die ihr gemacht habt.
Arias: Ja, aber das liegt daran, dass wir die beste Postproduktion der Welt haben.
Farina: Hinzu kommt, dass ich glaube, dass ich am allerbesten als Produzent meiner eigenen Filme bin: ich bin sehr gut darin, aus dem Vorhandenen das Bestmögliche zu machen. Und zu entscheiden, was ich aus den Möglichkeiten machen kann. Ich kann das ja schnell entscheiden. Etwa in dem Moment, als die Kuh getötet wurde. Da musste ich im Grunde in Sekunden entscheiden, dass ich filme, von wo aus ich filme, und was ich für die Aufnahme
brauche.
Ich kann gut entscheiden, was man mit dem, was zur Verfügung steht, anfangen kann. Ein Film ist für mich nicht die Idee, sondern das, was ich wirklich vor mir habe. Ich weiß, was ich habe, und was ich nicht habe. Und ich habe immer im Hinterkopf, dass ich auch der Produzent des Films bin.
Dieser Film wurde quasi mit überhaupt keinem Geld gemacht. Aber wir haben das Beste aus der Erfahrung der Reise dieses Films gemacht.
Arias: Und ich möchte auch noch dazu sagen, was ich vorhin vergessen habe: auch wenn Martín kein Skript hat, bedeutet dies nicht, dass er beim Dreh auftaucht, ohne dass er Ideen hätte, ohne dass er genau wüsste, was er machen will. Ich glaube, dass diese Art zu produzieren mit anderen nicht möglich ist. Mit Martín aber schon.
artechock: Oder mit Wong Kar Wai...
Arias: Ja, der ist ein Genie.
artechock: Noch eine Frage zum Ton: Ist der Ton vor Ort, on Location aufgenommen?
Farina: Nein, nein, nein. Das ist alles in der Postproduktion im Schnitt entstanden. Anders wäre es gar nicht möglich gewesen.
artechock: Wo in Argentinien habt ihr gefilmt und wo habt ihr diese Familie gefunden?
Farina: Es sind zwei Familien. Sie sind Nachbarn ganz im Norden Argentinien. Die zwei Hauptcharaktere waren der Schlüssel zu diesem Projekt.
Wir durften in deren Häusern schlafen. Das war auch eine vollkommen verrückte Erfahrung! Denn sie waren genau genommen den ganzen Tag besoffen. Das war der einzige Film, bei dem ich zwischendurch dachte, dass ich ihn nicht fertig schaffen würde, denn sie tranken und tranken den ganzen Tag und die
ganze Nacht und haben dauernd vergessen, dass sie auch noch mit uns einen Film machen würden, dass wir auf sie gewartet haben, aber sie wussten dann nicht mehr, wann sie wohl sein sollten.
Aber es war gut, bei ihnen zu wohnen, denn ich brauchte eine gewisse Nähe zu ihnen und brauchte sie für meinen Film. Wenn ich ihre Komplizität nicht gehabt hätte, dann hätten wir den Film nicht machen können.