Argentinien 2021 · 66 min. · FSK: ab 6 Regie: Martín Farina Drehbuch: Martín Farina Kamera: Martín Farina Schnitt: Martín Farina |
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Von elementar-archaischer Kraft und schillernder Geheimnishaftigkeit | ||
(Foto: GMfilms) |
Eine Reihe von Einstellungen, die Handgriffe zeigen, körperliche Arbeit, die Tätigkeiten der Männer auf einer Rinder- und Pferderanch in der Pampa, dazwischen Aufnahmen von Tieren, von Rindern, Pferden, Schweinen, Hunden, erlegtem Wild. Eindrucksvolle Impressionen, die gar nicht darauf abheben, ganze Abläufe sichtbar zu machen, sondern als Momentaufnahmen wirken, immer wieder durch die Wahl des Ausschnitts so markant ins Bild gesetzt, dass die Rauheit der Gauchoarbeit darin fast physisch spürbar wird.
Dann die Männer bei der Siesta, beim Halbschlaf in der Mittagshitze, zwei besonders ausdrucksstarke Gesichter kehren regelmäßig wieder: sie sind so etwas wie die Protagonisten in dieser dokumentarischen Skizze argentinischen Landlebens, die zunehmend verwirrend, irritierend wird.
Ein nackter Mann mit Tätowierungen im Unterholz erscheint in einigen dazwischen geschnittenen Bildern, er wirkt wie ein Faun in dieser rohen Bukolik der argentinischen Pampa, ein Faun, der auf die arbeitenden Männer blickt. Oder entspringt der nackte Faun dem Traum der im Halbschlaf rastenden Gauchos, die benommen von der Hitze phantasieren?
Martín Farina liefert mit seinem Film El Fulgor ein faszinierendes Porträt der Gauchos und der Pampa, das weniger eine klassische Dokumentation ist. Eher eine poetische Meditation und eine surrealistische Kollage, in der sich die Wahrnehmungen der physischen Welt immer mehr mit Splittern und Fetzen der Imagination vermengen.
Das alles wird nicht in einer kontinuierlichen zeitlichen Abfolge entwickelt, sondern als suggestive Montage von Fragmenten und Impressionen, von Aufnahmen in Farbe und in Schwarz-Weiß und es legt sich ein Schleier von Phantasma und Begehren über die wahrgenommenen, erinnerten oder imaginierten Gegenstände.
Es drängen sich Einstellungen von halbnackten Männerkörpern zwischen die Aufnahmen von der Arbeit auf der Ranch, von Männerkörpern, die sich schminken, die ihre Haut mit Flitter und Puder bestäuben, die sich verkleiden und in knappe Kostüme zwängen und die dann in einem rauschhaften Karneval in Ekstase geraten.
Diese sehr sinnlich gezeigten Männer im argentinischen Karneval weisen Elemente schwuler Camp-Ästhetik auf, sie bringen eine starke homoerotische Komponente in das Gezeigte ein. Die mit dokumentarischem Gestus erfassten Aufnahmen erweisen sich immer mehr als delirierende Trugbilder, die dem Nachmittag des nackten Fauns entsprungen zu sein scheinen. Der Kamerablick lädt sich mit schwulem Begehren auf und zieht all die Wahrnehmungssplitter von der Ranch und vom Karneval in einen verwirrenden Sinnestaumel: Krude Fleischteile, in die geschlachtete Tiere zerlegt werden, auf Zäunen aufgespießt, von Vögeln zerpickt, Gerätschaften wie Messer und Gewehre, Insignien der Gaucho-Maskulinität, nackte Haut, Tätowierungen, der Karnevalsglamour, die rauh-bukolischen Szenerien: Imaginäres und Reales vermählen sich hier auf betörende Weise.
Die Gauchos sind in Argentinien und Uruguay ein fester Bestandteil der Nationalkultur, sie wurden idealisiert und mythisiert, sie verkörpern das Element der Zähmung der Wildnis und haben selber noch teil an dieser Wildnis – der Gegensatz von Barbarei und Zivilisation, der eine Art Gründungslegende des argentinischen Staates im 19. Jahrhundert darstellt, drückt sich in ihnen auf anschauliche Weise aus.
Martín Farina lässt sie zu Projektionen homoerotischen Begehrens werden, indem er sie konfrontiert mit den Bildern des Karnevals in der im Osten Argentiniens gelegenen Kleinstadt Gualeguaychú nahe der Grenze zu Uruguay, die weit über Argentinien hinaus berühmt ist für ihre spektakulären Karnevalsfeiern.
Die Bilder aus diesem Karneval stammen übrigens aus Marco Bergers Dokumentarfilm Gualeguaychú: El país del carnaval, für den Martín Farina die Kamera führte und in dem die beiden Darsteller aus El Fulgor, Vilmar Paiva und Franco Heiler, ebenfalls vorkommen. Indem er Aufnahmen aus Bergers Film in seinen eigenen Film integriert, kontextualisiert er sie durch seine Montage (für die Farina auch selbst verantwortlich zeichnet) vollkommen neu. Er überschreitet dadurch den dokumentarischen, eher reportagehaften
Ansatz Bergers aufs Poetisch-Suggestive hin. Die homoerotischen Konnotationen sind freilich bei Berger (wie in dessen gesamtem Werk, übrigens häufig in Zusammenarbeit mit Farina) schon sehr deutlich. Farina gibt ihnen aber in El Fulgor eine elementar-archaische Kraft und eine schillernde Geheimnishaftigkeit.
Farina zeichnet nicht nur für Regie, Kamera und Schnitt verantwortlich, er wirkte auch an den Kompositionen für den Score des Films mit: er ist ein eigenwilliger Vertreter eines noch unbekannten unabhängigen poetischen Kinos in Argentinien, der sich bereits mit einem Porträt des legendären argentinischen Independent-Meisterregisseurs Raúl Perrone einen Namen gemacht hat.
Naturgeräusche, Vögel, Schweinegrunzen, von fern menschliche Schreie. Eine Ranch irgendwo in der Pampa, fern von Buenos Aires. Ein junger Mann erwacht, macht sich fertig für einen arbeitsreichen Tag.
Es beginnt alles mit den Bewohnern dieser Farm, mit Leben und Alltag der Gauchos. So heißen hier die Cowboys. Ihre Arbeit ist hart und schmutzig. In Argentinien ist die Rinderzucht, die Produktion von saftigen Steaks, einer der wichtigsten Industriezweige.
Fleisch ist zentral in dieser Welt. Es ist Gegenstand von Ritualen. Die Gauchos vollziehen beispielsweise ihr Ritual der »Reinigung des Fleisches«. Fleisch überall zu sehen: Beim Schlachten. Beim Entbeinen der Tiere. Über den Zaun hängend zum Trocknen. Im Kühlhaus. Und ebenso auch das lebendige Fleisch: Die Leiber der Rinder, der Pferde, der Schweine, der Menschen.
Dann sind Klänge zu vernehmen, die an diesem Ort ungewöhnlich sind. Einen Augenblick erinnern sie an klassische Jazzmusik, doch bald eher an Bartok, Stravinsky, Debussy.
Ein zweiter junger Mann taucht auf, mitten im Dschungel. Wie ein Waldwesen. Die Landschaft ist nie ganz idyllisch, eher gelegentlich unberührt, paradiesisch, wild. Etwa dann, als nach 25 Filmminuten die Musik auftaucht, vermischen sich die Naturbilder zunehmend mit Straßengeräuschen und den Klängen der Stadt. Es steht die Zeit des Karnevals in Argentinien bevor. Der eine Zeitpunkt im Jahr, an dem sich die beiden Sphären, die harte, archaische Welt der Gauchos und die zivile der
Stadt, vermischen. Langsam füllt sich auch das Bild immer mehr mit Farbe, mit Federn und kostümierten Männern.
So wie Schwarzweiß und Farbe sich mischen, so mischen sie sich auch in die reportagehafte Ebene, die uns die Szenerie der Fleischfarm vorführt, zwei weitere Elemente. Eine traumhafte, phantastische, und eine sehr konkrete: Die Vorbereitung des einen Gaucho zum jährlichen Karnevalsumzug.
Was nun auf der Leinwand entsteht, ist eine filmische Symphonie, ein Rausch aus Klang, Bild, Farbe und Bewegung, aus Wirklichkeit und Wahn, die lokale Traditionen und universelle Begierden verschmilzt. Was still und fast klassisch-dokumentarisch auf der Ranch beginnt, entwickelt sich bald zu einem in alle Richtungen wirbelnden, dialogfreien, von auf- und abschwellender Filmmusik getragenen, dabei genau komponierten Panorama der Sinne, das einer eigenen Choreografie zu folgen scheint.
El Fulgor führt sein Publikum zu kaum bekannten archaisch erscheinenden Ritualen und zeigt eine Männerwelt im Spannungsfeld von Tradition und Moderne. Tiefe Fragen nach dem Verhältnis von Mensch und Tier, Gewalt und Begierde klingen dabei an.
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Ein Film ohne Frauen. Dem wohl trotzdem niemand vorwerfen würde, Männerwelten einfach nur zu verklären oder gar sexistisch zu sein. Die Dinge sind eben komplizierter, als dass sie immer in derartig simplifizierende Begriffe passen. Mit den Begriffen kommt man sowieso nicht weit bei El Fulgor. Dies ist ein Film jenes Kinos, das man heutzutage gern »nicht-narrativ« nennt.
Aber auch diese Floskel führt zu wenig. Denn genau genommen erzählt El Fulgor eine ganze Menge. Er tut das nur auf eine andere Weise. Deswegen kann man es nicht so einfach nacherzählen. Denn vieles, was hier möglicherweise erzählt wird, liegt komplett im Auge des Betrachters.
Man kann das ja fragen: Ist der Himmel wirklich jemals so gelb wie bei Pissarro? Haben Gesichter grüne Flecken wie bei Renoir? Zeigt ein Bild von Monet die Kathedrale von Rouen oder nicht eigentlich nur ein paar Farbtupfer. Und wovon erzählt es? Tatsächlich von der Fassade einer gotischen Kathedrale? Oder nicht viel eher von der Laune und Stimmung eines Malers, die ihn dazu brachte, eines der 33 Bilder, die er von diesem selben Motiv malte, in zartrosa zu tauchen? Oder erzählt vielleicht davon, dass sich der Maler am Vorabend in einen Aufsatz von Michel Eugène Chevreul vertieft hatte und einen Lichteffekt ausprobieren wollte.
Wir wissen es nicht. Aber woher nehmen wir die Gewissheit, dass uns Monet etwas über das erzählen will, was am offensichtlichsten scheint? Dass er einen Inhalt illustrieren will, anstatt uns etwas zu zeigen? Ich glaube, dass es Monet vor allem darum ging, etwas über das Malen selbst zu erfahren und erfahrbar zu machen. Dass Monet vor allem das Malen gemalt hat.
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Man muss diese Referenz des Impressionismus aus zwei Gründen bemühen. Zum einen weil sie deutlich macht, dass auch das Kino von Martín Farina Dinge zeigt, die, wenn man sie genau betrachtet, nicht auf das verweisen, was sie scheinbar darstellen. Um Naturalismus geht es hier nicht. Obwohl dies andererseits ein Film ist, der aus lauter sinnlichen Gewissheiten besteht, aus lauter Eindrücken und Dingen, die man zu riechen, zu schmecken, zu tasten und zu fühlen meint. Ein überaus sinnlicher Film. Und dies, was da so sinnlich erscheint, das ist konkret. Es ist keine Metapher; es steht nicht für etwas, es ist keine Wahrheit. Sondern es ist einfach.
Farinas Kino ist ein impressionistisches Kino, das Effekte und Reaktionen auf eine andere Weise erzeugt als die meisten anderen Filme. Aber kein Zweifel: Er erzeugt sie. Und sie sind intensiver als bei vielen anderen. Insofern führt auch die Bemerkung eines deutschen Kritikers an diesem Film völlig vorbei, der diesen zwar irgendwie mochte, aber doch meinte, dass diese Erfahrung »sicher nicht immer Sinn ergibt«. Wie soll das gehen? Eine Erfahrung »ergibt« niemals Sinn, wir machen sie einfach. Und danach geben wir dieser Erfahrung Sinn. Die zitierte Bemerkung macht nur darauf aufmerksam, dass dieser Film im Gegensatz zu so vielen anderen, schlechteren keinen Sinn vorgibt. Dass er keinen Sinn arrangiert, sondern den Zuschauern die Freiheit lässt.
Impressionismus bedeutet auch Subjektivierung. Nicht nur die positivistische Welt der Fakten und des Sichtbaren werden auf die Leinwand geworfen, sondern auch das Innere des Künstlers: Ängste, Utopien, Träume. Höchst subjektiv komponiert Farina seine Bilder, und zeigt uns einen Faun in Argentinien, und dessen Tagtraum möglicherweise.
Trotz allen Tons und aller Soundeffekte kommt El Fulgor ohne echte Dialoge aus: Ein moderner Stummfilm. Und ein Film wie von einem argentinischen David Lynch: Besessen, eigenwillig, sinnlich und fesselnd.