09.02.2006

»Der Historikerstreit bricht im Kino aus«

Szenenbild DER ROTE KAKADU
Die letzten Momente der Unschuld:
Der rote Kakadu von Dominik Graf
(Foto: X-Verleih)

Regisseur Dominik Graf über seinen neuen Film Der rote Kakadu, die DDR des Jahres 1961, die Wurzelzwergsprache Sächsisch und das Erzählen der Vergangenheit im Kino.

Seit über 20 Jahren gilt der 1952 geborene Dominik Graf als einer der besten deutschen Regis­seure. Filmisch war er seiner Zeit oft voraus. Schau­spieler, die einmal mit ihm zusam­men­ge­ar­beitet haben, berichten nur Gutes, manchen Produ­zenten hingegen gilt Graf, der akribisch, auch in den scheinbar unwe­sent­lichsten Dingen kompro­misslos um Qualität bemüht ist, als zu teuer. Graf hat viele Preise gewonnen und dreht jährlich mindes­tens einen Film, zumeist fürs Fernsehen. Doch auch noch das scheinbar konven­tio­nellste Format, Folgen von Krimi-Reihen wie „Tatort“, „Sperling“ oder „Poli­zeiruf“ führt er zu unge­ahnten Höhen – und macht aus ihnen immer typische Dominik-Graf-Filme. Jetzt läuft sein neuer Kinofilm Der rote Kakadu im Berlinale-Panorama.

Mit Dominik Graf sparch Rüdiger Suchsland

artechock: Es ist ja bekannt, dass Michael Klier hatte ein Drehbuch geschrieben hatte und das jetzt selber verfil­men­wollte. Wie kommt es jetzt dazu, dass Du Der rote Kakadu verfilmst? Was inter­es­siert Dich an dem Thema?

Dominik Graf: Ich habe das Drehbuch in einer Phase angeboten bekommen, als ich gerade ein anderes Projekt vorbe­rei­tete. Ich hatte vom ersten Moment an das Gefühl: Dies ist eine Chance, die man in Deutsch­land nicht oft bekommt.
Alle histo­ri­schen Filme, die mir zuvor angeboten wurden – keinen von ihnen habe ich gemacht – hatten alle das gleiche Problem: Ein Leiden an einer Über­ge­walt von Historie, und an Dramatik. Die Macher denken sich, die Zuschauer wollten das, um „dran­zu­bleiben“.
Hier aber war nun ein Histo­ri­en­film, der erzählte in diesem Sinn – nichts! Der erzählte eine Drei­ecks­ge­schichte, eine Liebes­ge­schichte, die nicht einmal eine richtige Liebes­ge­schichte ist, sondern eher eine Bewun­de­rungs­ge­schichte; der erzählt Atmo­sphären und Stim­mungen und am Ende kommt die große Welt­ge­schichte und walzt alles platt. Aber erst am Ende, in den letzten 20 Minuten – da kommt das System als das DDR-System, als das wir es heute so kennen. Bis dahin wirkt alles fast wie ein Internat, in dem die Schüler sich über die Lehrer lustig machen. Und selbst, wenn die mit Gummi­knüp­peln schlagen, wirkt es lächer­lich – eigent­lich hat man eher so seine privaten Sorgen. Und dann irgend­wann wird es plötzlich ernst. Das fand ich von Klier extrem gewagt. Das hatte ich so über die DDR noch nie gelesen, auch mit den ganzen Details: Von den Meissner-Porzel­lan­fi­guren, die da über die Grenze geschmug­gelt und verkauft wurden, bis zu… Lauter so liebe­volle kleine Dinge; es war wie ein Museum der Gegen­s­tände, das der Klier da aufgebaut hatte. Man musste sich eigent­lich nur dadurch­han­geln – War das wirklich so? Waren die Figuren so beliebt? Wurden sie so hoch gehandelt? Es war tatsäch­lich so – um sich ein ganz eigenes und völlig anderes Bild der DDR aufzu­bauen. Wenn man dann versucht, das abzu­bilden, dann ist das gar nicht so weit weg von der eigenen Jugend.
Trotzdem hatte ich irgend­wann das Gefühl: Es ist ein fremdes Land, über das ich erzähle – für mich wirklich auch Ausland… Aber es ist auch ein Stück so, wie man sich eigent­lich die DDR immer gewünscht hat; man macht als Wessi dann den Film auch mit einem gewissen Schimmer – der jetzt kein Schimmer der Nostalgie ist. Sondern das Gefühl: Es hätte eine andere Chance gehabt. Der liegt natürlich vor allem über der Frau.

artechock: Ich habe im Kino auch an die DDR-Schrift­stel­lerin Brigitte Reimann gedacht. Natürlich: Das ist eine DDR, die damals noch existiert hat, das glaubt man, und die dann unter­gründig vermut­lich noch viel länger existiert hat. War es für Dich als Regisseur sehr schwierig und eine Umstel­lung, überhaupt einen Kostüm­film, Histo­ri­en­film zu drehen – das ja ist tatsäch­lich für Dich der erste Film, der in der Vergan­gen­heit spielt.

Graf: Jaja, ich hab noch nie alte Autos durch einen Film fahren lassen – das alleine ist schon ein Problem. [Lacht] Das ganze Angebot kam in dem Fall relativ kurz­fristig: Anfang 2004, und ab Juni musste gedreht werden. Das heißt, ich hatte gar nicht so viel Zeit, mich in die DDR 1961 einzu­ar­beiten. Sondern es reichte, an dem, was Michael Klier da vorge­geben hatte, sich in die DDR-Geschichte einzu­ar­beiten, und dann mit meinem Dreh­buch­autor Günter Schütter noch eine Schicht darüber zu legen.

artechock: Was habt Ihr da gemacht?

Graf: Wir haben uns eine Liste mit Dingen gemacht, die wir als Wessis gerne in einem DDR-Film sehen würden. Ich sag jetzt nicht alles, was da drauf stand, [Lacht], das meiste davon ist auch im Film. Also durchaus mit einem Blick von außen: Als würde ein Franzose mit einem gewissen utopi­schen Blick auf die Kolo­ni­al­zeit zurück­gu­cken. Es ist wahr­schein­lich an bestimmten Stellen auch sehr ignorant – aber ich hoffe, dass es im Ender­gebnis nicht so rüber­kommt.
Ich glaube, dass es aber jeden­falls sehr wichtig war, mit dem Grund­ge­fühl da ran zu gehen, dass es in den Sechziger Jahren in der DDR nicht so verklemmt zuging wie bei uns. Da fühle ich mich dann schon als Zeit­ge­nosse – das habe ich selbst erlebt und weiß, was hier los war: Was für eine dumpfe Republik das war. Und nach allem was man über die DDR hört, scheint sich dies, vor allem was das Selbst­be­wusst­sein der Frauen anbetraf, doch stark von unseren Zuständen zu unter­scheiden.
Darum war es möglich, eine Figur wie die Louise, wie sie von Michael vorge­geben war, und wie wir sie dann weiter­ent­wi­ckelt haben, zum emotio­nalen Zentrum des Films zu machen. Dass man sie auch als Westler nicht als Figur aus der Vergan­gen­heit empfindet, sondern sich voll­kommen mit ihr iden­ti­fi­zieren kann und in die man sich auch heute noch verknallen würde.

artechock:
Genau! Der rote Kakadu ist ja ein Film über Jugend. Da trifft er schon viel von dem, was Du in anderen Filmen auch gemacht hast. Da sehe ich auch die Nähe zu Deinen anderen Filmen.
Würdest Du sagen, dass die DDR – jeden­falls die etwas unschul­di­gere, privatere DDR – für das heutige Deutsch­land jetzt zu einer Sehn­suchts­land­schaft geworden ist? Mit Good Bye, Lenin! fing das an, aber auch Sommer vorm Balkon, der zwar in der Gegenwart spielt, aber so einen DDR-Ton, defa-Ton bewahrt hat.

Graf: Ja, ich glaube schon. Einer­seits ist dieser Sommer 1961 genau der Zeitraum, in dem die DDR ihren Garten der Unschuld verlässt. Und es ist dabei überhaupt eine ganz andere Frage, ob die DDR als Staats­macht diesen Garten frei­willig oder unfrei­willig verlassen hat. Der Druck von Außen, von Ost wie West, war jeden­falls gewaltig – auch was das angeht, muss man wahr­schein­lich irgend­wann histo­risch noch mal etwas präziser werden, als immer nur Leidens­ge­schichten aus West und Ost zu sammeln… Das stimmt alles so nicht .
Mit dieser ganzen „Zeit­zeu­gen­his­torie“ kommt man letzten Endes nicht weit. Womit man aber schon weit kommt, ist Alltags­ge­schichte. Und da ist dann so eine Erin­ne­rung inter­es­sant, die sich an solchen Winzig­keiten, auch an unge­wöhn­li­chen Winzig­keiten festhält: Ich wusste nicht, dass in der DDR ältere Damen Seancen veran­staltet haben. War aber trotzdem so.
Und plötzlich wird der Blick immer größer. Da weitet sich dieses kleine Land, dieses defa-Land. Und mir ging es darum, dass man das aufnimmt, diese Direkt­heit der Sprache, die Direkt­heit der Tempe­ra­mente aus den defa-Filmen, die wir so bewundert haben – wo war denn das eigent­lich hier in unseren Filmen bitte­schön? Wo sind denn solche Figuren wie Maria Morzek DAS KANINCHEN BIN ICH in unserem Kino? – dass man das nimmt, und auch versucht auch die geheime DDR, die unter­grün­dige DDR mit hinein zu bringen: Was war denn los im „Roten Kakadu“, was passierte denn, wenn die dann nachts in die Hotel­zimmer verschwunden sind? Wie hat sich denn die Stasi amüsiert und war der Laden denn wirklich so wider­s­tänd­le­risch, oder war er eigent­lich nur ein Tummel­be­cken von lauter Staats­si­cher­heits­leuten, die sich gegen­seitig beob­achtet haben? All das kann man in so einem Film unter­bringen. Weil der Film einem von der Struktur her nicht ständig unter Plot­punkt­druck setzt. Und das war es eigent­lich, was ich mit den histo­ri­schen Projekten, die ich mal begonnen hatte, immer versucht habe, aber immer auch auf Wider­stand gestoßen bin – weil man das halt mit histo­ri­schen Filmen iden­ti­fi­ziert: Die Leute reden darin dauernd über das poli­ti­sche Tages­ge­schäft. So als würden wir beide jetzt auch sofort darüber reden: Wie ist denn jetzt Merkel, was ist den mit dem BND im Irak? Das macht diese Filme so unwirk­lich. Und hier war die Chance, plötzlich einen Film zu machen, der einem ganz nahe sein kann. Der einem gleich­zeitig zeigt, wie fern das alles ist. Um diese Spannung zwischen beidem geht es.

artechock: Bevor Du diesen Film gemacht hast: Was hat da Dein DDR-Bild geprägt, von den TV-Nach­richten mal abgesehen? Oder hattest Du kaum eines?

Graf: Doch, doch. Ich war ja schon den 70er Jahren lange Zeit in Berlin, und war auch oft dort drüben. Dann habe ich schon zwei TV-Filme gemacht, die in der DDR spielen. Das eine war ein Morlock mit Götz George der in Leipzig spielte, als dort die ganzen Kombinate abgeräumt wurden – das kam auch in dem Film vor. Und dann der in Weimar gedrehte Reise nach Weimar. Also die DDR hat mich grund­sätz­lich immer inter­es­siert. Aber ich hatte auch immer das Gefühl: Das Bild ist nicht komplett. Sowohl in den 90ern, als immer nur Stasi-Dramen im Vorder­grund standen, als auch jetzt, wo man die DDR als Operet­ten­staat entdeckt. Aber ich wäre nicht auf den Gedanken gekommen, mich der Sache so zu nähern.
Alltags­ge­schichte eben. Möglichst präzise, mit einem Schimmer Wessi-Idea­lismus. Außer Jessica Schwarz kommen auch alle Darsteller aus dem Osten. Das war mir wichtig, weil ich das Gefühl hatte, die nehmen das noch mit in den Film, auch wenn sie selber die DDR kaum erlebt haben.

artechock: Und sprechen Sächsisch…

Graf: Mit Dialekten tarnen sich auch Gemüts­lagen. Wir haben uns um so ein Hoch-Sächsisch bemüht. Es gab ja auch zu DDR-Zeiten schon sehr viele Witze über das Säch­si­sche. Und man hatte von außen immer den Eindruck: Das ist so eine Art geheime Hoch­sprache der DDR.
Diese Sprache hat so eine Heimtücke. Die ist wie so eine Wurzel­zwerg­sprache, klein und alles verklei­nernd. Dahinter kann sich aber eine Bösar­tig­keit verbergen – gerade weil sie sich hinter so einem Verklei­ne­rungs­vor­gang tarnt, wird sie um so unan­ge­nehmer.

artechock: Könntest Du beschreiben, was das Spezielle an Dresden ist? Das ist ja etwas anderes als München.

Graf: Dresden war aber wie München auch immer eine Stadt, die den jewei­ligen Systemen nicht abgeneigt war. Natürlich keine „Haupt­stadt der Bewegung“, aber ein reicher Ort der Herrscher, eine Residenz, vor dem 2. Weltkrieg noch strahlend schön, kein Wider­stands­nest. Und sie war 1961 noch fast völlig zerstört. Hätte man damals von der „Blauen Wunder“-Brücke einmal mit der Kamera nach links geschwenkt, hätte man immer noch nur Trümmer gesehen. Das habe ich mir gespart, nicht nur aus Geld­gründen. Ich wollte keinerlei Digi­ta­li­sie­rung in diesem Film, das hätte ihm die Direkt­heit der Bilder genommen. Mir gefiel die Vorstel­lung, dass einem die Ruinen nicht dauernd vorge­führt werden, und dass dieser Club im edlen Stadtteil „Weißer Hirsch“ eigent­lich von außen so aussieht, als stünde er in Wiesbaden. Der Bomben­an­griff kommt nur indirekt vor: In den Brand­wunden in der Haut von Frau Männchen, in zwei, drei Spuren im Hinter­grund…

artechock: …in der Karte „Wir bauen das neue Dresden“. Die ist histo­risch, nehme ich an?

Graf: Nein – das haben wir uns ausge­dacht. Das sind die Erfah­rungen aus meinen Film München. Wie bildet man Topo­gra­phien ab? Ansonsten ist es schwer, in Dresden überhaupt noch Original-DDR-Räume zu finden. Die Stadt wird ja in einer Weise heraus­ge­putzt, und die DDR wird als histo­ri­scher Ort platt­ge­macht, dass es einen wirklich graust. Das ist diese typische Form deutschen Verdrän­ger­tums – jetzt wollen alle wieder ihre kleinen schnu­cke­ligen Knus­per­häu­schen.

artechock: Gut – jetzt könnte ich mir vorstellen, dass manche auf diese Argu­men­ta­tion antworten: Jetzt kommt da dieser Wessi, und roman­ti­siert mit seinem Sehn­suchts­blick die DDR; dabei war das alles ganz furchtbar, und die Stasi war ganz böse – und gerade jetzt gibt es auch wieder Filme, die die schlimme Stasi in den Mittel­punkt stellen – die es ja auch tatsäch­lich gab. Wie würdest Du dieser Kritik antworten? Ist es eine Roman­ti­sie­rung diesen letzten schönen Sommer der DDR darzu­stellen, den letzten Moment der Unschuld?

Graf: Ich glaube, ich habe versucht, dass so zu schildern, wie junge Menschen das damals empfunden haben. Man weiß, dass es auch die schlimmen Seiten gibt, man akzep­tiert sie, man denkt so, wie Louise das am Anfang einmal sagt: »Du, ich glaube an den Staat, ich glaube, das ist das bessere Deutsch­land. Ich finde nur, dass die Alten, die oben dran sind, alle weg müssen. Da müssen wir ran, und dann wird das alles anders.« Und solange man nur daran inter­es­siert ist, wann man mit wem ins Bett geht und welche Schuhe man anhat und wie hip man aussieht, nimmt man den Rest nicht so war. Die echte Drohung, die über dem Film liegt, ist die Zeit­an­gabe. [Da schaltet sich unser retro­spek­tives Wissen ein, wir wissen: Es dauert noch vier Monate bis zum Mauerbau, die Zeit wird knapp; wir wissen, was danach kam. Aber für die Zeit­ge­nossen ist die Zukunft offen.]
Und die Stasi wird zunehmend gefähr­lich, das ist besser, als sie von Anfang an so aussehen zu lassen. Am Anfang wirken die Stasi­leute wie Poli­zisten im Stummfilm, denen die Jungen auf dem Kopf herum tanzen, und sie bringen der Jugend Staats­si­cher­heits­tänze bei – aber dann ist plötzlich Schluss mit lustig. Das war die drama­tur­gi­sche Idee dahinter.

artechock: Hast Du Lust, jetzt mehr Geschichten aus der Vergan­gen­heit zu erzählen? Als nächstes drehst Du in Leipzig…

Graf: Das spielt in der Gegenwart, ist ein Thriller, der aller­dings mit den Altlasten zu tun hat. Vergan­gen­heit an sich hat mich jetzt schon sehr gepackt. Das ist nochmal ein anderer Spiegel der Wirk­lich­keit: Verklei­nernd einer­seits, als würde man das Fernrohr umdrehen, und schärfer, genauer sehen, aber eben kleiner – aber man kann mit der richtigen Geschichte ja auch vieles mit der Vergan­gen­heit machen, was dann zugleich ganz gegen­wärtig und modern wirkt.

artechock: Ähnliches sagt Ang Lee. Dass Brokeback Mountain in der Vergan­gen­heit spielt, begründet er damit, dass sich die Leute auf Vergan­gen­heit eher einlassen, weil sie sich sicherer fühlen.

Graf: Ja, es fällt einem ja auch erst im zweiten Moment ein, dass Ice Storm ein Kostüm­film war. Hier ist das ein bisschen offen­sicht­li­cher. Ein weiteres Projekt von mir – fürs kommende Jahr wahr­schein­lich – spielt aber tatsäch­lich auch in der Vergan­gen­heit: Ein TV-Zwei­teiler, aus dem aber viel­leicht auch ein Kinofilm werden kann: über Lotte Lenya. Wie wir uns die 20er Jahre vorstellen.

artechock: Noch eine Frage in Bezug auf histo­ri­sche Filme: Es ist ja gerade Mode, die Vergan­gen­heit auf die Leinwand und ins Fernsehen zu bringen: Es gibt schon länger die Welle mit Filmen über die NS-Zeit, dann neuer­dings die Filme über die DDR, zu denen auch Der rote Kakadu gehört, daneben auch verstärkt Filme, die sich mit den 50er-Jahren befassen.
Eine schlichte Erklärung für diese Mode lautet: Das ist Exka­pismus; Macher und Zuschauer fliehen vor der Gegenwart, die kompli­ziert und nicht so schön ist, von Krisen gezeichnet, in der man unbequeme Posi­tionen beziehen muss, in eine Vergan­gen­heit, in der die Posi­tionen klar sind, die ein bisschen idyllisch ist, selbst dort, wo sie auch noch einen Schrecken hat, in der man es sich gemütlich einrichten kann.

Graf: Ich habe versucht, das alles nicht zu machen. Ande­rer­seits lag so etwas wie Good Bye, Lenin! schon sehr nahe, denn die DDR hatte eine fast tragische unfrei­wil­lige Komik. Was man alles noch mit einer Spree­wald­gurke machen kann, das kann man ja noch erzählen. Aber man muss versuchen, mit der gewohnten Einheits­form, wie man Geschichte sehen und zeigen kann, zu brechen, wieder zu forschen, hinzu­gu­cken; man muss – wie die fran­zö­si­schen Annales-Histo­riker in den 50er, 60er Jahren – neue Quellen entdecken und ansehen.
Wir haben zur Zeit einen imperial-kapi­ta­lis­ti­schen Verwer­tungs­blick auf die Geschichte: Emotion, Drama und massen­taug­liche Spannung zählen, sonst nichts. Die `History`-Kultur schlachtet unsere Geschichte aus wie einen alten Luxus­liner. Nicht ein Funken Dialektik findet sich mehr darin. Das wird sich rächen, weil wir als Gesell­schaft daran verblöden. Und wenn man die `Wirk­lich­keit` der Vergan­gen­heit erzählen will, dann darf man nicht immer nur Rentner vor die Kamera zerren und deren lücken­hafte Erin­ne­rungen stets für bare Münze nehmen. Man muss auch im Kino Erin­ne­rungs­wis­sen­schaft betreiben, und zwar detail­liert und psycho­lo­gisch. Sonst hinter­lassen wir unseren Kindern verfälschte, heroi­sierte Geschichts­bilder. Ganz so, wie es die deutschen Polit-Systeme des 2o. Jahr­hun­derts vor uns getan haben.
Man muss von dieser „impe­rialen“ Sicht, die wir heute in Geschichts­filmen pflegen, wieder deutlich runter kommen. Meine Position ist da: Es gibt nicht nur Geschichte von oben gesehen. Fast kommt es mir so vor, als würde der Histo­ri­ker­streit neu im Kino ausbre­chen.