01.04.2010

»Das war wahn­sinnig verfüh­re­risch für eine Filme­ma­cherin«

Rollstuhlfahrerrin und Krankenschwester in LOURDES
Das Schema war immer „Heidi“

Jessica Hausner über ihren neuen Film Lourdes, über ihr Bedürfnis, den Katholizismus unter die Lupe zu nehmen und die Rückkehr des Religiösen ins Kino

Nach ihren mehrfach preis­ge­krönten Filmen Lovely Rita und Hotel gilt die Öster­rei­chern Jessica Hausner als eine der begab­testen europäi­schen Regis­seu­rinnen. In Lourdes zeigt sie nicht nur das System des Wall­fahrts­ortes, ihr Film handelt von der Dialektik von Ordnung und Zufall. Als eine Pilgerin geheilt wird, wirkt dieses Wunder wie ein Zufall, der völlig will­kür­lich in die göttliche Ordnung der Dinge einbricht und doch zugleich bestätigt. Jetzt kommt Lourdes ins Kino. Mit Jessica Hausner sprach Rüdiger Suchsland.

artechock: Viele Schau­spieler, mit denen Du arbeitest, bezeichnen Dich als akribisch, rigide, nennen Dich streng im guten Sinn. Auch im Venedig-Pres­se­heft von Lourdes findet man dieses Vokabular wieder. Kannst Du einmal beschreiben, wie Du mit Schau­spie­lern arbeitest? Man gewinnt von Außen den Eindruck, dass Du Deine Filme sehr genau planst, und schon vor Dreh­be­ginn exakt im Kopf hast. Trifft das zu?

Jessica Hausner: Früher dachte ich: Viel­leicht mache ich etwas falsch. Inzwi­schen habe ich gelernt, zu akzep­tieren, dass es viel­leicht einfach meine Arbeits­weise ist: Ich habe unlängst wieder, weil ich mich in Gedanken bereits mit einem neuen Film beschäf­tige – Lourdes ist ja seit Sommer 2009 fertig –, über meine Arbeits­weise nach­ge­dacht, und bei diesem Projekt war es wieder so: Wenn ich ein Drehbuch schreibe, dann geht es darin haupt­säch­lich um die Konstruk­tion der jewei­ligen Idee. Meine Dreh­bücher sind wirklich nur Gerüste. Da schreibe ich oft nicht hinein, wie die Personen sind. Menschen, die das Drehbuch lesen, merken dann oft Dinge an in der Art: Wer soll das sein? Das seien doch Allge­mein­plätze. Da müssen Details hinein. Ich habe aber immer den Eindruck: Diese Entwürfe von mir sind wie Kostüme: Sie warten auf den, der sie tragen kann und so mit Leben erfüllt. Das passiert dann beim Auswählen und Casting der Schau­spieler. Etwa zeit­gleich zeichne ich ein Story­board.

Und das sind meine beiden Haupt­tools, wenn es um die Reali­sie­rung geht. Wenn ich weiß, wer das spielen kann, kann ich mir auch ungefähr vorstellen, wie die Aura dieser Person sein wird, wie die Gesten sein werden, und was nötig sein wird und was nicht. Da fallen dann zum Beispiel oft Dialoge wieder weg. Oder ganze Szenen.

Weil ich merke: Ok, die war erklä­re­risch, die Szene, die brauche ich nicht. Weil so wie die das spielt, ahnt man das eh. Man spürt es. Dies ist dann wieder der Punkt der Reduktion: Dass ich dann versuche, schon wieder auf das Wesent­liche zu kommen. Kein Chichi rundherum. Mir ist das wurscht, ob eine Figur in ihrer Biografie irgend­welche Erleb­nisse und Berufs­wechsel hatte oder so. Sondern es geht dann auch irgendwie um Proto­typen. Um das, wofür die Figur steht.

artechock: Was sie reprä­sen­tiert?

Hausner: Ja, was sie reprä­sen­tiert. Eigent­lich wie bei einem Märchen: Da gibt es die böse Hexe, die unschul­dige Prin­zessin und die helfende Fee…

artechock: Also ein Prinzip, wofür sie steht: Das Böse. Die Unschuld…

Hausner: Genau. Viel­leicht hängt das, was als Strenge oder Rigidität empfunden wird, damit zusammen. Weil ich halt keine über­flüs­sigen Details haben möchte.

artechock: Weil Du auch nicht psycho­lo­gi­sierst. Das empfinden dann auch Zuschauer, als streng, weil sie das halt vom Fernsehen anders gewohnt sind.

Hausner: Eben. Und bei diesem neuen Projekt, das ich habe, fällt mir eben auch schon wieder auf, dass ich, sobald ich anfange, psycho­lo­gisch zu denken bei meinen Figuren, denke: Naja also… Was inter­es­siert das mich? Darum geht’s eigent­lich nicht. Ich merke, dass es in meinen Filmen um Ideen geht. Also um bestimmte allge­meine Fragen über das Leben. Und die werden anhand der Geschichte und anhand der Figuren auser­zählt.

artechock: Weil Du gerade Märchen erwähnt hast: Ich fand ja Hotel auch super. Und das ist definitiv für mich wie ein Märchen. Mehr als Lourdes. Und mehr als Lovely Rita. Würdest Du sagen, dass solche Modelle wie Märchen und Fabel für alle Deine Filme gelten?

Hausner:Ich glaube schon. Beim Casting fällt mir immer wieder auf, dass ich bei der Besetzung oft an Märchen denke. Die Qualität, die eine Märchen­figur hat, suche ich auch bei einem Schau­spieler: Dass möglichst einfach und schlicht sich so ein bestimmter Wesenszug oder ein bestimmtes Merkmal in den Vorder­grund setzt, und die Figur so ein Prototyp wird. Naja, Prototyp ist jetzt wieder ein komisches Wort… Aber ja: Also nicht etwas Wieder­sprüch­li­ches. Das Eindeu­tige.

Ein Beispiel: Bei Lourdes war die Cecile, also die Rolle, die die Elena Löwensohn spielt, noch viel mehr als ein Fräulein Rotten­meier geschrieben. Das Schema bei Lourdes war für mich immer „Heidi“. Die Klara, die im Rollstuhl sitzt, Heidi ist die Maria, also die im roten Kleid. Der Peter von der Alm ist dieser Malte­ser­ritter, und das Fräulein Rotten­meier ist die Cecile. [Lacht] Ja, das ist tatsäch­lich lustig, dass man diese Konstruk­tionen verwendet. Weil die sind ja auch gar nicht übel. Das hilft einem ja eben auch, eine Gesell­schaft zu beschreiben. Daher kommt es ja: Was für Rollen stehen zur Verfügung in einer Gesell­schaft.

Das ist mir in Lourdes schon sehr sehr wichtig gewesen, und wird auch immer wichtiger: Das ich über den Einzelnen auch den Kontext beschreiben möchte. Warum hat er diese Rolle? Diese Rolle ist sein Anteil an der Gesell­schaft.

artechock: Gesell­schaft ist ein System – das wird in Lourdes besonders deutlich, weil dieses Lourdes ein in sich geschlos­sener Raum ist. Und der Film zeigt ein System, in dem jede Figur auf die andere bezogen ist, in dem sich Bezie­hungs­netze ziehen durch den Film.
Jetzt sind ja Märchen auch arche­ty­pi­sche Erzäh­lungen, in denen das Allge­meine viel deut­li­cher hervor­tritt, als zum Beispiel im Roman. Viel­leicht kannst Du das beschreiben, worin Lourdes etwas Arche­ty­pi­sches erzählt. Hotel wirkt zwar auch arche­ty­pisch, zugleich ähnelt der Film eher einem Bildungs­roman, in dem eine Figur im Zentrum steht.

Hausner: Genau: Bei Lourdes geht es zunächst einmal um mehrere gleich­be­rech­tigte Figuren. Aber die reprä­sen­tieren – wenn man sich nach Arche­typen fragt – Aspekte, die man auch in einer einzigen Figur finden könnte. Diese Dialoge, die da im Film sind, habe ich ja mit mir selbst geführt. Das war sehr spannend. In dem Sinn sind diese Figuren verschie­dene Aspekte.

artechock: Wie bereitest Du einen solchen Film vor? Es ist klar, dass hier viel Recherche voraus­ging: Der Ort, die theo­lo­gi­schen Aspekte des Wunder­glau­bens. Du hattest ja theo­lo­gi­sche Beratung…

Hausner: Ja, das war wirklich eine Feld­for­schung. Das hat sehr viel Spaß gemacht, und war sehr inter­es­sant, da noch einmal einzu­tau­chen in diese katho­li­sche Welt. Das kenne ich alles bereits aus meiner Kindheit, ich war auch an einer katho­li­schen Schule – wie in Lovely Rita.

artechock: Nochmal zur Recherche: Wusstest Du von Anfang an: Du willst etwas mit Lourdes machen? Oder ist Lourdes hinzu­ge­kommen, weil Du etwas über Katho­li­zismus machen wolltest, und den in bestimmte Rich­tungen ausfor­schen?

Hausner: Am Anfang steht immer eine recht kurze und sehr allge­meine Idee. Bei Lovely Rita war die Logline: Ein Mädchen bringt ihre Eltern um. Und bei Lourdes war es: Ein Wunder geschieht. Dann habe ich Verschie­denstes recher­chiert. Und dabei habe ich über Lourdes gelesen. Daran hat mich inter­es­siert, dass sich hier eben auch der gesell­schaft­liche Kontext zeigt: Das ist ein Ort, den es wirklich gibt, und von dem Leute behaupten, das dort Wunder geschehen.

Da kann man hinfahren, wenn es einem ganz dreckig geht, und keine Hoffnung besteht, und man hat dann trotzdem eine Möglich­keit, geheilt zu werden. Das ist irrsinnig verfüh­re­risch für eine Filme­ma­cherin.

Ich hatte auch überlegt, eine Geschichte zu erzählen, dass irgendwer irgendwo im Wald ein Wunder erlebt. Das ist nicht aufge­gangen. Da habe ich gemerkt: Das wird zu eindi­men­sional.

Während eine Geschichte in Lourdes zu erzählen, hat eben zusätz­lich diese Frage­stel­lung nach den Erwar­tungs­hal­tungen in einer Gesell­schaft, die katho­lisch geprägt ist, mitge­bracht. Deswegen habe ich mich mehr für Lourdes inter­es­siert.

Dann bin ich erstmals hinge­fahren, und war recht erschüt­tert: Weil das einfach auch so tragisch ist: Diese Krank­heiten, die die Leute haben – das war wirklich fürch­ter­lich. Das habe ich auch noch nie gesehen gehabt. Und das riecht nach Medizin und Sterben. Und dann diese riesigen Messen, wo lauter Gelähmte sitzen, und dann gesegnet werden und weinen, und sich auch total dieser Hoffnung hingeben, geheilt zu werden.

Ich fand’s schreck­lich. Und habe zuerst gedacht: Nein, das kann ich nicht machen, das ist sozi­al­por­no­gra­phisch. Quatsch, das will ich nicht. Aber trotzdem hat’s mich auch nicht losge­lassen, und ich habe mich gefragt: Wo ist die Möglich­keit, daraus eine abstrak­tere Geschichte zu machen. Und dann bin ich mitge­fahren mit einer Malteser-Pilger­reise. Das war dann lustig, denn da kam der totale Gegensatz zu diesem sozialen Elend: Nämlich die Damen mit den Perlen­ohr­ringen aus „besseren“ Kreisen, die halt einmal im Jahr nach Lourdes fahren um dort Rolls­tühle zu schieben und damit ihre Schuld abbüßen. Das hat dann für mich Humor in die Vorstel­lung hinein­ge­bracht, so einen Film zu machen. Dadurch habe ich die Diskre­panz gehabt: Man kann das Elend zeigen, aber indem man daneben die zeigt, denen es eh super geht.

artechock: Es ist ja eigent­lich so, dass Du diesen Schau­platz Lourdes – gerade ange­sichts des gerade beschrie­benen Elends – dass Du den ästhe­ti­sierst. Lourdes ist nicht nur ein schöner Film, es sieht auch schön aus: Ich finde die Totalen auf diese Kirche, mit den Prozes­sionen, den Uniformen… Zudem bestimmte Bild­ein­stel­lungen, in denen mit Wieder­ho­lungen und Wieder­erken­nung gear­beitet wird. Manches könnte auch Video­kunst sein, Teil einer Instal­la­tion über Katho­li­zismus… Was war der Sinn dieser Ästhe­ti­sie­rung? Wie arbeitest Du mit der Kamera? Um was geht es auf der Bildebene?

Hausner: Wie gesagt zeichne ich Story­boards. Ich fange an, Zeich­nungen zu machen, oft zunächst mal für eine Szene, und versuche eine Art Stil zu entwi­ckeln. Aber eben nicht dogma­tisch. Bei Lourdes war es das Grup­pen­foto.
Das ist wie eine Anordnung, bei der sich alle gemeinsam eine Ordnung geben, die dann sofort wieder zerfällt. Das fand ich inter­es­sant, den Film so zu erzählen, dass man wirklich die Gruppe erzählt, und dadurch auch die Grup­pen­dy­namik, und dass man den gesell­schaft­li­chen Aspekt somit mitbe­kommt und auch den Gedanken: Der liebe Gott hat eine Auswahl von Menschen, aus der er wieder einen heraus­greift: Er könnte diesen heilen, oder jenen.

artechock: Es geht ja auch um die Dialektik von Ordnung und Zufall. Das Wunder ist der Zufall, der völlig will­kür­lich in die göttliche Ordnung der Dinge einbricht, sie zerstört und so zu wider­legen scheint, aber zugleich bestätigt…

Hausner: Genau. Darum habe ich die Bilder so gebaut, dass das System dieser Menschen betont wird. Daraus hat sich auch ergeben, dass die Einstel­lungen relativ lang sind, und dass die Bewe­gungen der Menschen immer so einer Choreo­gra­phie folgen. Damit man immer das Gefühl hat: Es ist nicht das Indi­vi­duum, das entscheidet, ob es jetzt da raus geht oder sitzen bleibt, sondern es hängt immer damit zusammen, wie sich das Ganze der Gruppe entwi­ckelt. Nur wenn die Schwester oder die Reise­lei­tung sagt: Jetzt gehen alle raus, dann geht man raus. Nicht, wenn einer aufs Häusl muss.

Wenn das skizziert ist, dann kommt der Kame­ra­mann Martin Gschlacht ins Spiel. In unserer Zusam­men­ar­beit ist er immer derjenige, der das, was ich mir so ausdenke, dann auf Realität überprüft. Der mir sagt: Was zeichnest Du da; das geht so nicht; das kann ich perspek­ti­visch nicht lösen. Und dann überlegen wir gemeinsam, wie man es machen könnte. Martin Gschlacht bringt Ideen dazu, das Ganze wird realis­ti­scher, wir gehen an die Drehorte, legen genau fest, wo die Kamera steht, mit welchem Objektiv und wie machen wir das praktisch. Wir machen ja immer unsere Filme zusammen und er ist wirklich einer meiner wich­tigsten Kollegen.

Bei Martin geht es nicht nur um Bilder. Er sagt auch, wenn man manchmal betriebs­blind ist, wenn er findet, dass der Schau­spieler das jetzt nicht richtig rüber­ge­bracht hat. Weil er auch versteht, was eine Geschichte können soll.

artechock: Woran ich oft gedacht habe, ist das erste Bild: Die Totale auf den Spei­se­saal von schräg oben, und dann allmäh­lich zoomt das Bild heran. Diese Einstel­lung wirkt im Zusam­men­hang des Films dann wirklich auch wie ein „gött­li­cher“ Blick. Zugleich sieht man der Choreo­gra­phie des Spei­se­saals zu, und weiß eigent­lich schon in der ersten Einstel­lung, wenn der erste Suppen­topf hinge­stellt wird: Jetzt wird es keinen Schnitt geben, bevor auch der letzte Tisch auch einen Suppen­topf hat. Gibt es bei Dir auch eine Ironie des Blicks, einen Bildwitz?

Hausner: Ja. Darüber habe ich mit meinem fran­zö­si­schen Produ­zenten viel gespro­chen, weil der die Meinung vertritt: Halte Dich nicht mit Sprach­witz auf, Sprache versteht eh nur eine Nation. Was überall funk­tio­niert ist der visuelle Humor. Damit hat er recht, bei den Über­set­zungen ist schon wieder die Hälfte verlo­ren­ge­gangen. Aber gut.

Im Fall von Lourdes war für mich eh recht klar, dass ich gerade weil es um Behin­derte und Elend und Sterben geht, ich eine feine Ironie brauche, um die Geschichte erzählen zu können. Ich finde eine Art Sturheit in der Bild­ge­stal­tung hat ja oft einen feinen Witz: Dann redet halt einer im Off weiter. Das allein erzählt ja mit einer kleinen Dreis­tig­keit: Ja so wichtig war es nun auch wieder alles nicht.

Und bei dieser ersten Einstel­lung ist der Witz ähnlich: Dass etwas, das ja eigent­lich unwichtig ist, nämlich das Aufdecken von Tischen, auser­zählt wird.

artechock: Aber Du machst gleich­zeitig sofort das System klar: Wir verstehen sofort, das da eine Insti­tu­tion ist mit Personal und Insassen, dass es im Film um Rituale und Rhythmen geht, auch um Choreo­gra­phie. Das ist wie ein Ballett…

Hausner: Bei Lourdes hat es mich immer wieder jeden Tag erfreut, dass sich der Witz quasi von selbst ergeben hat: Als wir für die erste Szene die Leute aufge­stellt haben, und fest­ge­legt haben, wer geht als erster rein, dann war da dieser Roll­stuhl­fahrer mit dem elek­tri­schen Rollstuhl der so schnell ist. Der ist immer vorge­prescht. Vom ersten Tag an hat er immer ein bisschen angegeben, um zu zeigen, dass er eben nicht benach­tei­ligt ist. Als er dann plötzlich Gas gegeben hat, war das einfach lustig. Das hat sich so gefügt.

artechock: Du hast in Venedig sowohl den Preis der Kirchen­jury als auch den der athe­is­ti­schen Jury bekommen. Welcher war gerecht­fer­tigter aus Deiner Sicht?

Hausner: Bis zur Premiere war für uns immer die Frage: Wird der Film jetzt als katho­li­scher oder als athe­is­ti­scher wahr­ge­nommen? Ist er genug kirchen­kri­tisch oder zu wenig nicht-katho­lisch? Ich wollte nicht, dass man ihn als katho­lisch wahrnimmt. Ich wollte nur auf dem Parkett dieser katho­li­schen Erzählung meine Geschichte plat­zieren.

artechock: Wenn man nicht katho­lisch ist, dann irri­tieren manche Aspekte zunächst einfach: Ich weiß nicht, was ich mit Wundern anfangen soll, weil ich das von Außen nicht ernst nehmen kann. Ich habe auch erst begreifen müssen, dass die Mädchen in den bunten Uniformen Schwes­tern sind und keine Nonnen. Weil ich mich wunderte, warum sie flirten…

Hausner: Dieser distan­zierte Blick ist inter­es­sant. Ich habe mir immer gedacht: Ich möchte den Film erzählen wie ein japa­ni­scher Forscher, der sich erstmals mit der Materie beschäf­tigt, und auch nicht weiß, ob das Schwes­tern oder Nonnen sind.

Oder: Warum tun die alle den Stein abgrap­schen? Was soll das? Diese Distanz führt eben auch dazu, dass man nicht von vorn­herein ankommt mit einem Set von Erklärungen: Eigent­lich will ich das und dies sagen. Sondern ich wollte es so erzählen, als wüsste ich selber nicht, was mir das Ganze sagen soll. Deswegen wollte ich auch nicht, dass es als katho­li­scher Film empfunden wird.
Diese beiden Preise haben mich wirklich sehr erfreut.

artechock: Ich denke, es ist ein Film, der für jede Religion funk­tio­niert: Man kann es schon Funda­men­ta­lismus nennen: Es geht um den Wahnsinn, der in jedem Glauben liegt.
Es muss auch kein reli­giöser Glaube sein: Wahr­schein­lich könnte man mit der gleichen Haltung auch einen Film über die Börse drehen. Die lässt sich auch schön von oben photo­gra­phieren, kennt Wunder, hat Choreo­gra­phien…

Hausner: Ja, der Glaube spielt da ja auch eine große Rolle. Es ist lustig, dass man auch in welt­li­chen Zusam­men­hängen ähnliches Verhalten findet.

artechock: Musstest Du den Film in Lourdes vorzeigen?

Hausner: Nein, gar nicht. Die Offenheit hat mich ehrlich gesagt selber gewundert. Es gibt da einen Pres­se­be­auf­tragen. Der hat aber eher versucht, mich kennen­zu­lernen. Er hat meine früheren Filme angesehen, und wir hatten ein Gespräch über Kunst. Dass die Filme in Cannes waren, hat er gut gefunden.

Das Thema Wunder fanden sie schön, und die Ambi­va­lenz können sie selbst am besten verstehen. Mit den Fragen den Films: Was sagt uns das Wunder? Wann ist es überhaupt eines? schlagen die sich tagtäg­lich herum.

Für die Kirche war es nur wichtig zu wissen, dass alles in einem ernst­ge­meinten Kontext statt­findet, und nicht lächer­lich gemacht wird. Die haben mich alles machen lassen. Wir durften nur nicht in den Bädern drehen, aber das hat nur damit zu tun, das da umgebaut wird.

artechock: Wenn es in Lourdes nicht geklappt hätte – hättest Du den Film dann trotzdem gedreht: Woanders oder mit gebauten Kulissen?

Hausner: Dann hätte ich es nicht gemacht. Lourdes ist schon ein Synonym für Wunder.

artechock: Hat sich etwas durch den Film verändert an Deiner Haltung Gott und Religion gegenüber?

Hausner: Ja, ich glaube schon ehrlich gesagt. Ich kann es viel­leicht nicht genau an einer Sache… Doch: Ich habe viele kranke Leute kennen­ge­lernt, zum Beispiel in einer Multiple Sklerose Selbst­hil­fe­gruppe. Zuerst war ich ein höflicher Gast, und habe mich nicht getraut, viel zu fragen, denn man hat ja dann seinen Respekt vor Krankheit und sterben-müssen. Aber nach dem zweiten oder dritten Mal, haben die mich dann auch einge­schlossen und mich über meine Inter­essen befragt.

Für mich selbst war das effi­zi­enter, als in eine Gesprächs­the­rapie zu gehen. Das hatte viel mit meinem eigenen Leben zu tun, wie es dieselben Probleme sind, die ich auch habe. Es geht immer darum: Was kann ich tun, um mein Leben auch zu genießen, oder eine Art Sinn darin zu finden oder Erfüllung, oder mich so zu verhalten, dass sich das Ganze gelohnt hat am Ende?

Es hat mich extrem erleich­tert und war für mich eine Gele­gen­heit, meiner eigenen Angst vor dem Sterben ein bisschen ins Gesicht zu schauen. Auch eine schreck­liche Krankheit lebt man dann halt einfach. Und wenn der Tag kommt, an dem Du krepieren musst, dann ist das halt so.

artechock: Es gibt aber auch Leute, die bringen sich um. Weil sie es nicht ertragen wollen. Jeder kennt diese theoretischen Spinnereien: Ja, wenn ich so und so krank wäre, dann würde ich so nicht leben wollen.

Ich habe Selbst­mord – die Tatsache, dass wir das können – immer als einen großen Trost empfunden. Dann muss man es nämlich nicht tun – weil man es kann. Das ist Freiheit. Ich stelle mir vor, dass ich Sachen aushalten kann, weil ich weiß: Ich kann im schlimmsten Fall immer noch diesen Ausweg wählen. Ich muss keine Angst haben. Denn man hat doch mehr Angst vor bestimmten Formen des Lebens und des Schmerzes, als vor dem Tod. Deswegen ist Selbst­mord weniger eine Schwäche oder Eigen­schaft, als vielmehr eine Möglich­keit, die jeder hat, und die den Mensch vom Tier unter­scheidet.

Hausner: Aber weißt Du: Es klingt jetzt viel­leicht total über­heb­lich und blöd, aber man kann auch leben, wenn man nur noch den Kopf bewegen kann. Nicht, dass einer das soll, oder muss, aber dass sich einer dann lieber umbringt, das hängt mehr mit ihm selbst zusammen.
Mein nächstes Projekt handelt von einem Selbst­mord. Für mich ist dieser eher die erschre­cken­dere Vorstel­lung.

Umgekehrt gibt es ja auch eine lustvolle Vorstel­lung davon, gefangen zu sein. Wenn man zum Objekt wird. Das ist nicht nur der reine Horror. Bei vielen Kranken passiert auch eine Infan­ti­li­sie­rung: Man kann beob­achten, dass sie sehr kindlich werden, dass sie mit ihren Pflegern total scheiße umgehen, totale Tyrannen werden.

artechock: Hast Du eine Erklärung dafür, dass es derzeit unter den Autoren­fil­mern einen Boom des Reli­giösen gibt? Man kann Haneke nehmen, Bruno Dumont, von Trier, Park Chan-wook – überall kommt Religion aus den Ritzen. Woher kommt das? Oder ist es nur ein dummer Zufall?

Hausner: Nein, das wird schon irgend­woher kommen – sage ich jetzt mal so blöde, weil es ja für mich selber schwierig ist, dass heraus­zu­kriegen. Es ist mir auch schon aufge­fallen.

Seit ich mich mit Filme­ma­chen beschäf­tige, habe ich gemerkt: Es funk­tio­niert nicht mehr, diese klas­si­schen Geschichten zu erzählen. Zumindest ist es nicht mehr spannend. Ich habe ja immer die Filme von Haneke inter­es­sant gefunden, weil die eben keine richtigen Geschichten erzählen, weil sie die Erwar­tungen vor den Kopf stoßen.

Es muss damit zusam­men­hängen, dass in unserer Gesell­schaft die herkömm­li­chen tradi­tio­nellen Gefüge und damit auch die impli­ziten Antworten auf bestimmte Lebens­fragen so nicht mehr funk­tio­nieren. Sondern: Jeder kann Recht haben oder nicht Recht haben. Jeder zimmert sich sein eigenes Leben zusammen.

Bezie­hungs­muster funk­tio­nieren nicht mehr, jeder muss sich das selber zurecht­schneiden und bastelt sich sein Ding zusammen. Das ist toll, denn man hat viele Möglich­keiten, aber es ist auch furchtbar verun­si­chernd und anstren­gend, wenn alles gilt oder nichts. Und viel­leicht ist die Rückkehr zur Religion auch diese Suche danach, nach Sicher­heiten…

artechock: Dann wäre dies das Symptom einer schei­ternden Freiheit, dass eigent­lich die Verspre­chen der Aufklärung und des Abschieds von Religion, die ja Frei­heits­ver­spre­chen sind, nicht funk­tio­nieren?

Hausner: Ja, aber Du hast ja selber gesagt, das sind keine Filme, die sagen: Religion ist super. Es ist eher ein nochmal zurück schauen, und sich fragen: Was heißt Religion für uns? Wo gehen wir danach hin? Es heißt es ja nicht, dass ich jetzt katho­lisch werde. Sondern es ist nur, um viel­leicht nochmal zurück zu schauen, um dann besser in die Zukunft schauen zu können. Es hat viel­leicht auch damit zu tun, Abschied zu nehmen von diesem sicheren Hafen. Sondern dass man es dann gut, besser leben kann, diese komische Verwir­rung.