Österreich/F/D 2009 · 99 min. · FSK: ab 0 Regie: Jessica Hausner Drehbuch: Jessica Hausner Kamera: Martin Gschlacht Darsteller: Sylvie Testud, Léa Seydoux, Gilette Barbier, Gerhard Liebmann, Bruno Todeschini u.a. |
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Elina Löwensohn, die heimliche Hauptdarstellerin |
Dies ist unter anderem ein Film über Katholizismus. Man kann ihn derzeit nicht sehen, ohne an die aktuell bekannt gewordenen Missbrauchsfälle zu denken. Nach ihren mehrfach preisgekrönten Filmen Lovely Rita und Hotel gilt die Österreichern Jessica Hausner als eine der begabtesten europäischen Regisseurinnen. In Lourdes zeigt sie nicht nur das System des Wallfahrtsortes, ihr Film handelt von der Dialektik von Ordnung und Zufall. Als eine Pilgerin geheilt wird, wirkt dieses Wunder wie ein Zufall, der völlig willkürlich in die – göttliche (?) – Ordnung der Dinge einbricht, und so doch zugleich bestätigt.
Lourdes ist eine Versuchsanordnung, deren forschender Blick Verhalten bloßstellt. Voller Verwunderung über einen Ort an den jährlich hunderttausende Kranke pilgern. Darüber dass allein 7000 von ihnen später beantragten als Wunderheilung anerkannt zu werden. 68 gelang es. Voller Verwunderung darüber, was das überhaupt sein soll, ein Wunder. »Unvermittelt« und »unerklärlich« wie es heißt. Folgerichtig bekam der Film beim Festival in Venedig sowohl den Preis der Kirchenjury als auch den der atheistischen Jury.
Das erste Bild, während noch die Filmtitel laufen: Die Kamera filmt von links oben aus quasi gottgleicher Perspektive in einen großen Speisesaal. Er ist menschenleer, man sieht lauter Esstische. Dann eine Nonne, die am ersten Tisch die Suppenschüssel füllt. Man weiß bereits in diesen ersten Sekunden: Es wird jetzt keinen Schnitt geben, bis auch am letzten Tisch die Schüssel gefüllt sein wird, bis alle Kranken und die sie betreuenden Schwestern ihre Plätze eingenommen haben – ein seltsamer Tanz, eine vergessene Choreographie unserer Wirklichkeit.
Lourdes, der neue Film der Österreicherin Jessica Hausner, ein schöner Film. Seine Schönheit ist allerdings von der Art, die man nicht ganz ohne Grund dann auch streng nennt. Mit Lovely Rita (2001) und Hotel (2006) hat Hausner, die in ihrer künstlerischen Herkunft und ihrem Stil wie die meisten jungen Österreicher deutlich von Michael Haneke beeinflusst wurde, bereits zwei mehrfach preisgekrönte, Filme gedreht, die auch im deutschen Kino gezeigt wurden. Dieser Schauplatz Lourdes – gerade angesichts des Elends – wird im Film ästhetisiert. Lourdes ist nicht nur ein schöner Film, es sieht auch schön aus: Totalen auf die Kirche, Prozessionen, Uniformen... Zudem bestimmte Bildeinstellungen, in denen mit Wiederholungen und Wiedererkennung gearbeitet wird. Manches könnte auch Videokunst sein, Teil einer Installation über Katholizismus... Sofort wird ein System installiert: Wir verstehen, das da eine Institution ist mit Personal und Insassen, dass es im Film um Rituale und Rhythmen geht, auch um Choreographie. Wie ein Ballett...
Zugleich kann man den ganzen Film über lächelnd, schmunzelnd, ja kichernd verbringen. Denn Lourdes ist zwar eine nüchterne, mitunter nahezu dokumentarische Beobachtung. Es ist aber auch ein zwar fairer, aber doch ganz und gar ironischer Film über Religion.
Der Film erzählt von einer Pilgergruppe in Lourdes. Unter den Pilgern sind Kranke wie Gesunde. Die Kranken leiden an sehr verschiedenen Krankheiten, und werden, soweit nötig, von katholischen Schwestern des Malteserordens betreut. Sie hoffen auf spirituelle Stärkung, aber auch auf körperliche Heilung. Eine von ihnen ist Christine (Silvie Testud). Durch eine unheilbare Krankheit ist sie seit Jahren vom Halswirbel abseits gelähmt an den Rollstuhl gefesselt. Der Film entdeckt Lourdes und die Menschen dort, mit ihren Augen, begleitet sie auch bei ihren zaghaften sozialen Kontaktaufnahmen. Sie gelten zum Beispiel Maria, der Schwester, die Christine betreut. Maria ist jung, hübsch, lebensfroh. Christine beneidet sie. Maria wiederum bevorzugt die Gesellschaft von Gleichaltrigen. Sie flirtet mit einem Malteserritter und sie vermeidet die Gegenwart der Krankheit und des Leidens um sie herum.
Auf seltsame Weise verbessert sich Christines Gesundheitszustand. Es ist wie ein Wunder: Nach einiger Zeit ist sie kuriert, und kann wieder gehen. Das Unerhörte sieht hier aus wie das Alltägliche, und zwar aus einem einfachen Grund: Für die Religion und ihre Gläubigen ist es genau das. Christines Heilung führt in der Gruppe zu Bewunderung, zur Festigung des Glaubens. Aber auch zu Eifersucht und Zweifeln. Christines Krankheit bleibt in Bewegung: Die Symptome gehen und kommen wieder.
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Lourdes ist ein grausames Märchen. Dieses Märchenhafte muss man betonen, denn naturalistisch gibt sich der Film von keiner Seite aus, von der man ihn betrachten kann. Aus der einen Perspektive zeigt »Lourdes« Vertrauen in den wohltätigen und ewigen Gott des katholischen Christentums. Auf der anderen Seite zeigt der Film eine Wirklichkeit, in der Willkür und Zufall herrschen. Denn Gott ist der Zufallsgenerator der Religion. Die Wege des Herrn sind unerforschlich. Der liebe Gott hat eine Auswahl von Menschen, aus der er einen herausgreift: Er könnte diesen heilen, oder jenen. Lourdes ist damit Traum und Alptraum zugleich. Eine grausame Geschichte über Ungerechtigkeit (des Wunders), über nicht gehaltene Versprechungen (auf Heilung, auf Erlösung), über die Hoffnung auf Glück (schon) im Diesseits, nicht (erst) im Jenseits. Es ist letzten Endes die Hoffnung auf Glück; es ist die Hoffnung auf ein erfülltes, komplettes und fröhliches Leben, das eine Bedeutung hat, einen Sinn. Christine hofft darauf, nach einer Heilung ihre Studien wieder aufnehmen zu können, eine Familie zu haben, Klavier zu spielen.
Christine will das sein, was heute viele nicht gerne wollen: Wie die anderen. In diesem Zusammenhang ist der Kontrast zu den sie pflegenden Malteser-Schwestern besonders aufschlussreich, das unausgesprochene, wohl auch mitunter uneingestandene Paradox, dass die Schwestern auf alles das freiwillig verzichten, was die von ihnen betreuten Kranken so inständig ersehnen.
Wunder bedeuten reine Willkür, das Ende von Sinn und Vernunft. Sie sind grundsätzlich ungerecht. Aber sie können zur Quelle von Glück werden – wie der Lottogewinn. Der Zufall möglicherweise. Die Menschen können diesen Zufall, können die Willkür, die in ihm liegt, nicht ertragen. Sie suchen nach Sinn im Zufall, nach Bedeutung. Sie haben offenbar Probleme damit, den Zufall als solchen zu akzeptieren. Wer viel mit dem Zufall zu tun hat, weiß, dass man ihn planen kann, fängt an, an ihm zu zweifeln.
Zufall wird als Belohnung gesehen, als etwas, das man sich verdient. Durch Gebete oder gutes Benehmen. Man will sich des Zufalls wert erweisen, Gott (als dem Zufallsgenerator der Religion) die Gründe für seine grundlose Entscheidung nachliefern. Das ist auch Christines Wunsch. Und es erinnert an Holocaust-Überlebende, die den Zufall nicht als solchen akzeptieren können.
Lourdes ist auch die Bühne einer menschlichen Komödie. Einer Komödie, in deren Natur es liegt, zugleich Farce und Tragödie zu sein. Man kann diesen Film zur Zeit nicht sehen, ohne an die Missbrauchsfälle im Kontext der katholischen Institutionen zu denken. Das zieht den letzten Rest an Verklärung und Demut, die man empfinden möchte, noch aus diesen Bildern.
Religion und ihre Kirche nähren sich durch das Versprechen auf Erlösung. Und sie nähern sich gut. Sie tun das, in dem sie das Erlösungsversprechen vertagen auf das Ende aller Tage. Das Streben nach Erlösung ist komplementär zu dem nach Heilung: Es ist die Hoffnung auf ein innerweltliches Ereignis, nicht auf etwas, das im Jenseits erst sich ereignet. Gesellschaft ist ein System – das wird in Lourdes besonders deutlich, weil dieses Lourdes ein in sich geschlossener Raum ist.
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Lourdes ist damit schließlich auch eine Parabel. Hausner erzählt nicht nur von Individuen, sondern von Prototypen des sozialen Systems Religion. Sie zeigt den Ort Lourdes als furchtbaren Supermarkt der Religion, sie zeigt die Ausbeutung der Gläubigen. Gerade die Kranken unter ihnen wirken wie Süchtige. Wenn das so ist, dann ist die Kirche ein Drogendealer, und Lourdes eine Opiumhölle. In einer riesigen Maschine ereignet sich die Mechanik des Wunders als ein Tanz – aber von kleinen Automaten. Gerade dadurch wird, wie im Marionettentheater die Gesamt-Atmosphäre plötzlich märchenhaft. Reine Poesie.
Lourdes ist weder distanziert, noch teilnahmslos. Lourdes hat keine Psychologie, aber viel Subtext. Es geht um die Absurdität der Religion. In diesem Sinne ist der Film der bekennenden Agnostikerin auch parteiisch, tritt er auch gegen Religion ein. Er verabschiedet sich ruhigen Auges.