»Sartre ist tot. Ok?« |
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Simon Srebnik in Claude Lanzmanns Film Shoah | ||
(Foto: Claude Lanzmann) |
Claude Lanzmann wurde im November 1925 in Paris geboren. In seinen Memoiren »Der patagonische Hase« berichtete er vor wenigen Jahren, wie er in sehr jungen Jahren Résistance-Kämpfer wurde. Später war Lanzmann, der unter anderem mit Simone de Beauvoir zusammenlebte, und zwölf Jahre mit der Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff verheiratet war, Journalist, Schriftsteller und Filmemacher: Für sein Lebenswerk Dokumentarfilme Pourquoi Israel (1973), Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures (2001) und Le rapport Karski (2010) sowie den Meilenstein Shoah (1986) wurde er jetzt auf der Berlinale geehrt.
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.
artechock: Sie sind ziemlich unmittelbar nach dem Krieg, 1946 bereits nach Deutschland gekommen: Als Student. Das ist ziemlich ungewöhnlich, für einen Résistance-Kämpfer. Wie kam es dazu? Wie ist es Ihnen da ergangen?
Claude Lanzmann: Das ist vermutlich meine dunkle Seite, meine heimliche Sehnsucht, mich mit dem zu konfrontieren, was ich nicht kenne und ein bisschen fürchte. Ich hatte gegen die Deutschen im Krieg gekämpft, habe in der Résistance Deutsche getötet, aber ich bewunderte die großen deutschen Philosophen. Kant und Hegel besonders. Ich habe Leibniz studiert, und wollte über ihn eine Arbeit schreiben. Darum ging ich zunächst nach Tübingen, wo
ich ein Jahr gelebt habe. Michel Tournier, und Gilles Deleuze, die dort auch studierten, waren damals meine Freunde. Etwas später bin ich dann nach Berlin gekommen. Ich war während der Berliner Blockade Lektor an der Freien Universität Berlin. Dort ging ich sehr bald auf den alten Dorotheenstädtischen Friedhof. Der lag direkt neben dem Haus, in dem Bertolt Brecht wohnte und dort befinden sich die Gräber von Fichte und Hegel, direkt nebeneinander und von Hegels Frau, nicht zu vergessen.
Brecht konnte immer von seinem Arbeitszimmer darauf gucken. Das alles hat mir sehr gefallen – ein wunderschöner Friedhof, und eine phantastische Erfahrung, die ich nie vergesse.
Aber auch mit den lebenden Deutschen habe ich mich verstanden. Es war das beste Jahr meines Lebens.
artechock: Haben Sie sich damals auch mit zeitgenössischer deutscher Philosophie beschäftigt?
Lanzmann: Ja, mit den Existentialisten. Ich hatte in Paris bereits Sartre gelesen. Nicht unbedingt verstanden, aber gelesen. Von Heidegger wollte ich nichts wissen. Heidegger war ein Nazi, seine Philosophie ist imprägniert von Blut und Boden, aber ich bin einmal von Tübingen aus nach Heidelberg gefahren um Karl Jaspers persönlich zu hören. Seine Vorträge über »Die Schuldfrage« haben mich fasziniert. Jaspers hat klargemacht, dass es natürlich eine deutsche Kollektivschuld während des Krieges gegeben hat. Das waren nicht ein paar Gangster, die die unschuldige deutsche Nation überwältigt und in Geiselhaft genommen hatten. Was geschehen ist, hätte nicht geschehen können, ohne einen gewissen allgemeinen Konsens. Der Krieg und die Morde in den Lagern brauchten große Bürokratie. den Verwaltungsapparat eines modernen Staats. Natürlich gilt diese Kollektivschuld-These nicht für diejenigen Deutschen, die während oder nach dem Krieg geboren wurden. Eine Verantwortung haben allerdings auch sie. Damit müssen sie zurechtkommen, auch wenn es schwierig ist – man muss den Dingen ins Auge sehen.
Der Nachkriegsgeneration war das auch klar: Ich hielt Vorlesungen über Sartre und französische Literatur. Meine Kurse waren sehr beliebt. Viele der männlichen Studenten waren älter als ich, um die Dreißig, und gerade zurück aus der Gefangenschaft. Eines Tages kam eine Handvoll Studenten an und fragte mich, ob ich eine Vorlesung über Antisemitismus halten könnte. ich hatte damals schon Sartres seinen großartigen Text »Über die Judenfrage« gelesen. Seine Überlegungen waren zentral, weil er eine Sprache für das Unaussprechliche fand, weil er den Typus des Antisemiten sehr präzise beschrieben hat. Wir haben dann drei Wochen über Antisemitismus gearbeitet. Dem französischen Militärkommandanten gefiel das allerdings gar nicht, und er drohte mir, ich müsse das nächste Flugzeug von Tempelhof nehmen, wenn ich nicht sofort Schluss mache. Das galt als Politik, und Politik war in Berlin verboten. Mich hat das so geärgert, dass ich nach der Rückkehr nach Paris über die Reeducation schreiben wollte.
artechock: Was war das Bild von Deutschland, dass Sie damals hatten?
Lanzmann: Ich muss Ihnen eins sagen: 1948 war ich 23 Jahre alt, sehr jung. Das Ausmaß der Shoah hatte ich noch nicht begriffen. Das ist mir erst sehr viel später klar geworden. Das erste Konzentrationslager, das ich persönlich gesehen habe, war das von Schwenningen, im Schwarzwald, südlich von Stuttgart. Das war kein Vernichtungslager. Aber die Erfahrung war sehr hart, die Spuren waren noch ganz frisch.
artechock: Wie haben die Überlebenden damals über ihre Erlebnisse gesprochen? Haben Sie das überhaupt?
Lanzmann: Ich habe damals fast gar keine Überlebenden gekannt. Ich kannte einen Freund meiner Mutter, aber der hat nicht geredet. Sie müssen eines verstehen: Der Krieg war endlich zuende gewesen, die unmittelbare Befreiung vorüber, und die Leute wollten nicht darüber reden, was Ihnen passiert war. Es hat dafür die Zeit gefehlt. Und das waren Erlebnisse, die hat man beweint, aber man hat nicht geredet. Der Sinn für die Dimension der Verbrechen entstand erst mit dem Vergehen der Zeit. Vergessen sie nicht, dass die Deutschen geschlagen waren, Berlin war eine einzige Ruine.
artechock: Haben Sie die Nürnberger Prozesse als eine Art Genugtuung erlebt?
Lanzmann: Ich hab den Prozess nicht sehr genau verfolgt. Ich lebte überhaupt nicht sehr synchron mit den großen historischen Ereignissen. Etwa die Staatsgründung von Israel 1948, die mir sehr viel bedeutete – da war ich in Berlin. Ich kam immer etwas zu spät.
artechock: Auf der Berlinale werden Sie für Ihr Lebenswerk als Dokumentarfilmer geehrt. Im Zentrum von allem steht natürlich Shoah.
Lanzmann: Offen gesagt: Ich sehe mich überhaupt nicht als Dokumentarfilmer. Shoah weicht den üblichen Kategorien – fiktional oder dokumentarisch – aus. Die sind zu platt und beschreibend. Verzeihen Sie mir die Eitelkeit, aber ich möchte einen Freund von mir zitieren, der gesagt hat: Das Kino ist die siebte Kunst, Shoah ist die achte Kunst. Ich habe keine bereits existierende Realität abgefilmt, sondern ich habe das überhaupt erst komplett hergestellt, was man auf der Leinwand sieht. Vorher gab es nichts.
Shoah ist ein Film, der Versuch, der Vernichtung der sechs Millionen Juden und der Vertilgung der Erinnerung Widerstand zu leisten. Ihnen ihre Erinnerung zurückzuerstatten. Denn diese Vernichtung war erfolgreich. Die Nazis haben nicht allein Menschen zerstört, sie haben ihr Zerstörungswerk selbst noch vernichtet – das ist es, was der Ausdruck »Ver-Nicht-Ungs-Lager« eigentlich bedeutet. Wir müssen uns diese wesentliche, ganz grundlegende Differenz zwischen Vernichtungslagern und Konzentrationslagern in Erinnerung rufen: Die Zustände in den Konzentrationslagern waren unglaublich hart. Und viele Leute starben. Aber es gab die Möglichkeit zu überleben. In den Vernichtungslagern stellte sich diese Möglichkeit gar nicht. Das waren Lager, dazu ausersehen waren, den unmittelbaren Tod zu verwalten. Die Passagiere der ankommenden Züge wurden zu großen Teilen normalerweise während der ersten zwei, drei Stunden nach ihrer Ankunft getötet.
Vernichtungslager findet man auf dem Staatsgebiet Polens. Das waren Lager, die eine sehr präzise Funktion hatten. Sie sollten massenhaft töten, aber sie waren nicht dazu bestimmt, dauerhaft zu bleiben. Konzentrationslager dagegen lagen auf deutschem Gebiet und sie waren ein Dauerzustand. Jeder Deutsche kannte sie: Buchenwald, Dachau.
artechock: Die allermeisten Überlebenden, die bis heute berichtet haben, stammen also aus Konzentrationslagern, nicht aus Vernichtungslagern...
Lanzmann: Genau. Das ist die radikale Differenz. Es gab keine Leichen, keine Spuren! Diese anderen Filme wie Nacht und Nebel von Alain Resnais, die immer Leichen zeigen – das sind immer dieselben Bilder: Man sieht Bulldozer, die Kadaver in Gräben schütten. Aber das sind Leichen, die aus Konzentrationslagern stammen. Man hat sie entdeckt, als die Amerikaner die Konzentrationslager in Deutschland befreit hatten. Viele von ihnen starben durch eine große Typhusepidemie am Ende des Krieges.
artechock: Was war Ihre Intention, als Sie begannen an Shoah zu arbeiten?
Lanzmann: Ich wollte kein Buch machen, ich wollte einen Film machen. Es gibt genug sehr gute Bücher, das Meisterwerk von Raul Hilberg zum Beispiel, und manches mehr. Aber nein! Ich hatte auch nie beanspruchen wollen, irgendetwas Neues zu den Erkenntnissen der Historiker beizutragen. Ich wollte etwas ganz und gar Anderes: Ich wollte zeigen. Ich wollte das humane Gesicht des Inhumanen zeigen, wollte Emotionen zeigen, die Tränen, die Lügen, et cetera. Das, was ich von ganzem Herzen zu machen wünschte, war eine Vergegenwärtigung, eine Verkörperlichung (»Incarnation«) der Geschehnisse. Eine Vergegenwärtigung, die durch die Protagonisten selbst geschieht. Man muss es sehen, und man sieht es.
artechock: Was waren das für Menschen, denen Sie bei Ihrer Recherche begegneten? Wie würden Sie die beschreiben?
Lanzmann: Es sind Menschen, die ich selbst als Heilige ansehe, als Helden und als Märtyrer. Shoah ist kein Film über das Überleben. Es ist ein Film über den Tod. Über die Radikalität des Todes in den Lagern mit den Gaskammern. Das ist das zentrale und einzige Thema von Shoah. Die Menschen in dem Film kann man keine »Überlebenden« nennen. Ich nenne sie »Gespenster«. Sie waren das Einzige, was mir wichtig war und mich wirklich interessierte. Es sind Menschen, die in den Vernichtungslagern in den Sonderkommandos von den Deutschen zur Beseitigung der Spuren eingesetzt waren. Das bedeutet: Diese Menschen waren an der letzten Etappe des Zerstörungsprozesses und der Ermordung angekommen, und darum wurden sie zu direkten Zeugen des Todes ihres Volkes – zusammen mit den Mördern selbstverständlich. Das waren Menschen, die mit den schauerlichsten Erfahrungen konfrontiert waren, die man sich vorstellen kann. Es war ein Wunder, dass sie entkommen waren. Entkommen war nicht vorgesehen. Keiner, der Zeuge der Verbrechen geworden war, durfte jemals entkommen.
Sie aber entkamen. Außerordentlicher Mut, verband sich in ihren Fällen mit außerordentlichem Glück. Die Protagonisten erzählen deshalb in Shoah auch nie, wie sie davonkamen, wie es ihnen gelang, beispielsweise aus Sobibor oder Treblinka zu fliehen. Sie sagen nie »Ich«, sie sagen immer »Wir«. Denn sie sind Sprecher der Toten. Das spüren sie instinktiv. Es gibt auch keine Anekdoten in Shoah. Shoah ist eine Form für sich. Eine eigene Gestalt. [er verwendet das deutsche Wort]. Das ist nicht Schindlers Liste.
artechock: Wie haben Sie Ihren Titel gefunden?
Lanzmann: Ich habe nach einem Titel gesucht. Am liebsten wäre mir ein Film ohne einen Titel gewesen, aber das geht nicht, schon aus pragmatischen Gründen. Am Ende war es Zufall. Aber ein schöner. Ich kann nicht hebräisch, deshalb ist mir das Rätsel, das Geheimnis, das dieses Wort transportiert, sehr lieb. Stattdessen ist »Holocaust« ein idiotischer Ausdruck, »Holocaust«, das klingt wie Achterbahn, wie »roller coaster« auf Englisch. Und vollkommen absurd und obszön – denn er ist religiös. Aber welcher Gott sollte so etwas zulassen?
artechock: Das 20. Jahrhundert erscheint im Rückblick als ein Jahrhundert der Desillusionierung, des Verschwindens der Utopien. Was kann man machen um Ihre Erfahrungen und die Ihrer Generation zu bewahren?
Lanzmann: Ich glaube, das kann man nicht. Wir leben in einer anderen Welt als die Menschen der Nachkriegszeit. Die Utopien sind tot, auch die schönen.
artechock: Für immer?
Lanzmann: Ich glaube schon.
artechock: Aber in der Geschichte wechseln sich doch immer Zeiten des Skeptizismus mit denen des Utopismus ab?
Lanzmann: Vielleicht... Es gibt diesen amerikanischen Philosophen Fukuyama – heute machen sich alle lustig über ihn, weil er das »Ende der Geschichte« propagiert hat. Aber ich glaube, er hat einige sehr kluge Sachen gesagt. Über die Entwicklung der Welt und den Konsumismus.
artechock: Können Intellektuelle etwas bewirken? Müssen Sie Vorbild sein, sich öffentlich äußern, wie Ihr Freund Jean-Paul Sartre?
Lanzmann: Sartre ist tot. Ok? Sartre war für meine Generation, aber auch für mich selbst unglaublich wichtig.Er ist ein großer Denker, der heute leider unterschätzt wird. Über sein philosophisches Werk will ich gar nicht behaupten, dass ich alles verstanden hätte. Aber Sartre fand die richtigen Worte nach dem Krieg. Er stellt die Frage nach der Moral, und nach der Freiheit. wer ihn gelesen und verstanden hat, wird die Freiheit nie vergessen, nie verraten.
Es ist kein Zufall, dass die jungen Romane heute nicht allzu viel zu sagen haben über die Liebe und den Menschen. Heute gibt es viel Nachlässigkeit [désinvolture], ein großes Fehlen von Respekt. Das Verlangen nach Utopien ist die Essenz des Menschen, aber sinnvoll zu leben, ist schwierig.